Globales Finanzbeben? Schwarzer Sonntag? In den Bergen war doch gerade noch alles rosa. Die Schweizer und der Rest der Welt, das lief gefühlt wie eine nette Fernbeziehung mit gutem Geschäftsverkehr. Das Modell Alleingang funktionierte zuverlässig. Draussen tobten die Krisen, drinnen höchstens die Kinder. Die Eidgenossen bauten Bunker im Boden und manche in den Köpfen, kannten aber den Ernstfall nur aus Übungen.
Sie hielten sich überall raus und wurden herausgehalten. Sie machten ihre eigenen Regeln, fühlten sich unabhängig und galten als verlässliche Buchhalter. Ausländische Investoren liebten sie dafür. Das Böse schwappte selten über die Landesgrenze, höchstens in Gestalt eines österreichischen Skirennfahrers, der schneller war als man selber.
Immun gegen Krisen – das war einmal
Mancher glaubte sich bereits in einem goldenen Raumschiff, das über der Problemwelt der anderen schwebt. Immun gegen Krisen, auf niemanden angewiesen, der Reichtum beinahe gottgegeben. Jahrzehntelang ging das gut. Dann fiel die Mauer, und keiner brauchte mehr eine Insel im Kalten Krieg. Dann fiel Lehman Brothers, und die klammen Staaten forderten das Ende der Steueroase. Dann fiel der Euro, und die Flucht in den Franken zwang die Schweizer in den Währungskrieg – bis zur Kapitulation am Donnerstag vergangener Woche.
Seither jagen Schockwellen durch die Firmenbilanzen, vom Zürcher Paradeplatz bis nach Polen. Der Mindestkurs von 1,20 Franken für den kranken Euro gilt nicht mehr. Die Schweizer kappten hastig die Kopplung an den Euro, die eine Exporthilfe für die Wirtschaft war. Das war weder falsch noch überraschend, sondern das schmerzhafte Ende der Illusion, stark genug für globale Verwerfungen zu sein. Es ist die Folge eines Gemenges aus einer Billionenbombe eines verzweifelten Italieners, eines Bonsaistaates – und eines Mannes, der manches sehr früh ahnte.
Was Thomas Jordan 1994 schon wusste
1994 gibt ein eher hölzern wirkender und als pedantisch bekannter Volkswirt an der Universität seine Doktorarbeit ab. Es geht um die Europäische Währungsunion. Das Werk liest sich wie eine Momentaufnahme des laufenden Euro-Dramas. Der Autor Thomas Jordan glaubt nicht an das Regelwerk einer Währungsunion.
So könne ein Land versuchen, «seine effektive Situation zu vertuschen und so trotzdem die Bedingungen für die Aufnahme zu erfüllen». Die Zahlungsunfähigkeit eines Staates könne «zu einer Banken- und Finanzkrise führen«, schreibt er. Es gebe eh nur vier geeignete Kandidaten wie zum Beispiel Deutschland. Mehr als zwanzig Jahre später ist Jordans Albtraum wahr geworden. Ausgerechnet er sitzt nun auf dem Chefsessel der Schweizerischen Nationalbank (SNB) und muss die Reissleine ziehen.
Mario Draghis Verzweiflung
«Die gegenwärtig massive Überbewertung des Schweizer Frankens stellt eine akute Bedrohung für die Schweizer Wirtschaft dar», lautete am 6. September 2011 die Begründung für die Einführung des Mindestkurses. Man sei bereit, «unbeschränkt Devisen zu kaufen». Die Bedrohung ist geblieben, der Plan gescheitert, spätestens am vergangenen Mittwoch.
Da segnete der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs den Plan von EZB-Chef Mario Draghi ab, für bis zu eine Billion Euro Anleihen aufzukaufen. Damit war die Bombe scharf – und SNB-Chef Jordan wusste, dass die Euro-Krise noch heftiger toben wird, Anleger noch intensiver in den Franken flüchten werden. Jordan wollte nicht der Kollateralschaden von Draghis Verzweiflung sein. Er wollte nicht auf einem noch grösseren Euro-Berg mit zweifelhaftem Wert sitzen müssen.
Schweiz kann sich nicht abschirmen
Aber mit dem Ende des Mindestkurses siegt nicht die Unabhängigkeit. Die Schweiz muss schlicht einmal mehr den Glauben aufgeben, sich so wie einst gegen die Realitäten von jenseits der Grenze abschirmen zu können. Die Welt gerät ein bisschen aus den Fugen, und die Schweiz nun mit ihr. Das hat Folgen – nicht morgen, aber schleichend. Viele Privatbanken sind nur noch Zombies oder schon zu. Den Hoteliers fehlen die Russen und jetzt auch die Europäer. Der Frankenschock vertreibt die Industrieunternehmen aus dem Alpenparadies. Die Konsumenten kaufen eh im Ausland. Investoren sind noch verunsicherter.
Die Stärke des Frankens täuscht über das Fehlen eines Zukunftsmodells hinweg, das Erzrivalen wie Singapur längst besitzen. Ein Zurück in die glanzvollen Zeiten der Isolation gibt es nicht, obwohl sich das viele wünschen. Euro-Beitritt? EU-Beitritt? Beides bleibt undenkbar. Die Schweiz wird nicht untergehen – aber ohne neue Ansätze unberechenbarer und verletzlicher.
Dieser Meinungsartikel erschien unter dem Titel «Frankenschock: Das Ende der Schweiz als Zukunftsmodell» zuerst in unserer Schwester-Publikation, der «Welt am Sonntag». Beat Balzli ist stellvertretender Chefredaktor dieser Wochenpublikation. Zuvor war der Schweizer von 2010 bis 2013 Chefredaktor der «Handelszeitung».
Auf Balzlis Kommentar antwortete «Weltwoche»-Chefredaktor Roger Köppel. Sein Beitrag wurde unter dem Titel «Ihr habt von der Schweiz null Ahnung!» ebenfalls in der «Welt» veröffentlicht.