Als das legendäre Woodstock-Konzert 1969 im Norden von New York als Höhepunkt (und zugleich Ende) der kapitalismuskritischen Hippiebewegung stattfand, waren fast die Hälfte der Erwerbstätigen hierzulande im Industriesektor beschäftigt.

Heute ist es noch rund ein Fünftel – drei Viertel arbeiten mittlerweile im Dienstleistungssektor. Doch auch im zweiten Sektor ist immer mehr eine eigentliche Tertiarisierung zu beobachten – vom Ausbildungsprofil der Beschäftigten bis zur Art der Tätigkeiten.

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Peter Grünenfelder ist Direktor von Avenir Suisse, dem Think-Tank der Schweizer Wirtschaft. Zuvor war er unter anderem Staatsschreiber des Kantons Aargau und Präsident der Schweizerischen Staatsschreiberkonferenz. Er ist auch Lehrbeauftragter für Public Governance an der Universität St. Gallen.

Noch weiter zurück als Woodstock liegen die Ursprünge des Schweizer Arbeitsrechts. Das Fabrikgesetz wurde 1877 erlassen, das Arbeitsgesetz ist seit 1964 in Kraft. Bis heute blieben Anpassungen an die Bedürfnisse der Dienstleistungsgesellschaft aus. Die aktuelle Arbeitsgesetzgebung gründet nach wie vor auf Vorstellungen einer industriellen Arbeitswelt.

Akribisch reguliert werden Arbeits- und Ruhezeiten, Nacht- und Sonntagsarbeitsverbot, maximale Wochen- und Überzeiten oder der zeitliche Tagesarbeitsrahmen. Ausgeblendet wird die Tatsache, dass 2021 bereits 30 Prozent der Arbeitsplätze dem digitalen Teil der Wirtschaft zugehören.

«Um Projekte fristgerecht abzuschliessen, den Stosszeiten auszuweichen oder pünktlich zum Elterngespräch zu erscheinen, ignorieren Erwerbstätige die starren Regelungen der Gesetzgebung.»

In Fundamentalopposition gegenüber jeglichen Änderungen in der Arbeitsgesetzgebung stehen die Gewerkschaften – aus ihrer Sicht zum Schutz der Lohnabhängigen. Nur leben und arbeiten die Menschen heute ganz anders als im Industriezeitalter. Um Projekte fristgerecht abzuschliessen, den Stosszeiten auszuweichen oder pünktlich zum Elterngespräch zu erscheinen, ignorieren Erwerbstätige die starren Regelungen der Gesetzgebung. Bei den Arbeitnehmenden gehen die Ansprüche an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vor. Oder der Wunsch, Hoheit über die eigene Zeitagenda zu erhalten.

Lektionen von Corona

Gerade Corona hat den Reformbedarf in der Arbeitsgesetzgebung akzentuiert. Bei Pandemieausbruch bewiesen Arbeitgeber wie Arbeitnehmende ausserordentliche Flexibilität, vorab durch die rasche Umstellung auf digitale Arbeitsprozesse und durch die Verlagerung der Tätigkeiten ins Homeoffice.

Nur: Gemäss Arbeitsgesetz gelten im Homeoffice die gleichen Pflichten wie am Arbeitsplatz, was die Flexibilität und Zeitautonomie der Angestellten empfindlich einschränkt. Doch eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ist erst dann möglich, wenn Arbeitnehmende ihren beruflichen, privaten und sozialen Interessen gemäss ihrer individuellen Zeitplanung nachgehen können.

Woodstock war zwar ein grossartiges Musikfestival: Doch die 1960er Jahre taugen nicht mehr als Referenzpunkt für die heutige Arbeitswelt. Es ist deshalb dringend nötig, dass sich die Gewerkschaften von ihrem antiquierten Verständnis der Arbeitswelt verabschieden.