Das Ritual findet jeden November im Dachgeschoss statt. Die 35 Mitarbeiter der Metron Verkehrsplanung AG in Brugg versammeln sich im Sitzungszimmer um einen Tisch und dann werden die Karten offengelegt. Egal ob Chef oder Sachbearbeiter, alle reden über ihr Gehalt für das kommende Jahr.

Die Diskussion kennt keine Tabus. Sie dreht sich nicht nur um die Art der Entlöhnung, sondern um jedes einzelne Salär. Die Mitarbeiter bekommen die Gehaltsvorschläge vor der Sitzung ausgeteilt. Nachher gehen die Ergebnisse an den Verwaltungsrat, der sie genehmigt oder abändert. Anschliessend werden die Löhne im Intranet publiziert.

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Metron gehört in der Schweiz zu den Ausnahmen. Eine solch radikale Offenlegung bei der Entlöhnung ist ungewöhnlich. Lohntransparenz gilt in weiten Teilen der Wirtschaft immer noch als Tabu. Seit 2007 sind börsennotierte Firmen zwar verpflichtet, neben den Einkommen der Verwaltungsräte auch die der Geschäftsführung in der Summe und die des Höchstverdienenden offenzulegen. Aber zu den Fakten in den unteren Hierarchiestufen herrscht meist Schweigen. Laut dem HR-Barometer der Uni/ETH Zürich haben 49 Prozent aller Befragten kaum Kenntnis über die Löhne in ihren Unternehmen. Experten streiten seit Jahren darüber, ob dies gut ist für eine Firma.

Gehälter nicht einfach vergleichbar

«Lohntransparenz ist eine Frage der Kultur und die sollte jedem Unternehmen selbst überlassen werden», sagt Thomas Daum, Direktor des Arbeitgeberverbandes. Beim Salär sei entscheidend, inwiefern es als Persönlichkeitsfrage aufgefasst werde. In angelsächsischen Ländern hätten Menschen weniger Probleme, über ihr Einkommen zu reden. In der Schweiz erscheine dies vielen jedoch unangebracht. Die meisten Unternehmen, insbesondere die grösseren, hätten ein ausgearbeitetes und für alle Mitarbeiter transparent kommuniziertes Lohnsystem, meint Daum. Auf individueller Ebene veröffentliche aber kaum eines die Gehälter.

«Über das Salär wird in der Schweiz etwa so offen gesprochen wie über das Bankgeheimnis», sagt Remo Schmid, Partner bei PricewaterhouseCoopers und Leiter des Bereichs Vergütungsberatung in der Romandie. «Diskretion geht bei uns tief.» Doch weist der Vergütungsexperte die Idee nicht vom Tisch. «Wenn ein Unternehmen sich den Anspruch gesetzt hat fair zu vergüten, sollte ihm eigentlich nichts im Wege stehen, alle Löhne transparent zu machen», meint er.

Gehälter seien jedoch nicht einfach vergleichbar, betont Schmid. Oft liege der Unterschied im Detail. So entspricht der tatsächlich ausbezahlte Lohn zum Beispiel nicht immer dem ausgewiesenen. Gerade Manager erhalten einen Grossteil ihrer Vergütung in Form von langfristigen Beteiligungsprogrammen. Da diese keinen sicheren Wert hätten, liessen sich die Nennwerte der Gehälter kaum für bare Münze nehmen. Salärsysteme seien schnell einmal zu komplex und schwierige Diskussionen seien programmiert. «Aufgefangen werden können solche Debatten nur durch eine sehr offene Kommunikation. Seine Stakeholder nur zu informieren, reicht nicht aus», meint Schmid. Ob das jedoch zur Kultur eines jeden Unternehmens passe, sei fraglich.

Erich Kaser, Leiter Human Resources bei der Schweizer Mobiliar, sieht noch ein ganz anderes Problem. Er fürchtet eine mangelnde Leistungskultur, die sich negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens auswirken könne. «Eine komplette Lohntransparenz nivelliert die Löhne nach unten», sagt Kaser. Mit niedrigen Lohnspannen könne ein Unternehmen aber nicht handeln. Man schrecke Leistungsträger ab. «Sie sind demotiviert, wenn sie keine interessanten Vergütungsaussichten haben», sagt er.

Überdies kann sich Kaser nicht vorstellen, dass die meisten Mitarbeiter begeistert wären, ihr Jahressalär im Geschäftsbericht zu lesen. «Ein Arbeitsvertrag ist eine individuelle Vereinbarung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber», sagt er. Man würde ja auch nicht den Gesundheitszustand oder die Diplome seiner Mitarbeiter publizieren.

Den Neid eingrenzen

Bei Metron klingt das anders. «Klar vergleicht man da», sagt Peter Marti, Verkehrsökonom und Mitglied des Verwaltungsrats. Der 65-Jährige kam vor 21 Jahren ins Unternehmen. An seinem vorherigen Arbeitsplatz war keine Rede von derartiger Gehaltstransparenz. Das System bei Metron fand Marti jedoch von Anfang an richtig. «Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, woher jeder Franken kommt und wohin er geht», sagt Marti.

Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Roswitha Kick, Personalleiterin bei der Alternativen Bank Schweiz (ABS). Das Unternehmen praktiziert individuelle Lohntransparenz seit 1990. «Die Arbeitszufriedenheit ist hoch, wenn der Mitarbeitende nicht nur denkt, dass sein Gehalt fair zustande kommt, sondern es auch schwarz auf weiss nachzuvollziehen ist», sagt sie.

Jeden März werden die kompletten Lohnlisten im Intranet der ABS veröffentlicht. Alle 79 Mitarbeitenden können dort nachschauen, wie viel der Kollege verdient oder ihre Vorgesetzten. Debatten gebe es dabei durchaus, erzählt Kick. Allerdings sei der Neid bei der ABS eingegrenzt. Hier verdiene der Geschäftsführer nur dreieinhalb Mal so viel wie die Mitarbeiterin, die im Zahlungsverkehr arbeite. «Wir empfinden es so als richtig», sagt Kick.

Auch Kick betont, dass individuelle Lohntransparenz eine Kulturfrage sei. Mit dem Thema Geld umzugehen, bedürfe einer gewissen Reife. Schwierig werde es, wenn jemand seinen Wert nicht von seinem Gehalt trennen könne. Eine zentrale Herausforderung – die der internen Vergleichbarkeit der Löhne – habe das spezielle Analysetool «Abakaba» weitgehend gemeistert; die ABS hat es 2002 eingeführt. Mit Abakaba werden Anforderungen und Belastungen bei sämtlichen Funktionen systematisch beurteilt und danach das Salär berechnet. Vor der Einführung habe es wesentlich mehr Debatten über die Höhe der einzelnen Gehälter gegeben, sagt Kick.

Dass solche Debatten nicht ganz einfach sind, weiss Marti von Metron. 5 bis 10 Prozent der Saläre passe die Geschäftsleitung nach den Diskussionen an. Für einen Arbeitgeber sei individuelle Lohntransparenz aber nicht nur wegen des Aufwands in der Regel unerwünscht. «Der Arbeitgeber kann bei Gehaltsverhandlungen nur profitieren, wenn die Angestellten nicht genau wissen, was sie verlangen können.»