Der Verkauf von Malbüchern boomt und Stifte-Hersteller auf der ganzen Welt wie der deutsche Produzent Stabilo Schwan berichten von einem zweistelligen Umsatzplus im vergangenen Jahr; Staedler verzeichnete 14 Prozent mehr Umsatz.
Und auch in den Produktionsstätten der Schweizer Traditions-Stifte Manufaktur Caran d’Ache in Thônex GE ist der Malbuch trend zu spüren: «Mit der steigenden Nachfrage nach Buntstiften haben wir die Produktionsschichten ver längert und einige Produktionsanlagen in unserer Ma nufaktur in Genf erneuert», sagt Carole Hübscher, Verwaltungsratspräsidentin von Caran d’Ache. «Im letzten Geschäftsjahr wurde ein Wachstum verzeichnet.»
Manager sollen malen
Jetzt haben die Malbuchverlage eine Zielgruppe ins Visier genommen, die man eigentlich nicht mit Malen mit Buntstiften assoziiert: Manager und Führungskräfte. Durch das Ausmalen eines Büchleins mit Bürosujets soll ihre Konzentration steigern, ihren Stress reduzieren und ihre Kreativität ankurbeln.
«In einer immer hektischer werdenden Welt suchen Menschen nach ruhigen, besinnlichen Aktivitäten», weiss Urs Hartmann, Therapeut und Leiter des Instituts für Humanistische Kunsttherapie (IHK) in Zürich. «Der vermeintliche Zwang, immer erreichbar zu sein, setzt heute viele Menschen permanentem Druck aus.» Herzrasen, ein flaues Gefühl im Magen und Schlafstörungen durch ständiges Grübeln seien typische Stress-Symptome – gerade bei Managern. «Bei Personen in Führungspositionen sind die grosse Verantwortung und das Erledigen vieler wichtiger Aufgaben gleichzeitig zusätzliche Belastungen.»
«Malbücher lenken ab»
Umso wichtiger seien kurze Auszeiten im hektischen Büroalltag. «Malbücher lenken ab. Durch das einfache, gedankenlose Ausmalen ist man ganz bei sich», erklärt Hartmann. Der Unterschied zu wahrer Kunst: «Wer ein Bild auf eine weisse Leinwand malt, kann scheitern. Wer Formen ausmalt, gibt sich dem bunten und sinnlichen Farbenspiel jenseits aller Verantwortung hin», erklärt Urs Hartmann.
«Der Kopf ist aus und man gerät in einen fast meditativen Zustand.» Damit ist Ausmalen auch für Gestresste die ideale Ablenkung und Konzentrationsübung zugleich – zudem viel leichter umzusetzen als etwa stundenlange Meditationen oder Yoga-Übungen. Immerhin braucht es nicht mehr als Stift und Papier.
Spürbarer Trend
Und das schätzen immer mehr Menschen: «Seit letztem Sommer ist der Malbuchtrend in der Schweiz so richtig spürbar», erklärt Buchhändlerin Regula Arn von der Thalia-Filiale in Bern. Besonders beliebt sind Motive, die mit der Natur zu tun haben, wie «Fantastische Tierwelt», «Mein phantastischer Ozean» und «Mein Zauberwald».
Zwar klingen die Titel wie klassische Kinderbücher. Gekauft und ausgemalt werden sie aber von Erwachsenen. Zusammen mit der Lausanner Künstlerin Julie Petter hat auch Caran d’Ache vergangenen Sommer ein eigenes Malbuch («L’Esprit des Alpes») herausgegeben. Es enthält Motive aus der Schweizer Bergwelt und Tipps zu verschiedenen Maltechniken und Farben. «Frauen zwischen 30 und 50 sind die Hauptabnehmer von Malbüchern», beobachtet Buchhändlerin Regula Arn. «Aber dabei sind auch Anzugträgerinnen.»
Vertraute Kritzelbücher gegen Stress
Und für gehetzte Manager und Managerinnen hält das Warenangebot ganz spezielle Titel parat, zum Beispiel «Der kleine Urlaub im Büro – Das Malbuch für gestresste Schreibtischtäter» oder «Malbuch für Erwachsene – Anti Stress». Ein Tipp der Buchhändlerin für Zwischendurch: «Die sogenannten Kritzelbücher, die es schon seit etlichen Jahren gibt und die mit dem Malbuchtrend eine Wiedergeburt erleben», sagt Arn, etwa «Das ultimative Kritzelbuch rund ums Büro».
«Die sollen auch super gegen Bürostress sein.» Kunsttherapeut Hartmann kann den Trend nachvollziehen: «Malbücher sind kindlich verspielt und friedlich – ich denke, das macht die Faszination aus. Beim Ausmalen taucht man in bunte Kindheitserinnerungen ab. Und hat Zeit für sich.» Diese Freizeit – und seien es nur 30 Minuten ohne Smartphone, E-Mail und immer höher werdende Papierstapel – müsse man sich gerade in stressigen Situationen nehmen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, sagt der Therapeut.
Meditation im Büro
«Für mich ist Kunst eine Insel im Alltag, eine Zeit, in der ich zu mir selbst finde», sagt auch Adrian Weber, Leiter Kunstbereich bei Caran d’Ache. «Beim Ausmalen gerät man in einen Flow. Ähnlich wie beim Joggen kann einem der Malprozess ein schönes, wohliges Gefühl geben – Raum und Zeit lösen sich auf.»
Die gestiegene Nachfrage nach Buntstiften und hochwertigen Künstlerstiften wie Pablo oder Luminance zeige «dass ein angenehmes Malgefühl und damit ein sinnliches Erlebnis für viele Hobbykünstler immer wichtiger wird», sagt Weber. Bei Kursen, die Adrian Weber rund ums Malbuchmalen leitet, merkt auch er: «Die Nachfrage steigt. Auch immer mehr Männer und gestandene Business-Frauen greifen zu Farbe und Papier.»
Akzeptierter Trend?
Manager, die im Büro zum Buntstift greifen, dürften zwar noch immer kritische Blicke auf sich ziehen. Aber auch andere Trends, die am Anfang kritisch beäugt worden sind, gelten inzwischen in Führungskräftekreisen als akzeptiert – man denke nur an den Meditations- oder den Fitness-Tracking-Trend. Nicht auszuschliessen, dass es bald en vogue ist, konzentriert vor sich hin zu malen – die Malbuchverlage jedenfalls hoffen darauf.
Aber welche Farben eignen sich denn nun, um den Stress in der Arbeitswelt zu reduzieren? Im Trend lägen zurzeit neben Pastelltönen vor allem erdige Naturfarben. «Gedämpfte Braun-, Grün- und Rottöne wirken auf viele Menschen beruhigend», meint Weber. Das sieht der Züricher Psychologe Oliver J. Kaftan, der sich mit der Forschung zur psychologischen Wirkung von Farben auseinandersetzt, anders: «Welche Farben zum Glücklichsein beitragen können, ist individuell», sagt er. «Neben vielen weiteren Faktoren ist das Zusammenspiel der Farben entscheidend.» Deshalb könne die freie Farbwahl beim Füllen von Malbüchern eine ideale Möglichkeit sein, seine ganz eigenen, individuellen Glücksfarben herauszufinden und diese dann beispielsweise auf Büro-Accessoires zu übertragen.
Denn wer sich am Arbeitsplatz wohlfühlt, reduziert Stress-Symptome. Auch ein fertig ausgemaltes Malbuchbild an der Bürowand kann der Seele guttun, denn: Kunst im Zimmer lenkt positiv ab und kann dadurch Stress und Schmerzen reduzieren. Das fand Diana Vetter, Oberärztin an der Klinik für Viszeral- und Transplantationschirurgie des Universitätsspitals Zürich im Dezember 2015 heraus.
Kein Allheilmittel
«Wunder wirkt das Ausmalen sicher nicht und man kann es nicht einfach jedem von Hektik geplagten Manager wie ein Medikament verschreiben», sagt Kunsttherapeut Urs Hartmann. «Aber wer gerne malt, findet in diesem Hobby gute Entspannung – und sei es nur in der Mittagspause.» Wer mit Stiften, Pinseln, Formen und Farben nichts anfangen kann, sei mit einer Jogging-Runde durch den Park oder einem guten Roman besser beraten.
«Einfach tun, was man gerne tut», erklärt der Therapeut. Was man sicher sagen kann: «Stress hemmt die Kreativität», so Hartmann. «Eine so einfache Beschäftigung wie das Ausmalen holt uns runter, gibt uns Ruhe, und die kreativen Ideen können wieder fliessen.» Und wer entspannter ist, kann gelassener das nächste Meeting ansteuern und mit guten Vorschlägen glänzen.