BILANZ: Herr Lambert, Sie sind seit zehn Jahren CEO von Jaeger-LeCoultre. Was war in dieser Zeit Ihr allerwichtigster Entscheid?
Jérôme Lambert: Das war im Jahr 2008 der Entscheid, die neue Manufaktur trotz allem zu bauen.
Trotz allem?
Es war im September 2008. Und es ging immerhin um eine Überbauung von 10 000 Quadratmetern. Eben war Lehman Brothers zusammengebrochen, die Konjunktur schwächelte dramatisch, Uhrenhändler warnten sozusagen vor dem bösen Wolf. Da mussten wir kurz innehalten und uns fragen: Was tun wir jetzt?
Schlecht schlafen?
Nicht wirklich, nein. Aber ich habe 1000 Mitarbeiter, denen ich weiterhin die Löhne auszahlen will. Und bei einem Projekt dieser Grössenordnung geht es rasch einmal um 30 bis 50 Millionen Euro. Ich sehe alle meine Mitarbeiter regelmässig, um ihnen zu erklären, was wir eben tun und was wir vorhaben. Die Mitarbeiter sahen damals die Baugrube auf unserem Gelände. Viele fragten mich: Sind Sie angesichts der unsicheren Zeiten ganz sicher, dass Sie gerade jetzt eine neue Manufaktur bauen wollen?
Waren Sie ganz sicher?
Natürlich fragten wir uns, was wir tun sollten. Baupause? Baustopp? Weiterbauen? Wir entschieden uns, weiterzumachen. In solchen Momenten ist es sehr wichtig, an der Spitze des Konzerns Leute wie Johann Rupert zu haben, die eine langfristige Sicht der Dinge haben. Ich wusste, dass mein Entscheid mitgetragen wird, wenn er sinnvoll ist.
Ohne Einschränkungen?
Ein Opfer mussten wir erbringen. Damals war ein zweites Projekt spruchreif auf dem Tisch: die – unterdessen eröffnete – Boutique in Paris an der Place Vendôme. Die stellte ich zurück. Es war mir klar, dass wir nicht alles gleichzeitig realisieren könnten. Und ich zog es vor, in die Grundstruktur zu investieren. Es standen Arbeiten für die Entwicklung unserer eigenen mechanischen Hemmung an, um wirklich voll vertikalisiert zu sein. Das braucht auch Platz. Im Nachhinein war der Entscheid vollkommen richtig, er hat uns ermöglicht, beim Aufschwung 2009 und 2010 voll handlungsfähig zu sein.
Und Sie produzieren jetzt tatsächlich Ihre eigene Hemmung, also das kleine Regulierorgan im Uhrwerk, das fast keine Marke selber bauen kann?
Genau. Mehr als die Hälfte unserer Uhren werden schon heute mit einer eigenen Hemmung ausgestattet.
Gibt es einen Entscheid, auf den Sie besonders stolz sind?
In den schwierigen Jahren für die Uhrenindustrie, also 2002 und 2003 sowie 2008 und 2009, schwor ich mir zusammen mit unserem leider eben verstorbenen Directeur Industriel, dass wir alles in unserer Macht Stehende unternehmen würden, um alle unsere Leute an Bord behalten zu können. Alle. Das ist uns gelungen. Und darauf bin ich wirklich stolz. Wir haben das getan, weil es zu unseren Werten gehört. Weil eine solche Haltung letztlich die Stärke und Einzigartigkeit unserer Marke ausmacht.
Sie präsentieren in diesen Tagen die neue Duomètre Unique Travel Time, eine hochkomplexe Uhr, die aus 498 Teilen besteht. Wie entscheidet man denn, so etwas zu machen?
Die Frage war in diesem Fall nicht, ob wir so etwas machen wollten. Sondern nur, wann wir es tun. Die Duomètre Unique Travel Time ist die fünfte Uhr in der Dual-Wing-Familie, in der ein Mechanismus für die Zeitanzeige und ein zweiter unabhängiger Mechanismus für die Zusatzfunktion in einem Werk eingebaut sind. Dieses Konzept auch für eine Multitime-Uhr anzuwenden, lag auf der Hand.
Nur kann man sich natürlich fragen, warum man über 30 000 Franken für eine Uhr bezahlen solle, die nichts anzeigt, was ein Smartphone nicht auch kann.
Ganz einfach. Wenn Sie viel reisen, haben Sie oft ein echtes Problem: Sie müssen im Hotel eine Steckdose finden. Dann müssen Sie den richtigen Adapter dabeihaben. Ich reise viel und habe immer einen kleinen Laptop, ein iPad und einen Blackberry dabei. Da fehlt bei jeder dritten Reise sicher ein Stecker oder ein Adapter. Die Duomètre Unique Travel Time hingegen läuft ohne Stecker stets präzis. Sie zeigt, egal wo man ist, die richtige Zeit an – unabhängig von Strom und Adapter. Das ist doch einzigartig.
Wir dachten, bei Uhren dieser Klasse gehe es primär um die Emotion?
Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel. Als ich vor ein paar Monaten den Schweizer Pass erhielt, beschloss ich, einen Schweizer Berg mit hoher symbolischer Strahlkraft zu besteigen – das Matterhorn. Ich bat einen Bergsteigerbekannten, mit mir sozusagen als Training vorab einen anderen Berg zu erklimmen, und er nahm mich auf die Dent Blanche mit. Was trug ich am Handgelenk? Nicht die Uhr, die ich beim Marathon jeweils auf mir habe. Nach vier Stunden läuft eine GPS-Uhr mit allen elektronischen Spielereien bei dieser Kälte nämlich oft nicht mehr. Ich nahm also eine mechanische Jaeger-LeCoultre Alarm Navy Seal mit. In der Berghütte konnte ich dank Superluminova auch im Dunkeln die Zeit gut ablesen. Überdies wusste ich, dass ich dank des mechanischen Weckers in meiner Uhr sicher erwachen würde. Die Navy Seal hielt auch sechs Stunden Auf- und Abstieg bei eisiger Kälte durch und steckte Stösse locker weg. Sie funktionierte tadellos.
Eine Uhr ist doch heute vor allem ein Statusobjekt?
Das ist sie auch, klar. Und überdies ein Kunst- und Kulturobjekt. Aber für eine Maison wie die unsere beginnt alles mit einem Instrument, das zuerst die akkurate Zeitmessung zur Aufgabe hat. Das ist die Basis. Dann kommt die kulturelle, ästhetische Dimension dazu.
Wie wichtig sind heute eigene Werke für eine Marke?
Wir entwickeln drei bis sechs Werke pro Jahr. Und wir können deshalb immer auf Trends reagieren. Wenn mir jemand stolz erzählt, er habe eben für seine Marke das erste eigene mechanische Werk im Programm, klingt das ja hübsch. Ich würde ihm aber gerne sagen: Sehr schön, jetzt musst du nur noch 69 weitere Kaliber entwickeln, dann bist du dabei. Es braucht drei bis fünf Jahre, ein Werk zu entwickeln. Wir haben zum Beispiel seit drei Jahren mit der Rendez-Vous gerade bei Uhren mit ganz kleinen Werken eine enorme Nachfrage. Hätten wir erst vor anderthalb Jahren beschlossen, dass wir ein extrem kleines automatisches Werk für Damenuhren brauchten, hätten wir ein Problem. Aber wir führten mit dem Kaliber 960 das entsprechende Werk vor mehr als fünfzehn Jahren ein und haben es ständig verbessert – wir waren parat.
Der Ambitionierte: Jérôme Lambert, geboren 1969, ist seit zehn Jahren CEO der Uhrenmarke Jaeger-LeCoultre, die zum -Richemont-Konzern gehört und mehr als 1000 Mitarbeiter beschäftigt. Lambert hatte bei Jaeger-LeCoultre 1996 in der Rechnungs-prüfung begonnen. Er ist schweizerisch-französischer Doppelbürger und hat die «grande maison» in -seiner Amtszeit klar als Marke mit Haute-Horlogerie-Ambitionen positioniert.