Mindestens drei Botschaften finden sich in meinem ersten Beitrag zum Thema Agilität in Führung und Zusammenarbeit in der April-Ausgabe der «Schweizer Versicherung»:
1. Komplizierte, hierarchische Formen des Organisierens von Arbeit mit oftmals nur schwer nachvollziehbaren Matrixstrukturen behindern agiles Arbeiten und Entscheiden.
2. Agilität zeigt sich in der Beweglichkeit eines Führungssystems, das es möglich macht, dass Menschen Entscheidungen zeitnah herbeiführen können, um im Sinne des Unternehmens auf wechselnde Anforderungen am Markt situativ angemessen reagieren zu können.
3. Zukünftige Führungssysteme müssen sowohl Anforderungen an Beweglichkeit als auch Stabilitätserwartungen bedienen, um einerseits Systemvertrauen und andererseits die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme bei jeder und jedem einzelnen Mitarbeitenden zu erzeugen.
Im Folgenden werde ich einen Drei-Schritt vollziehen – Kooperation, Selbstorganisation, Vernetzung –, um in diesen Hinsichten die arbeits- und organisationspsychologischen Zutaten agiler Führungssysteme zu benennen.
Ohne Follower keine Führung
Wenn wir über Führung sprechen, sollten wir zu Kooperationen nicht schweigen. Es gehört zu den wohl beharrlichsten Missverständnissen der Praxis, Führung auf das Führungsverhalten von Führungspersonen zu reduzieren. Suchen Sie bitte einmal Führung ohne Geführte! Ohne Follower keine Führung. Führung ist somit immer und zutiefst eine Form der Interaktion. Genauer: eine bestimmte Form der Kooperation. Und da diese Führungskooperation in der Regel durch eine machtbezogene Asymmetrie gekennzeichnet ist, braucht es gemeinsame Ziele, ein gemeinsames Verständnis über die Arbeitsteilung sowie eine gute Kommunikation, damit Aufgaben angemessen erledigt werden können. Kooperation braucht es gar in immer stärker zunehmendem Masse, da Führungskräfte in einer digitalisierten Wissensgesellschaft vollkommen überfordert wären, selbst all das Know-how zu halten, das es für gute Entscheidungen braucht.
Allerdings ist der «Great Man Mythos» der Führung – d.h. der implizite Glauben an die omnipotente Führungskraft, die letztendlich für alles verantwortlich ist – nur schwer auszurotten. Strukturell wird dieser Glaube durch die Arbeitsteilung in hierarchischen Systemen; psychologisch erklärt sich das Phänomen mit einer ungünstigen Kollusion, also einem unbewusst abgestimmten Verhalten zwischen Führungskraft und Follower: Führungskräfte können sich durch Stellung und Status legitimieren (was für den Selbstwert enorm hilfreich sein kann), während Follower im gleichen Moment einen sinkenden Druck auf ihren Anteil an der Verantwortung erleben (was entlastend sein kann): Am Ende des Tages trägt ja dann doch die Führungskraft die Bürde. Doch wer ein derartiges Game mit der Frage der Verantwortungsübernahme in Unternehmen spielt – und das ist eher die Regel –, der geht führungstechnisch enorme Risiken ein: Am Ende will es dann eben doch keiner gewesen sein. Das nennen wir Psychologen pluralistische Ignoranz; im Alltag reden wir von Verantwortungsdiffusion. Die grossen Industrieskandale, die zumeist aus offensichtlich fehlender Compliance mit einfachsten Grundsätzen von Good Management Practices resultieren, haben genau hier eine ihrer psychologischen Quellen: Kooperationen scheitern.
Kein Einzelsport
Werfen wir einen kurzen Blick auf die Personalentwicklungslandschaft zum Thema Führung, so scheint hier die Sonne allzu oft auf nichts Neues: Führung wird als Einzelsport vermittelt. Davon zeugen nicht zuletzt die Kuriositäten aus dem Outdoor-Kabinett: Das mutige Sich-Fallenlassen im Bungee-Seil, das Herumkriechen in staubigen Tunneln mit verbundenen Augen, das Anschreien von Wänden oder dem eigenen Spiegelbild etc. Welche Albernheiten Führungskräften im Rahmen von «Führungsentwicklungen» auch immer zugemutet werden: Es sollte offenbar immer auch Entertainment sein. Nur leider ist es so, dass groteske Erlebnisse allein keine unternehmerischen Ergebnisse zeitigen. Während das Denken in Effizienzkategorien im Alltag unserer Unternehmen sinnvollerweise sehr präsent ist, scheint es im Kontext der Führungsentwicklung möglich zu sein, Massnahmen zu finanzieren, für deren Wirkung tatsächlich jegliche Evidenz fehlt.
Was es demgegenüber braucht, ist eine grundsätzliche Distanzierung von der Sicht auf Führung als Einbahnstrasse und eine bewusste Zuwendung zu dem Prinzip, dass Führung im Kern eine kooperative Konstellation darstellt. Nur so gelingt es, für alle beteiligten Akteure einen Rahmen zu schaffen, der eine hundertprozentige Übernahme von Verantwortung fordert (für die jeweilige Rolle). Ohne diese grundsätzliche Einsicht – sowie das Ziehen entsprechender Konsequenzen – können wir die Entwicklung und Gestaltung agiler Führungssysteme in einer digitalisierten Welt gleich wieder einmotten.
Rekursive Spielregeln
Kommen wir zur Selbstorganisation, deren Organisation nur vermeintlich ein Paradoxon darstellt. Das Selbst in der Selbst-Organisation meint nicht Einzelne, sondern das wiederum kooperative Gefüge von Personen, Teams und Gruppen, zwischen denen auf Basis möglichst einfacher Spielregeln Ordnung entsteht. Eine Ordnung allerdings, die sich an situativen Gegebenheiten orientiert und nicht an planerischen Vorwegnahmen zentraler Dirigenten, die in einer digitalen Welt zunehmend «daneben» liegen werden.
Ordnung aus Selbstorganisation entsteht durch Spielregeln, die zum einen einfach sind und zum anderen – und das ist das Entscheidende – rekursiv (selbstbezüglich) angewendet werden. Rekursiv meint, dass die Regeln auf den Outcome, den sie erzeugen, wiederum angewendet werden. Die Anwendung dieser rekursiven Prinzipien macht uns Menschen nach Heinz von Foerster zu nicht-trivialen Maschinen und damit letztendlich zu unverwechselbaren Individuen. Und die Anwendung rekursiver Prinzipien auf Organisationen macht diese ebenfalls unverwechselbar.
Die arbeitspsychologische Systemgestaltung kennt für die Bewertung von (mehr oder weniger) selbstorganisierten Arbeitssystemen eine ganze Reihe handfester Kriterien, von denen drei für unser hier diskutiertes Thema von zentraler Bedeutung sind:
1. Zunächst einmal sollte eine Einheit von Produkt und Organisation bestehen, d.h. jede Organisationseinheit sollte sich durch ein klar zuzuordnendes Produkt kennzeichnen.
2. Hinzu kommt, dass es innerhalb von Organisationseinheiten klare Aufgabenzusammenhänge gibt, um die herum die Beteiligten ihren jeweiligen Beitrag erkennen können.
3. Während Aufgabenzusammenhänge innerhalb einer Organisationseinheit stark sein sollten, sollte zwischen Organisationseinheiten eine möglichst starke Unabhängigkeit geschaffen werden, um wechselseitig erzeugte Störungen und Schwankungen möglichst gering zu halten.
Wendet man diese Regeln der arbeitspsychologischen Systemgestaltung konsequent an, so entstehen überschaubare, voneinander maximal unabhängige Organisationseinheiten mit nur loser struktureller Koppelung. Und die Beweglichkeit des Führungssystems eines Unternehmens kann so maximiert werden.
Kooperationsmuster verstehen
Nun kennt die Welt natürlich tendenziell mehr Trade-offs als Win-win-Situationen. Wo ist also der Haken? Dieser liegt in der Aufgabe, die Balance zwischen internem Aufgabenzusammenhang und externer Koppelung der Arbeitssysteme durch vernetzte, nicht nach hierarchischen Prinzipien gestaltete Führung immer wieder neu zu justieren. Darin besteht der Preis für die gewonnene Beweglichkeit. In der Forschung und in der Beratung arbeiten wir mit organisationalen Netzwerkanalysen, um diese führungsbezogenen Kooperationsmuster in Unternehmen zu verstehen und – auf den Analysen basierend – entsprechend weiterzuentwickeln. Die quantitativen Resultate sowie die qualitativen Visualisierungen (siehe Grafik) sind starke Werkzeuge, um die Vernetzung innerhalb und zwischen agilen Organisationseinheiten – im Beispiel farblich voneinander abgehoben – zu messen. So kann über die Zeit hinweg ein entsprechendes Monitoring etabliert werden, das die Netzwerkgestaltung orientiert.
Denn Netzwerke sind – einem verbreiteten Vorurteil widersprechend – keineswegs nur produktiv. Es gibt für Unternehmen sogar explizit dysfunktionale Muster, die Netzwerke ausbilden können. Mit dem Begriff der Insularität eines Netzwerks wird eines der ungünstigen Muster bezeichnet. In diesem Fall sieht die Bilanz zwischen interner und externer Vernetzung schlecht aus: Einer starken internen Vernetzung – die ein Inside-Out-Denken produziert – steht eine schlechte Vernetzung mit externen Stakeholdern (inkl. Kunden) gegenüber. Das verringert Outside-In-Denken und blockiert Innovation. Dabei ist die Struktur, keineswegs die Intensität der Vernetzung entscheidend, wie wir seit Granovetters bahnbrechender Publikation über «die Stärke schwacher Beziehungen» in Netzwerken wissen. Von der Frequenz her schwache Beziehungen in Netzwerken sind exakt diejenigen, über die neue Informationen transportiert werden und so die schlichte Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Neues entsteht.
Die bewusste Zuwendung zur Analyse und Gestaltung vernetzter Führung zeugt von der Erkenntnis, dass Unternehmen letztendlich nur kollaborativ geführt werden können; dies durch Vernetzung starker Einheiten, denen strukturell Rahmenbedingungen geboten werden, um lokal Verantwortung zu übernehmen und ihre Expertise für Kunden voll auszuspielen. Es geht dabei um den Aufbau einer smarten Vernetzung, die – ebenso wie die anderen oben benannten Prinzipien – dazu beiträgt, Agilität im Sinne von Beweglichkeit zu erzeugen. Das macht Sinn; das ist effektiv; und das ist motivierend.
PROF. DR. CHRISTOPH CLASES ist Dozent an der Hochschule für Angewandte Psychologie – FHNW. Zudem ist er seit 2009 Partner der AOC Unternehmensberatung in Zürich.