Die Basis der Gewerkschaften bröckelt in den Industriestaaten. Die Schweiz ist da keine Ausnahme. Dies bestätigen neuste Zahlen aus dem OECD Employment Outlook 2004, die der «HandelsZeitung» vorliegen. Lag hier zu Lande der gewerkschaftliche Organisationsgrad, gemessen an allen Beschäftigten, 1970 bei 29%, 1980 bei 31% und 1990 bei 24%, ist die Schweiz heute bei knapp 18% angelangt. Damit weist sie zwar einen höheren Gewerkschafteranteil aus als die USA mit 12,8% und Frankreich mit 9,7%. Doch verglichen mit Finnland 76,2%, Deutschland 25,0% und Grossbritannien 31,2% ist der Organisationsgrad vergleichsweise tief. Unter 30 OECD-Staaten belegt die Schweiz nur den 25. Platz.
Der Rückgang, der hauptsächlich auf den Strukturwandel zurückzuführen ist, fiel hier zu Lande in den letzten zehn Jahren gleich aus wie in Deutschland. Dort sank der Organisationsgrad ebenfalls um 6 Prozentpunkte. Konkret waren Ende 2003 in der Schweiz 781964 Personen einer Gewerkschaft oder einem Angestelltenverband angeschlossen. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund mit 393128 Mitgliedern legte nur dank dem Anschluss des Bundespersonalverbandes leicht zu.
Die Fusion der Gewerkschaften GBI, Smuv, VHTL und unia zur neuen Mega-Gewerkschaft Unia mit über 200000 Mitgliedern dürfte den Mitgliederschwund kurzfristig nicht bremsen, so die Erwartung von Pietro Cavidini vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB). Längerfristig werde Unia aber die Verluste im Indu-striebereich mit Neumitgliedern aus dem Dienstleistungsbereich wettmachen. Das Wachstum der kleinen Dienstleistungsgewerkschaft unia bestätigt die Nachfrage aus diesem Bereich. Sie legte wenn auch auf niedrigem Niveau in den letzten zehn Jahren um 22% zu. Auch die Neuzugänge der Gewerkschaft Kommunikation bei den privaten Telekom- und Postunternehmen weisen auf das Potenzial in dieser Branche hin.
Andrang aus Angst
Der freie Personenverkehr und die EU-Ost-Erweiterung fördern das Interesse der Arbeitgeber an Branchenlösungen und besonders an Allgemeinverbindlichkeitserklärungen (AVE) von Gesamtarbeitsverträgen (GAV). «Bereits in den letzten vier bis fünf Jahren hat sich die Nachfrage nach AVE verdoppelt, wenn nicht verdreifacht», heisst es bei der Sektion Arbeitsbedingungen des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Die Angst vor Konkurrenz und Lohndumping aus der EU sei ein wesentlicher Grund. Schliesslich könnten Firmen von den flankierenden Massnahmen nur profitieren, wenn sie über eine AVE verfügten.
Die per 1. Juni 2004 mit der Erweiterung der Personenfreizügigkeit eingesetzten flankierenden Massnahmen können die Macht der Gewerkschaften zusätzlich stärken, weil sie eine Vereinfachung der AVE ermöglichen, wenn berufs-, branchen- oder ortsübliche Löhne missbräuchlich unterboten werden. Für solche Fälle braucht es neu anstatt einer Quote von bisher 50% der Firmen einer Branche, die einem GAV angehören, nur noch eine Quote von 30%. Die Senkung erfolgt nach Anrufung der neuen tripartiten Kommissionen.
Im internationalen Vergleich wird oft vernachlässigt, dass die Schweizer Gewerkschaften nicht zuletzt dank der Verbreitung der AVE punkto Reichweite vergleichsweise mächtig sind. Heute decken die GAV in der Schweiz 42,5% der Arbeitsverträge ab. Im Ländervergleich belegt die Schweiz damit Platz 16 noch vor Grossbritannien, obwohl die Briten einen deutlich höheren Organisationsgrad aufweisen.
Gutes Umfeld für Expansion
Sowohl das Seco als auch der Arbeitgeberverband erwarten, dass die einzelnen Branchenvertreter als Teil der Unia stringenter und aktiver vorgehen werden als bisher, was die Lancierung von GAV und AVE fördere. «Wenn es der Unia gelingt, in neuen Gebieten des Tertiärsektors besser Fuss zu fassen, dann könnenallenfalls auch neue GAV entstehen», sagt Ruth Derrer Balladore vom Arbeitgeberverband.
Sie betont allerdings, dass der Abschluss von GAV nicht nur von den Gewerkschaften, sondern, wie die neuen Verträge in der Reinigungsbranche und bei den Tankstellen zeigten, auch stark vom Interesse der Arbeitgeber abhänge. Der freie Personenverkehr sei der Nachfrage nach solchen Verträgen sicher förderlich. Derrer hält zudem Nichterneuerungen von GAV, wie etwa bei den Gipsern, für eine vorübergehende Erscheinung. Denn es sei im Interesse aller, die Rahmenbedingungen zu regeln.
Erhebliche Deckungsweite trotz Mitgliederschwund
Organisationsgrad (in %) Deckungsgrad von GAV (in %)
Australien 24.5 82.5
Belgien 55.6 92.5
Dänemark 74.4 82.5
Deutschland 25.0 68.0
Finnland 76.2 92.5
Frankreich 9.7 92.5
Italien 34.9 82.5
Japan 21.5 17.5
Kanada 28.1 32.0
Korea 11.4 12.5
Luxemburg 33.6 62.5
Niederlande 23.2 82.5
Norwegen 54.3 72.5
Österreich 36.5 97.5
Polen 14.7 42.5
Portugal 24.3 82.5
Spanien 14.9 82.5
Schweden 81.1 92.5
Schweiz 17.8 42.5
Tschechien 27.0 27.5
Ungarn 19.9 32.5
Vereinigtes Königreich 31.2 32.5
Vereinigte Staaten 12.8 14.0
Quelle: OECD