Einem Land, das die Rolling Stones, den Minirock und den ultra-eleganten Agenten James Bond hervorgebracht hat, würde man auch im Einrichtungsbereich mehr Mut zu avantgardistischer Verve zutrauen. Doch über Bauhaus und Purismus rümpfte der Brite bislang die Nase und liess sich mit einem freundlichen «thank you very much» ins plüschige Blumenmeer seines Sofas oder in seinen schweren Chesterfield-Sessel plumpsen. Die Moderne hat in England bis heute einen schweren Stand. Was Wohndesign und Architektur betrifft, mag es der Brite konservativ. An vorderster Front gegen neue Architekturformen und für die Tradition kämpft der Prince of Wales höchstpersönlich und greift zeitgenössische Bauprojekte immer wieder öffentlich an.

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Dass England nur wenig zur modernistischen Bewegung der zwanziger und dreissiger Jahre beigetragen hat, ist unter diesen Umständen verständlich. Doch auch die folgenden Jahrzehnte des Mid-Century, während deren das Wohnen in Kontinentaleuropa und Übersee revolutioniert wurde, gingen in England wenn auch nicht spurlos, so doch ohne grössere Umwälzungen vorüber. Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, allen voran dem vergangenes Jahr verstorbenen Robin Day, bleiben aus dieser Zeit kaum britische Namen mit internationaler Ausstrahlung.

Dennoch betrat Ende der fünfziger Jahre ein Mann die Bühne, der den Einrichtungsstil des Königreichs nachhaltig prägen sollte: Sir Terence Conran. Mit seiner Möbelhauskette Habitat – das erste Geschäft eröffnete er 1964 im Londoner Nobelquartier Chelsea – brachte er den Engländern das zeitgenössische Wohnen näher und ermöglichte einer jungen, zukunftsgerichteten Generation, sich vom verstaubten Mief zu lösen. Conran prägt die britische Designszene bis heute, sei es mit dem international erfolgreichen Conran Shop, seinen zahlreichen Londoner Gaststätten (Mezzo, Butler’s Wharf, Boundary), seinen Buchprojekten oder Möbelentwürfen.

Organischer Purismus. Ähnlich wie heute Jamie Oliver im Kochbereich leistete Conran von Mitte des letzten Jahrhunderts an ausdauernde und erfolgreiche Aufklärungsarbeit in Sachen Design, schulte das britische Auge und ebnete einer ganzen Generation von Designern den Weg. So erlebte England in den 1990er Jahren schliesslich einen eigentlichen Designfrühling mit Namen wie Ron Arad, Ross Lovegrove, Marc Newson oder Jasper Morrison, deren internationale Strahlkraft die Insel endlich wieder auf die Landkarte zeitgemässen Möbeldesigns holte. Zu dieser Zeit entstand ein eigener englischer Stil, den man am besten mit «organischem Purismus» umschreibt und der Klassiker wie Arads Wandregal Bookworm oder Morrisons berühmten Thinking Man’s Chair hervorbrachte – Produkte, die mangels einheimischer Hersteller damals noch in Italien produziert wurden.

Noch vor zehn Jahren beklagten sich Designkritiker, dass London zwar mit zahlreichen spannenden Designern aufwarten könne, es jedoch an einheimischen Produzenten für modernes Design mangle. Das hat sich in der Zwischenzeit geändert; britische Designer wissen angesichts der grossen Auswahl möglicher Industriepartner kaum mehr, bei wem sie ihre Entwürfe unterbringen sollen. Einer, der diese Entwicklung massgeblich vorangetrieben hat, ist der nimmermüde Tom Dixon.

Dixon, der vor seiner Designerkarriere unter anderem als Grafiker, Motorradbote, Partyorganisator und Bassist gejobbt hat, entwirft seit den frühen achtziger Jahren nicht nur selbst Möbel, sondern hat sich auch immer wieder für das englische Designschaffen im Allgemeinen starkgemacht. So hat er etwa die Londoner Messe «100% Design» mitbegründet, die Mitte der neunziger Jahre zum ersten Mal stattfand und sich innert Kürze zur international beachteten Plattform für die aus dem Dornröschenschlaf erwachende britische Möbelindustrie entwickelte. Seinen eigenen kreativen Output vermarktet der ehemalige Chefdesigner des Möbelhauses Habitat seit 2002 unter dem weltweit erfolgreichen Label Tom Dixon.

Wachsendes Designbewusstsein. Es sind unterschiedliche Faktoren, die zum heutigen Erfolg der britischen Designmöbelindustrie geführt haben. Edward Tadros, Leiter der über 90-jährigen Firma Ercol, die diesen Frühling erstmals an der Mailänder Möbelmesse präsent war, stellt fest, dass die traditionellen Engländer in den letzten Jahren designbewusster geworden seien. Er führt dies unter anderem auf die verbesserten Ausbildungsmöglichkeiten für Designer und die bessere Qualität der Produkte zurück, aber auch auf neue Fach- und Publikumszeitschriften, die das Designbewusstsein in England fördern.

Der Ruf nach Nachhaltigkeit und Authentizität der letzten Jahre hat dem einheimischen Schaffen und Handwerk weiteren Auftrieb gegeben. Hier kommt den Engländern nun die eigene Traditionalität zugute. Da man im Inselreich seit Jahrzehnten den gleichen Einrichtungsstil pflegt, haben entsprechende Betriebe bis heute überlebt. Deren langjähriges Know-how ist nun Gold wert. Dies haben Firmen wie Established & Sons und Tom Dixon früh erkannt und sich zunutze gemacht: Zeitgenössisches Design in Kombination mit solidem britischem Handwerk ist zum Exportschlager geworden und verkauft sich auch zu Hause gut.

Schliesslich wirkte auch die Wirtschaftskrise, die England hart traf, katalytisch auf das junge Unternehmertum. Augenfällig wurde dies an der «100% Design» im Herbst 2009, als die Krise in Londons Innenstadt mit leeren Geschäften, brettervernagelten Lokalen und zum Verkauf stehenden Liegenschaften manifester war denn je. In den Messehallen von Earl’s Court rieben sich die Besucher ob der geballten Ladung Kreativität verwundert die Augen. Dass die Krise eine Chance für neue Firmen ist, nahmen sich offensichtlich eine ganze Reihe Jungunternehmer zu Herzen.

Sean Dare aus Brighton etwa trat mit seinem frisch gegründeten Label Dare Studio zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. «Es ist der perfekte Zeitpunkt, sich selbständig zu machen», verkündete er. «In Zeiten wie diesen braucht es Innovation und Kreativität.» Auch die Firma Deadgood war mit einer eindrücklichen Kollektion jungen britischen Designschaffens präsent. Den jungen Firmen ging es nicht einfach darum, Neuheiten auf den Markt zu werfen, sondern faire und ethische Produkte zu schaffen, lokale Handwerkstradition zu beleben und einheimische Manufakturen zu fördern.

«Es herrscht ein starker Unternehmergeist in England», sagt Russell Pinch, dessen Label Pinch Design diesen Frühling ebenfalls den Sprung über den Kanal gewagt hat. «Die Nachfrage nach britischem Design ist sowohl zu Hause wie auch im Ausland derzeit sehr gross.» Und die Vorteile der heimischen Produktion sind mannigfach: Verkürzung der Transportwege, vereinfachtes Controlling, das Verarbeiten umweltfreundlicher, da einheimischer Materialien und so weiter. Die direkte Vermarktung wiegt die teureren Produktionskosten auf. Aus all diesen Gründen hat auch Benchmark, eine Firma, die Terence Conran und Sean Sutcliffe 1984 gegründet hatten und die hauptsächlich als Zulieferer für Conran Shop und später Heal’s diente, 2004 eine eigene Möbelkollektion lanciert. (Auch sie war übrigens dieses Frühjahr erstmals in Mailand zu bestaunen.)

Die momentane Situation sieht Sean Sutcliffe nicht als Boom, sondern als natürliche Evolution der britischen Designkultur. Auch sein Kollege Edward Tadros von Ercol betont, dass es immer gutes modernes Design in England gegeben habe, und verweist unter anderem auf seinen Grossvater, dessen wieder lancierte Arbeiten aus den fünfziger Jahren vom Markt mit Begeisterung aufgenommen werden. Neu ist jedoch, dass all diese britischen Möbel tatsächlich auch «made in Britain» sind und somit nicht nur die Qualität der Form, sondern auch der Verarbeitung garantiert ist. Wir schliessen uns der Euphorie an und gestehen: We are delighted!