Warum?
Manchmal sind die einfachsten Fragen die kompliziertesten. Was treibt Terroristen an? Warum wenden sie Gewalt gegen unschuldige Zivilisten an? Und vor allem: Was bezwecken Terroristen mit ihren Anschlägen eigentlich?
Der Zufall wollte es, dass die Universität Zürich am Montag eine hochkarätige Expertendelegation versammelt hat. Dies, um die «Ökonomie von Krieg und Frieden» zu ergründen: ein Fokus, der drei Tagen nach den Pariser Anschlägen nicht aktueller sein konnte.
Die Veranstaltung machte klar: Wenn es im Terrorismus so etwas wie Gesetzmässigkeiten gibt, so weiss man darüber in der Wissenschaft ziemlich viel. Eine Frage muss aber immer wieder aufs Neue beantwortet werden:
Warum?
Terror als rationale Handlung
Zunächst zur Frage, worum es beim Terrorismus eigentlich geht. In der Wissenschaft existieren verschiedene Definitionen. Einige gemeinsame Punkte stechen heraus:
- Terror unterscheidet sich von Verbrechen dadurch, dass er die Öffentlichkeit nicht meidet, sondern sucht.
- Terroristische Akte sind mit politischen Zielen verknüpft: Die Täter mögen perverse Werte vertreten, handeln aber rational.
- Angriffspunkt des Terrorismus sind die Emotionen. Ziel des Terrors ist, wie das Wort bereits besagt, Furcht zu säen.
Wozu will der «Islamische Staat» also Zivilisten in weit entfernten Orten töten? Was bezweckt die Organisation, wenn sie russische Flugzeuge vom Himmel holt, Bomben in Beirut platziert und Massaker in Paris veranstaltet?
Eine Möglichkeit wäre, den Terror als militärisches Instrument zu begreifen – um den Gegner einzuschüchtern und ihn an einem Ort zu treffen, wo er verwundbar ist. Wie der Rückblick zeigt, war diese Taktik in der Vergangenheit aber von unterschiedlichem Erfolg gekrönt:
- So provozierte das Attentat auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001 eine massive militärische Reaktion des angegriffenen Landes. Die USA marschierten erst in Afghanistan und später im Irak ein.
- Die Anschläge auf Madrid im Jahr 2004 führten faktisch zum Gegenteil. Nachdem in Pendlerzügen zehn Bomben hochgingen, wählten die Spanier ihre Regierung ab und zogen sich aus dem Irakkrieg zurück.
- Praktisch gar keine aussenpolitische Richtungsänderung ergab sich aus den Bombenanschlägen in Grossbritannien im Jahr 2005, die ebenso wie die anderen Attentate einen islamistischen Hintergrund aufwiesen.
Sollte es das Ziel des IS gewesen sein, die Franzosen zum Rückzug aus dem Syrienkonflikt zu bewegen, so wäre diese Taktik mutmasslich fehlgeschlagen. Frankreich hat seine Bombardierungen in den letzten Tagen intensiviert. François Hollande scheint sein Volk auf einen umfangreichen Krieg gegen den IS einschwören zu wollen.
Schwächt sich die Terrororganisation mit den Anschlägen am Ende also selbst?
Terrorismus und Public Relations
Vielleicht geht es gar nicht darum. Denn um den Terrorismus zu begreifen, reichen militärische Kategorien alleine nicht aus. Dies sagt etwa François Heisbourg, ehemaliger Berater der französischen Regierung in Terrorismusfragen (die «Handelszeitung» hat sich mit ihm am Montag ausführlich unterhalten – das Interview erscheint am Donnerstag).
Der Gewinn, den sich der IS durch die Anschläge verspricht, ist vielmehr auf der symbolischen Ebene zu suchen. Mit dem Terror adressiert die Organisation primär ihre eigene Basis potenzieller Supporter. Sie sagt ihnen: «Seht her, wie stark wir sind; seht her, zu was wir fähig sind.» Laut Heisbourg dient die terroristische Machtdemonstration dem IS konkret etwa dazu, noch mehr Mitglieder aus Europa zu rekrutieren.
An dieser Stelle kommt die Ökonomie ins Spiel. Nimmt man die Erkenntnisse der Terrorismusforschung ernst, so liegt den Pariser Anschlägen derselbe fundamentale Gedanke zugrunde, den eine Firma wie Nike dazu veranlasst, einen Sportler wie Roger Federer unter Vertrag zu nehmen: Es geht darum, mit beschränkten Geldmitteln ein Maximum an Aufmerksamkeit zu erzeugen.
Nike bezahlt Roger Federer einige Millionen Dollar pro Jahr. Experten zufolge sind die Kosten der Anschläge in Paris auch für den IS überschaubar. Es geht um ein paar tausend, vielleicht zehntausend Dollar. Dagegen ist die symbolische Wirkung unendlich grösser. Sie erlaubt dem IS, seine Propaganda in die entferntesten Winkel der Erde hinauszutragen – inklusive in Länder wie Nigeria, wo sich die Terrormiliz Boko Haram bereits als Ableger des IS versteht.
Religion als Mittel zum Zweck
Terror als Public Relations: Man kann diese Idee auch noch eine Umdrehung weiter schrauben. Dies macht etwa die Terrorismusforscherin Loretta Napoleoni in ihrem Buch «Die Rückkehr des Kalifats» (Napoleoni war nicht in Zürich anwesend). Sie versteht nicht nur die religiös motivierte Gewalt, sondern die Religion selbst letztlich als Marketingtool: als Ideologie, die es einer Gruppe erlaubt, Personen hinter sich zu scharen.
Laut Napoleoni dient der ultraradikale Islamismus letztlich einem übergeordneten Ziel: einen eigenen Staat auf der arabischen Halbinsel zu errichten. Die Religion erscheint so als Mittel zur Staatskonsolidierung. Napoleoni zufolge basiert dieser Staat zwar auf Werten, die unsere eigene Gesellschaft verwirft. Doch als Projekt, das auf seine eigene Weise der dortigen Lokalgesellschaft nützen wolle, müsse man den IS ernst nehmen.
Die Erkenntnisse der Terrorismusforschung machen die Suche nach einer Lösung aus Sicht des Westens nicht einfacher. Soll man massiv auf die Ereignisse reagieren – und damit den Anschlägen genau jene Aufmerksamkeit schenken, die sich die Terrororganisation wünscht? Oder ignorieren und weitermachen wie bisher?
Die Ökonomie des Terrorismus schafft ein Dilemma, das nicht leicht zu lösen ist. Klar wird auf jeden Fall eines: Will man den Terror «an der Wurzel» bekämpfen, wie es so schön heisst, muss man sich ein Stückweit von der eigenen Optik lösen. Bomben alleine werden die Gleichung des IS, der im religiösen Terror ein zweckdienliches Instrument sieht, nicht ändern.