Herr Kaufman, mit 93 Jahren sind andere lange im Ruhestand. Sie dagegen schreiben ein Buch.
Henry Kaufman*: Ich beschäftige mich seit 1949 mit Finanzmärkten und habe viel gesehen, weshalb sollte ich diese Erkenntnisse nicht teilen? Ich denke, dass wir vor einem drastischen Wandel stehen. Es wird schwer sein, sich darauf einzustellen.

Sie sprechen von der tektonischen Verschiebung, die bereits der Buchtitel benennt: «Tectonic Shifts in Financial Markets» …
... es wird einen unregelmässigen Zinsanstieg geben - aber nicht so radikal wie in den siebziger Jahren, als der Leitzins von 2,5 Prozent auf 15,25 Prozent kletterte. Alles wird viel moderater ausfallen. Die Zinsen steigen nicht höher als auf 5 bis wohl höchstens 7 Prozent. Einen höheren Zinssatz verkraftet der Kreditmarkt nicht.

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Warum?
Die Finanzwelt ist heute viel komplexer, vertikal integriert und stärker verschuldet. Die Bonität ist schlechter. Gab es 1970 noch 15 Banken mit einem AAA-Rating, so hält heute keine mehr das beste Bonitätssiegel. 1980 gab es 61 US-Unternehmen mit bester Bonität, heute sind es nur noch zwei: Johnson & Johnson und ADT. Stattdessen gibt es jede Menge Hochzinsanleihen - früher nannten wir diese Junkbonds, Ramschanleihen. Höhere Zinsen werden zu enormen Kreditausfällen führen und die Zentralbank auf den Plan rufen.

Das hört sich nach einer neuen Finanzkrise an.
Eines Tages, ja. Wann genau, ist schwer zu sagen – mit solchen Prognosen hatten schon eine Reihe von Zentralbankern ihre Mühe. Wir kriegen die Krise, wenn die Zinsen etwas weiter angestiegen sind und sich Kredite verknappen. Erste Probleme sind im Automarkt erkennbar. Über Kredite gelang es, die Nachfrage auf jährlich mehr als 17 Millionen neu zugelassene Fahrzeuge zu steigern. Viele Schuldner sind aber kaum kreditwürdig. Wie damals im Subprime-Markt werden diese Autokredite wild zusammengemischt. Das fliegt als Erstes in die Luft.

Der Automarkt löst doch keine Finanzkrise aus - die Branche ist viel kleiner als die Immobilienbranche, die uns das letzte Schlamassel bescherte.
Da mögen weniger Dollars drinstecken. Dafür besteht über die Autohersteller eine direkte Rückkoppelung auf den Aktienmarkt. Das Kernproblem ist die unglaubliche Bündelung von Liquidität. Trotz allen Reformen halten immer weniger Institutionen immer mehr Assets. 1990 hatten die zehn grössten Banken 10 Prozent des Anlagevermögens in ihren Büchern. Heute halten sie 80 Prozent. Müssten die drei grössten Institute ihr Risikoprofil senken und 30 Prozent ihrer Assets abstossen - an wen könnten sie verkaufen?

Die Chinesen?
Schön wäre es, aber nein. Das Geld steckt fest. Das kann zu einer signifikant höheren Volatilität führen. Auslöser mag so etwas Profanes wie eine Änderung einer Gewinnprognose sein. Dann bleibt als einziger Käufer die Zentralbank übrig. Es gibt einfach keinen Liquiditätspuffer mehr, wie wir den vor Jahren noch hatten. Entsprechend fehlgeleitet ist der Glaube, dass es immer einen Markt für Junkbonds oder Anleihen aus Schwellenländern gibt. Problematisch sind auch ETF auf einzelne Branchen. Will jemand mit einer grossen Position schnell liquidieren, müssen die zugrunde liegenden Aktien auf den Markt geworfen werden. Das kann ein grösseres Missgeschick auslösen respektive eine verhängnisvolle Kettenreaktion.

Kann die Krise so gross werden wie 2008?
Das hängt davon ab, wie rasch die US-Notenbank Fed einspringt. Und wie gross das Liquiditätspolster ist, das sie bereitstellt. Die Bank of Japan hat bereits Aktien gekauft. Dazu wird die Fed künftig vielleicht auch übergehen müssen. Das würde mich nicht überraschen.

Noch herrscht an den Märkten Festlaune. Ist das gerechtfertigt oder anders gefragt: Übt der neue US-Präsident Donald Trump so einen positiven Einfluss auf die Wirtschaft und die Börse aus?
Frühestens im kommenden Jahr kann er seine Programme so durchsetzen, dass sie sich wirtschaftlich bemerkbar machen. Dann aber kühlt sich die US-Konjunktur bereits spürbar ab. Der Arbeitsmarkt ist mit 4,5 Prozent Arbeitslosigkeit beinahe ausgetrocknet. Die Autoverkäufe erreichen den Zenit - sie werden durch höhere Zinsen abgewürgt werden und auch der Hausmarkt wird sich abkühlen.

Pro oder contra Trump?
Ich habe ihn nicht gewählt. Meine Geschichte ist ganz bunt – mal wähle ich Demokraten, mal Republikaner, mal andere.

Für die Unabhängigkeit der Notenbank scheint Trump nicht viel übrigzuhaben.
Trump wird enormen Druck auf das Fed ausüben. Kommendes Jahr wird er Janet Yellen austauschen und dazu fünf von sieben Notenbankgouverneuren. Damit besitzt Trump einen dominanten Einfluss. Meine Prognose: Er wird einen unkonventionellen Notenbankchef auswählen und einen Nichtökonomen ernennen. Das ist zuletzt 1978 passiert.

Was würde das bedeuten?
Damals hielt sich der Mann nur eineinhalb Jahre. Aber selbst Ökonomen wie Alan Greenspan und Ben Bernanke haben grosse Fehler gemacht. Insbesondere Ökonomen, die mit einer spezifischen Lehre verbunden sind, können mehr Schaden anrichten als ein pragmatischer Geschäftsmann. Zentralbanker haben es nicht leicht. Nur wer das Angenehme umsetzt und die Zinsen senkt und die Geldmenge erhöht, ist ein Held. Niemand mag den, der die Zinsen erhöht. Die Zentralbank steht zum Finanzsystem wie ein Vater zum Kind: Sagt der Vater Nein, kriegt das Kind einen Wutanfall.

Janet Yellen gilt als zögerlich, wenn es um ein konsequentes Anheben der Zinsen geht. Wie viele Zinsschritte erwarten Sie im laufenden Jahr?
Sie wird die Zinsen nicht sehr stark erhöhen - vielleicht um ein halbes Prozent bis Ende Jahr.

Das Fed hat durch unkonventionelle Massnahmen die Bilanz enorm aufgebläht - wann wird die Bilanz wieder kürzer?
Die Anleihenbestände innerhalb der Fed-Bilanz sind mit 4,5 Billionen Dollar enorm hoch. Sie wieder auf ein normales Niveau zurückbringen zu wollen, ist aber nur Gerede - das wäre extrem schwierig. Denn wenn ein Zentralbanker den Bestand verringert, verringern sich die Reserven und damit sinkt die Kreditvergabe. Als Folge steigen die Zinsen - es gibt keinen einfachen Ausweg. Falls die Inflation zunähme, wäre das Umfeld zur Umsetzung eines solchen Vorhabens für das Fed leichter.

Es wird seit Jahren davor gewarnt, dass die Inflation deutlich steigen wird - rückt dieser Zeitpunkt jetzt näher?
Ich denke nicht, dass die Inflation deutlich zurückkommt. Die Kapazität, global zu produzieren, ist enorm und sollte eine Verknappung von Waren verhindern. Das Fed hätte es nur zu gern, dass die kurzfristigen Zinsen etwas steigen, damit es einen Puffer hat, wenn es die Geldzufuhr wieder erleichtern muss.

Warum sollten die langfristigen Zinsen ohne Preisdruck überhaupt auf 5 bis 6 Prozent steigen?
Wer in der Geschichte zurückblickt, wird feststellen, dass es sich dabei um keinen hohen Zinssatz handelt. Und nicht zu vergessen: Das Risiko im Finanzsystem ist erneut erhöht, deshalb sollten Anleger für das Eingehen dieser höheren Risiken kompensiert werden.

Weshalb geschah und geschieht das nicht?
Das lag an der massiven Geldinfusion durch die Zentralbanken, deshalb bewegten sich die Zinsen nicht.

Wenn Sie das Sagen hätten - was würden Sie tun, um die nächste Krise zu verhindern?
Ich würde das Glass-Steagall-Gesetz wieder einführen und die Banken aufspalten. Damals tat jeder, was Neuer am besten konnte - die Versicherung schrieb Versicherungspolicen, ein Vermögensverwalter managte Anlagen. Das Verhalten von spezialisierten Institutionen ist nachvollziehbar. Bei Finanzkonglomeraten jedoch - wie wir 2008 bitter lernen mussten - weiss keiner, was sie tun und mit wem alles sie vernetzt sind. Noch nicht einmal das Management hatte und hat den Überblick. Als ich 1967 bei Salomon Brothers Partner wurde, warnte mich Sidney Homer, mein Chef, ich solle meiner Frau erzählen, dass ich für 2 Milliarden Dollar persönlich hafte. Das ist der Unterschied zwischen einer Partnerschaft und einer Aktiengesellschaft. Weder das Management noch der Verwaltungsrat der grossen Finanzinstitute haftet mit seinem Privatvermögen.

Einige Schweizer Banken klagen, dass die neue Rechtslage in den USA nachteilig für sie ist, weil sie nicht so gross sind wie US-Banken. Stimmen Sie dem zu?
In gewisser Weise. Für die grossen Banken hier - es sind nur noch wenige übrig - sind Marketmaking und Underwriting ganz anders. Zu meiner Zeit schalteten die Banken eine grosse Anzeige in der Zeitung, einen sogenannten Grabstein, wenn sie eine Anleihe an den Markt brachten. Mit einer langen Liste aller Institute, die mitgewirkt hatten. Das gibt es nicht mehr, weil die wenigen verbliebenen sich alles teilen. Und beim Marketmaking kann kein Verkäufer eines Aktienpakets mehr von Haus zu Haus ziehen und den besten Deal aushandeln.

Steigen Ihrer Ansicht nach die Zinsen nun auch in Europa?
Nur sehr langsam. Die Europäische Union hat strukturelle Probleme. Das Bankensystem in Kontinentaleuropa ist in keiner guten Verfassung. Italien, aber auch Deutschland hat eigene Probleme. Und der Brexit ist bislang ungelöst - wie werden die EU und Grossbritannien künftig miteinander operieren?

Populismus und Nationalismus sind auf dem Vormarsch. Wie gross schätzen Sie das politische Risiko ein?
Der Kapitalismus in seiner reinen Form ist infrage gestellt. Der besteht aus dreierlei Freiheiten: dem freien Verkehr von Gütern und Dienstleistungen, dem freien Fluss von Kapital und der freien Bewegung von Arbeitskräften über Landesgrenzen hinweg. Es ist eine Lebenswahrheit, dass wir alle eben nur zu zwei Dritteln Kapitalisten sind - den freien Zufluss von Arbeit will niemand. Das ist eine verständliche Haltung. Aber für die Welt ist dies abträglich.

Die Immigration wird zunehmend ein Problem für Europa.
Überall, auch in Afrika, haben die Menschen Internet - sie wissen, welche Gelegenheiten in Europa und den USA auf sie warten. Man könnte die Lebensbedingungen der Menschen im Nahen Osten und Afrika verbessern - mehr investieren, mehr Infrastruktur bauen und das Bildungsniveau verbessern. Das würde die Absetzbewegungen verringern. Aber alle Industrienationen klagen, dass sie selbst in diesen Bereichen Probleme haben und zuerst bei sich investieren.

Apropos neue Technologien - in was für einer Welt leben wir in hundert Jahren?
Wir werden weniger frei leben als heute. Alles wird über jeden Einzelnen bekannt sein - sein Vermögen, sein Gesundheitszustand und alle Aktivität, 24 Stunden am Tag. Die Bankfilialen, die jetzt noch jede Strassenecke von New York schmücken, werden in spätestens fünfzig Jahren verschwunden sein, weil wir sie nicht mehr brauchen werden. In hundert Jahren wird es kein Papiergeld mehr geben. Wir werden uns zugleich freier fühlen und doch mehr in Schranken gehalten sein. Das bringt der Fortschritt.

Das klingt dystopisch. Erschreckt es Sie, wie ungeniert Erdogan, Putin - und möglicherweise auch Trump - nach totaler Macht greifen?
Trump bleibt maximal acht Jahre Präsident und vielleicht nicht einmal das, wenn ich das korrekt voraussehe. Mich beschäftigt vielmehr, dass die Verteilung von Vermögen in den meisten Industrienationen ungleicher als jemals zuvor in der Geschichte ist. Das muss angepasst werden. Heutzutage vermeidet jeder, wo es nur geht, Steuern zu zahlen. Das wird in Zukunft, wenn jeder alles über jeden weiss, einfach nicht mehr möglich sein.

Das sind schlechte Nachrichten für die Wohlhabenden.
Die Reichen werden immer noch reich sein, aber nicht mehr in dem Masse wie heute.

Viele Wohlhabende sorgen vor - manche bauen sich Bunker, andere kaufen Ländereien in Neuseeland. Werden sie ihr Vermögen schützen können?
Wenn alle Land in Neuseeland kaufen, wird das Land dort immer teurer. Der Preis passt sich an. Ich bin aber nicht überzeugt, dass jeder Reiche in Neuseeland leben möchte. Viele leben noch immer lieber in Monte Carlo. Oder in Palm Beach.

Konkret: Wo sollen Vermögende ihr Geld derzeit anlegen? Aktien sind teuer und Anleihenkurse werden mit steigenden Zinsen fallen. Was ist noch sicher?
Sicher? Das Beste ist, breit zu diversifizieren - in Aktien und Immobilien. Anleihen dienen zur Absicherung. Zurzeit sind inflationsindexierte amerikanische Staatsanleihen, TIPS, eine kluge Wahl. Die gibt es auch für den britischen Markt. Und wenn sie gewöhnliche US-Anleihen kaufen, dann mit kurzen Laufzeiten.

Was machen Sie denn selbst?
Als junger Mensch mit viel Geld legt man unternehmerisch an. Wenn man älter wird, geht dieser unternehmerische Drang zurück. Das muss so sein.

In Europa ist die Frage noch quälender - in welcher Währung soll man anlegen? Wird der Euro überleben?
Ein Zusammenbruch ist möglich - ich gebe dem Euro aber noch fünf oder sechs Jahre.

Was könnte zum Ende des Euro führen?
Der Auslöser könnte die schwindende Kreditqualität eines grösseren Mitgliedslandes sein. Griechenland war zu unbedeutend respektive die Höhe seiner Staatsschulden zu klein. Hier bestand keine Notwendigkeit, das Land rauszuwerfen. Bei Italien wäre das anders. Und nicht zu vergessen - ohne einen zentralisierten, fiskalischen Ansatz kann die EU nicht einheitlich die Steuern erhöhen oder senken. Das lässt Arbitrage zu - ein anderes grosses Problem.

War es eine weise Entscheidung der Schweiz, beim Euro nicht mitzumachen?
Ja, für die Schweiz schon. Die Schweiz hat sich sehr geschickt positioniert. Dem Land geht es sehr gut. Sie ist eine Oase in der Mitte von einer Menge Problemen - leider gibt keine weitere Schweiz in ganz Europa.

Aber dann ging der Franken durch die Decke.
Und die Schweiz hat das ausgestanden. Klar gab es im Franken Verzerrungen, aber er hat überlebt. Das bleibt wohl noch lange so: Jeder isst gerne Schweizer Schokolade - und Schweizer Uhren werden wohl noch lange produziert. Die Schweiz ist indes kein so gutes Beispiel, um den Zustand zu begreifen, in dem sich das restliche Europa befindet.

Ihr Spitzname ist Doctor Doom - Sie haben eine recht negative Sicht auf die Dinge.
Dieser Spitzname kam, weil ich in den siebziger Jahren so vehement vor einem strukturellen Wandel in den USA warnte - die Inflation musste gezügelt werden. Meine Ängste sassen tief wegen der Geschehnisse, die ich in Deutschland in der Weimarer Republik mitgemacht hatte. In Deutschland führte Hyperinflation zu einem dramatischen Wandel in der Politik. Grosse Veränderungen im Finanzwesen gefährden nicht nur die Volkswirtschaft, sondern auch die soziale Ordnung.

* Henry Kaufman hat mit seinen nüchternen, präzisen Kommentaren die Märkte und die Geldpolitik des Fed in den 1970er und 1980er Jahren geprägt. Kaufman gilt als erster Notenbankwatcher. Den Spitznamen «Doctor Doom» erhielt er, weil er vehement vor einer Inflation warnte - und Notenbankchef Paul Volcker überzeugte, die Zinsen ohne Rücksicht anzuheben. In der Nähe von Frankfurt am Main geboren, kam Kaufman auf der Flucht vor dem Holocaust als Zehnjähriger nach New York. Zunächst arbeitete er in einer klassischen Bank, dann für die Federal Reserve Bank und wechselte schliesslich zur legendären Investment Bank Salomon Brothers.