Kaum ist das Versicherungs-Rendez-vous von Monte Carlo beendet, richten sich die Blicke der Branche auf das Jahresende und das damit verbundene Erneuerungsgeschäft. Bei Katastrophen wie Hurrikanen weiss man, dass diese kommen können, und sie kündigen sich mit einigen Tagen Vorlaufzeit an. Beim Klimawandel, der die Erst- und Rückversicherungen immer unmittelbarer direkt beschäftigt, steckt man mittendrin. Und bei der Inflationsspirale weiss man noch nicht, wie stark diese noch nach oben geht – und wie gross dann die Fallhöhe in der Realwirtschaft ausfallen wird. Mit allen Folgen für den Versicherungsmarkt, der sich in den reifen Märkten grosso modo im Gleichschritt mit dem Wirtschaftswachstum bewegt.
Höhere Preise, tiefere Kapazitäten
Laut den Analysten von JMP Securities, einer spezialisierten US-Research-Boutique, könnte die Kombination von galoppierender Inflation und Kapazitätslücken dazu führen, dass die Erneuerungsrunde für 2023 zu einer der schwierigsten in der jüngeren Geschichte werden könnte. Natürlich würde man sich bezüglich der Preise und Konditionen finden. Aber die Konditionen insgesamt könnten so ausfallen, dass sie für Erstversicherungen «unangenehm zu verdauen» sein werden, wie sich die Analysten ausdrücken.
Denn die Branche ist durch zwei gegenläufige Tendenzen gekennzeichnet, wie die Analysten der Ratingfirmen Fitch und Standard & Poor’s in Monte Carlo ausführten: Einerseits führt die Inflation zu einer höheren Nachfrage. Anderseits reduzieren einige grosse Erstund Rückversicherungen die Kapazitäten in bestimmten Marktbereichen, beispielsweise für Naturkatastrophen und Privatimmobilien. Rückversicherungen müssten jetzt idealerweise die Preiszuschläge, die man in der Realwirtschaft hat, auch auf ihre Rückversicherungs-Tower aufschlagen. Alles in allem wären Kapazitäten in der Höhe von 20 Milliarden Dollar erforderlich.
ILS und Cat Bonds stagnieren
Immerhin: Dem Rückversicherungssektor selber geht es eigentlich ganz gut, hiess es in einer Einschätzung der auf die Assekuranz spezialisierten Ratingfirma A.M. Best. Allerdings bedeuten ausreichende Kapazitäten nicht zwangsläufig, dass auch ausreichend Geld in den Linien ankommt, in denen es gebraucht wird. Denn neben der Inflation verdüstert sich auch und gerade in Europa die wirtschaftliche Gesamtwetterlage. Und damit versiegt für die gesamte Versicherungsbranche eine wichtige Stütze: Die Gelder, die bis vor kurzem zum Wachstum bei Cat Bonds und Insurance-Linked Securities (ILS) beigetragen hatten, werden teilweise in andere, finanziell einträglichere Assets gelenkt.
Laut den Experten von A.M. Best gab es bis 2018 bei ILS und Cat Bonds solide jährliche Zuwachsraten. Aber auf einem Niveau knapp unter 100 Milliarden Dollar jährlich stoppte dann dieses Wachstum. Hierfür war zunächst einmal die Vorsicht bei einigen Investoren gestiegen. Einige Cat Bonds und Versicherungsderivate waren nach teuren Grossschäden – in erster Linie durch Hurrikane in den USA – geplatzt und hatten bei einigen Investoren zu punktuellen Totalverlusten geführt. Coupons von 8 bis 10 Prozent konnten diese Verluste allenfalls etwas abmildern, aber keinesfalls kompensieren. Und es fliesst derzeit auch nicht ausreichend frisches Geld in Cat Bonds und ILS-Produkte, auch weil es bei anderen Assets attraktive Renditen gibt. Ein kompletter Abzug dieser Gelder droht indes nicht. Das liegt an den jahrelangen Verpflichtungen, die man noch während der Tiefzinsphase eingegangen war. Das Geld ist jetzt «in der Falle» beziehungsweise «trapped», wie das im Jargon heisst.
Investoren ziehen bei Cyber nicht mit
Es gibt aber auch Wachstumsthemen. Wie Cyberversicherungen, bei denen Swiss Re laut eigenen Angaben einen Marktanteil von 6 Prozent hält. Hier gibt es laut Vertretern von Swiss Re einige Wachstumspotenziale bei den Prämien. Erst- und Rückversicherungen würden sich wünschen, dass die Kapitalmärkte über ihre etablierten Instrumente zukünftig mehr Geld zur Verfügung stellen. Allerdings sei das Thema derzeit noch nicht reif für viele Investoren, denn die typischen Cat-Bond-Käufer wie spezialisierte ILS-Fonds ziehen klare und objektive Trigger, wie man sie von Naturkatastrophen in Form von Windstärken oder Skalenwerten bei Erbeben kennt, den unscharfen möglichen Zahlungsauslösern im Cyberbereich vor.
Dieser Artikel ist unter dem Titel «Im Inflations-Hurrikan» erstmals erschienen in der «Handelszeitung» Nr. 40 vom 6. Oktober 2022.