BILANZ: Herr Gerber, die Schweiz galt jahrzehntelang als wirtschaftliches Vorbild für andere Länder. Hat sie diesen Modellcharakter verloren?
Jean-Daniel Gerber: Wenn wir die nötigen Reformen weiterhin so bedächtig angehen, werden wir die Vorbildrolle bald verlieren. Angesprochen sind zahlreiche Wirtschaftsbereiche wie der Energie-, der Sozialversicherungs- und der Gesundheitsbereich sowie die Landwirtschaft.
Ist unsere Landwirtschaft ein Zeichen dafür, dass die Schweiz generell ihre offene Haltung gegenüber dem Wettbewerb aufgibt?
Diese Aussage mag teilweise zutreffen. Tatsache ist, dass wir ein Land sind, das einen bedeutenden Teil seiner Preise in irgendeiner Weise dem Wettbewerb entzieht. Da ist die Landwirtschaft bloss ein Beispiel.
Die Wachstumsschwäche der Schweiz zeigt doch, dass sich unsere Wirtschaft zu wenig dem internationalen Wettbewerb aussetzt.
Unsere Wachstumsschwäche ist tatsächlich vor allem hausgemacht. Die Firmen und Branchen, die im internationalen Wettbewerb stehen, weisen eine deutlich höhere Produktivität auf als diejenigen im Binnensektor. Unter den Industrieländern weisen wir zudem für die Periode 1990–2000 neben Japan die höchste Zunahme der Staatsquote aus.
Besteht die Gefahr, dass diese Probleme auf dem Binnenmarkt auf die gesamte Wirtschaft abfärben?
Dieses und nächstes Jahr wird die Schweiz von der Konjunkturerholung profitieren. Ich befürchte, dass der Druck, die strukturellen Binnenmarktreformen nun endlich vorzunehmen, abflaut und wir wiederum der fatalen Politik des Bewahrens verfallen.
Auf welchen Gebieten wollen Sie die Reformen vorantreiben?
Zentral sind die Förderung des Wettbewerbs auf dem Binnenmarkt und die Stabilisierung des Ausgabenwachstums. Angesprochen sind eine offene Elektrizitätswirtschaftsordnung, eine Agrarpolitik, die einen zwar kleineren, dafür aber kompetitiven Bauernstand fördert, die Schaffung von Anreizen in den Sozialversicherungen, die den Missbrauch oder den Müssiggang entmutigen und die weitere Beschäftigung – statt eine Pension für Frauen und Männer ab 58 – attraktiv machen.
Solange wir uns immer noch als Vorbild für andere Länder sehen, fehlt der Sinn für die Dringlichkeit solcher Massnahmen.
Leider ja. Änderungen sind in einer Krise möglich. Die Schweizerin und der Schweizer sehen sich jedoch nicht in einer Krise, deshalb sind die Reformen so schleichend.
Die neuen Musterknaben sind also andere Länder?
Irland hat uns beim kaufkraftbereinigten Bruttoinlandprodukt überholt. Österreich wird bei dieser Messgrösse in naher Zukunft mit uns gleichziehen. Es ist keine Schande, von anderen zu lernen. Die Chancen der Schweiz sind intakt. Wir haben einen flexiblen Arbeitsmarkt, geringe soziale Konflikte sowie neue Märkte, die sich im Osten öffnen. Unser Produktionsstandort profitiert von der stabilen Währung und der geringen Inflation – nutzen wir unsere Chancen.
Stichwort Währung und Inflation: Diese sind heute fast überall stabil, auch in zahlreichen Entwicklungsländern.
Zum Glück! Seien wir froh darüber. Viele Schwellenländer wie etwa China oder Indien und zahlreiche andere haben in den letzten Jahren in der Festlegung günstiger Rahmenbedingungen für die Wirtschaft grosse Fortschritte gemacht. Wir können nur hoffen, dass der Aufschwung in diesen Ländern weitergeht und uns diese, in absoluten Werten gemessen, gar überholen. Es ist wie bei einem Kind, das langsam wächst: Eines Tages überholt es die Eltern.
Wie bitte?
Nehmen Sie als Beispiel Polen mit 38 Millionen Einwohnern. Das Land gehört zu der von der Schweiz geführten Stimmrechtsgruppe im Währungsfonds und in der Weltbank. Zwar nicht schon morgen, aber in absehbarer Zukunft muss uns Polen bei der gesamten Wirtschaftsleistung überholen. Hoffentlich auch: Wenn ein 38-Millionen-Volk nicht irgendwann ein grösseres Bruttoinlandprodukt hat als die Schweiz, dann haben die marktwirtschaftlichen Rezepte, die diesem Land verschrieben wurden, versagt. Das Gleiche gilt für andere Schwellen- und Entwicklungsländer. Also können wir uns freuen, wenn unseren eigenen Rezepten Erfolg beschieden ist. Allerdings sollten wir diesen Ländern nicht Wasser predigen und selber Wein trinken. Auch wir müssen uns hier zu Hause den Reformen stellen. Ich werde dafür kämpfen.