Manchmal ist es ihr selber unheimlich, wie schnell das alles geht. «Vor drei Jahren hätte ich mir nie träumen lassen, eines Tages in Italien ein Büro zu haben», sagt sie und fügt hinzu: «Besonders nicht im zehnten Stock.» Der zehnte Stock, das ist die Chefetage im Eisen- und Glasbau auf dem Gelände einer ehemaligen Stahlfabrik in Sesto San Giovanni an der Stadtgrenze Mailands. Als Barbara Frei im Juli 2010 hier ankam, liess sie erst mal die Hecken auf der Aussichtsterrasse kürzen, damit ihr Blick über die Mailänder Skyline samt Dom wandern kann. «Ich bin ja so klein», kokettiert die 1,62-Meter-Frau.
Im Geschäft hingegen ist sie eine Grosse: Als Chefin von ABB Italia und als Verantwortliche der Region Mediterranean mit neun Ländern von Portugal bis Israel hat sie 12 000 Mitarbeiter und knapp fünf Milliarden Franken Umsatz unter sich. Damit ist sie, was diese beiden Messgrössen angeht, die derzeit mächtigste Schweizer Managerin nach Panalpina-Chefin Monika Ribar (15 000 Mitarbeiter, 6,5 Milliarden Franken Umsatz). Kurz vor Ostern erfuhr die Karriere von Barbara Frei einen vorläufigen Höhepunkt: Mit 99,8 Prozent Zustimmung, einem DDR-Ergebnis, wählten sie die Aktionäre in den Verwaltungsrat der Swisscom. Es ist das erste Mandat der Zürcherin, und es ist prestigeträchtig – besonders für eine eben mal 42-Jährige.
Erblich vorbelastet. Barbara Frei – zierliche Figur, schulterlange braune Haare, dominante Brille – entdeckte ihre Liebe zur Energietechnik dank einer Lehrerin während der Ölkrise Anfang der neunziger Jahre. Zudem war Frei familiär vorbelastet: Onkel und Vater waren Ingenieure. Als Teenie brachte sie sich das Programmieren bei und schraubte ihre PC selber zusammen. Das Maschinenbaustudium an der ETH war die logische Folge. Nach dem Vordiplom war sie die einzige Frau im Studiengang – eine Alleinstellung, an die sie sich längst gewöhnt hat. Sie doktorierte über die Kräfte, die in der Turbine des AKW Leibstadt wirken: «Da läuft ein Siebtel der schweizerischen Stromversorgung durch», sagt sie, und ihre Augen leuchten. Man spürt ihre Begeisterung für Gigawatt und Megavolt – das abgegriffene Wort Powerfrau bekommt bei ihr eine zweite Bedeutung. Ihr Doktorvater, Professor emeritus Konrad Reichert, erinnert sich: «Frei war eine der besten Assistenten, die ich je hatte. Sie wusste sehr genau, was sie wollte, und war immer sehr zielgerichtet.»
Auch was die Familienplanung angeht: Der Sohn kam schon früh während des Studiums zur Welt, die Tochter drei Tage nach Abgabe der Diplomarbeit. Mutter und Schwiegermutter halfen bei der Kinderbetreuung; auch ihr Mann, ein selbständiger Anwalt, der jetzt wieder studiert, hat sich all die Jahre zurückgenommen: «Wir wären nie ein Dual Career Couple geworden», sagt Barbara Frei. Da kommt es ihr zupass, dass ihre Kinder jetzt, da Frei karrieremässig mit der Lichthupe unterwegs ist, bereits volljährig sind.
Sie begann 1998 in der ABB-Motorenfabrik in Birr AG, wurde bald Entwicklungsleiterin – und erlebte den ersten und bisher einzigen Karriereknick: Ihr Entwicklungsprojekt wurde eingestellt, sie musste ihre Abteilung abwickeln. «Eine prägende Zeit», sagt sie. Es folgten Stationen in Baden, zuletzt als Leiterin Antriebe bei ABB Schweiz, dazwischen ein EMBA-Kurs am IMD in Lausanne. 2008 zog Frei mit der Familie nach Prag, leitete dort den tschechischen Markt und war Präsidentin für Ungarn, die Slowakei und die Ukraine. Alte Stiche von Prag und Bratislava über ihrem Schreibtisch erinnern heute an ihre Zeit dort. Damals lernte sie auch die Landessprache, verhandelte mit den Gewerkschaften am Schluss auf Tschechisch. Ebenso selbstverständlich hat sie sich in den letzten knapp zwei Jahren die italienische Sprache angeeignet.
Sich nicht durchzuboxen, sondern sich anzupassen, ist ihr Erfolgsrezept. Hanspeter Fässler, einstiger Schweiz-Chef von ABB und ihr Vorgänger auf dem Italien-Posten, beschreibt sie als technisch kompetent und energiegeladen: «Sie macht nicht auf Anhieb den Eindruck einer autoritären Führungsperson. Aber sie arbeitet sich schnell ein und überzeugt dann mit ihrem Wissen und ihrem Drive.» Lukas Küng, ihr erster Chef bei ABB und heute bei den Elektrizitätswerken Zürich, sagt: «Sie scheut sich nicht, ihre Meinung zu sagen, auch nach oben, aber sie bleibt dabei sachlich und verletzt die Leute nicht. Sie kann sehr bestimmt sein und gleichzeitig sehr charmant.» Frei gilt als ergebnisorientiert und zahlenfokussiert, sie lässt den Leuten Freiräume, solange sie die Ziele erreichen. Wenn nicht, das gibt sie zu, habe sie die Tendenz zum Mikromanagement. Frei kommuniziert viel, mit Worten wie mit Gestik und Mimik, sie kann auf Leute zugehen. Dennoch muss sie in Mailand um Anerkennung kämpfen. Weniger wegen des Geschlechtes als wegen des Alters. In Italien sind die Chefs meist jenseits der 60. «Mit 42 ist man ein Youngster», sagt sie.
Mit Griechenland, Portugal, Spanien und Italien hat Frei fast alle Problemländer in ihrem Portfolio, die man sich vorstellen kann. 30 Prozent des ABB-Umsatzes stammen aus Staatsaufträgen, und für die fehlt in den klammen Südländern nun das Geld. Deshalb fokussiert Frei das Geschäft auf Exportunternehmen. In Griechenland etwa ist der Umsatz abgesackt, die Ländergesellschaft hält sich jedoch in den schwarzen Zahlen und gewinnt Marktanteile. In Italien hat sich die Lage wieder etwas entspannt, seit Mario Monti am Ruder ist und die Zinsen sinken. Rund die Hälfte ihrer Zeit verbringt Frei in Mailand, die andere Hälfte reist sie durch den Mittelmeerraum. In den Wartezeiten am Flughafen oder an Bord verschlingt sie Krimis. Mindestens ein Werk von Patricia Highsmith, Agatha Christie oder Elizabeth George lädt sie sich jede Woche auf ihren Kindle.
Erstes Mandat. Neben Schweiz-Chefin Jasmin Staiblin (41) ist Frei die zweite Vorzeigefrau im ABB-Konzern. Und ebenso wie Staiblin hält sie von Frauenquoten gar nichts. «Die schaden mehr, als sie bringen», ist ihre Erfahrung. Allenfalls in der Ausbildung könnten sie Sinn machen. Frauenförderung betreibt sie anders: Einst, indem sie an der ETH zusammen mit «Schweizer Jugend forscht» einwöchige Kurse für Maturandinnen organisierte, um sie für technische Berufe zu begeistern. Heute bei ABB, indem sie vermehrt Teilzeitstellen anbietet.
Und jetzt also die neue Aufgabe im VR der Swisscom. Die Headhunter von Boyden hatten sie kontaktiert, zweimal musste Frei bei VR-Präsident Hansueli Loosli vorsprechen, dann beim Nominationskomitee. Jetzt ist sie neben Ex-MTV-Chefin Catherine Mühlemann die zweite Frau im Verwaltungsrat und sitzt auch im Finanzausschuss. Dort wird sie einen besonders kritischen Blick auf Fastweb richten, das italienische Sorgenkind des Konzerns. 1,2 Milliarden Franken musste die Swisscom letztes Jahr abschreiben, auf dem Markt muss die Firma nach etlichen Managementfehlern mühsam wieder aufgepäppelt werden (siehe BILANZ 4/2012: «Fiasko Fastweb»).
«Natürlich hat man mich auch wegen meiner Kenntnisse des italienischen Marktes geholt», sagt Barbara Frei. Weit hat sie für ihre Kontrollaufgabe nicht: Ihr Büro in Sesto San Giovanni liegt nur 15 Minuten von der Fastweb-Zentrale entfernt.
Heute leitet Frei eine von weltweit acht Regionen bei ABB. Welche Aufgabe würde sie als Nächstes reizen? Die Antwort kommt erst nach einer langen Pause: «Ich muss die Herausforderung sehen», sagt sie schliesslich. Ein neues Element müsse der Job ihr bieten und natürlich mit ihrer Familie kompatibel sein. Doch über ihr ist nicht mehr viel. Der nächste Schritt, so viel ist klar, würde sie als Spartenchefin geradewegs in die ABB-Konzernleitung führen.