Weltweit notieren die Börsen auf immer neuen Rekordständen – gleichzeitig wächst die Angst vieler Menschen vor einer neuen, womöglich noch viel schwereren Wirtschaftskrise. Der Unmut gegen das globale Finanzsystem ist heute womöglich gross wie nie. Der renommierte britische Ökonom Ian Goldin kann das oft vage formulierte Unbehagen nachvollziehen und sagt im Gespräch mit handelszeitung.ch: «Die Globalisierung ist die stärkste progressive Kraft, die die Menschheit je gesehen hat.»
Dass die Weltwirtschaft in den vergangenen Dekaden kräftig zugelegt hat und Entwicklungsländer wie China aus dem Strudel der Armut gefunden haben, seien Zeichen dieser positiven Zugkraft. «Es gibt aber auch Faktoren, die im höchsten Masse destabilisierend wirken», sagt er. «Die Finanzkrise ist charakteristisch für die neue Form von systemischen Risiken, die sich aus einer globalisierten Welt ergeben.»
Goldin – einer der renommiertesten Globalisierungsexperten
Der in Südafrika geborene Ian Goldin ist einer der renommiertesten Globalisierungs- und Entwicklungsexperten der Welt. Als Professor und Direktor arbeitet er an der renommierten Universität von Oxford. Während vier Jahren war er Vize-Präsident der Weltbank, davor amtete er als Chefökonom der europäischen Entwicklungsbank, leitete das OECD-Büro in Paris und diente der Polit-Ikone Nelson Mandela als ökonomischer Berater.
Das Wort des Südafrikaners hat Gewicht – und er sagt: «Die Globalisierung hat das Potenzial, unsere Gesellschaft zu destabilisieren.» Globalisierung versteht Goldin als wirtschaftliche, soziale und politische Vernetzung. Diese neue Weltordnung führe dazu, dass sich lokale Unstimmigkeiten plötzlich zu einem globalen Wirbelsturm entwickelten – nicht nur im Finanzbereich, sondern in jedem erdenklichen globalen System.
Entsprechend heisst sein neustes Buch «The Butterfly Defect» – eine Anspielung auf den amerikanischen Meteorologen und Mathematiker Edward Lorenz, der 1972 den «Butterfly Effect» beschrieben hat.
Die Welt ist ein vernetztes Dorf
«Globale Krisen sind Teil der neuen Ordnung – und sie sind unvermeidlich», sagt Goldin. Das grundsätzliche Problem unserer Zeit liege darin, dass sich die Welt zu einem vernetzten Dorf entwickelt habe. Gleichzeitig bleibe die Regulierung in der Kompetenz von nationalen Institutionen. Ausserdem ändere sich das technologische Umfeld so schnell, dass politische und juristische Regelwerke damit nicht Schritt halten könnten.
Von einer «Krisen-Kaskade» will er indes nichts wissen. «Ich gehe nicht davon aus, dass wir eine Aneinanderreihung von Krisen sehen werden. Auch die Finanzkrise hätte verhindert werden können», sagt er. Es sei schon früh klar gewesen, dass der Interbankenmarkt einfrieren und zu massiven Liquiditätsengpässen kommen würde, sollte die Investmentbank Lehman Brothers in die Pleite rutschen. «Die Menschen waren ganz einfach blind, sie haben die Dynamik nicht verstanden.»
Steuerarbitrage dank Globalisierung
Seither habe sich viel getan, sagt der Ökonom – sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene. Sind globale Regulierungen also die Lösung für das Problem? «Ich wünschte, dem wäre so», meint Goldin. «Ich bin aber eher der Meinung, dass die Vorstellung einer globalen Regulierung Teil des Problems ist.» Es sei «idealistisch» zu glauben, dass sich alle Regierungen an einen Tisch setzen und ein allgemein gültiges Regelwerk ausarbeiten könnten. Das sei nicht einmal notwendig: «Je nach Problem ist es ausreichend, wenn einige wenige Regierungen gemeinsam eine Lösung finden.»
Goldin spricht wieder die Finanzkrise an: «Ein halbes Dutzend Länder sind verantwortlich für den Löwenanteil der weltweiten Finanzflüsse», sagt der Vordenker. Es gibt keinen Grund, dass 200 Staatsdelegationen miteinander über gemeinsame Regeln diskutierten. Ähnlich verhalte es sich beim Klimaschutz: «90 Prozent der CO2-Emissionen stammen von einigen wenigen Staaten.»
Ungleichheit als Gefahr für politische Systeme
Aber was ist mit dem Einwand, dass globale Firmen mobil sind, ihren Sitz, ihre Produktion, ihre Aktivitäten rasch verlegen und so die Schlupflöcher einer nicht flächendeckenden Regulierung ausnutzen können? Dieser Einwand ist teilweise berechtigt, sagt Goldin, und bringt ein Beispiel: «Eine ungewollte Konsequenz der Globalisierung ist das Aufkommen von internationaler Steuerarbitrage. Unternehmen weisen ihren Profit in Ländern aus, wo die Gewinnsteuern tief sind.»
Steuerarbitrage werde es künftig aber schwer haben, ist er überzeugt. Rechenkünstler wie Google, Amazon und Starbucks wehe bereits seit längerem ein rauher Wind entgegen, nicht nur von Regierungen, die um die Steuereinnahmen fürchteten, sondern auch von der Gesellschaft. «Es ist wichtig, dass die Gesellschaft sich dazu in der Lage fühlt, Unternehmen effektiv zu besteuern», sagt er. Sonst wachse ein Gefühl der Ungleichheit. Und Ungleichheit komme laut Goldin einem Krebsgeschwür gleich, welches das Überleben eines politischen Systems bedrohe.
«Handelsprotektionismus, Nationalismus, Fremdenhass»
Die Auswüchse des Geschwürs zeigen sich in Europa und den USA, so Goldin. «Weil wir die negativen Aspekte der Globalisierung nicht im Griff haben, sehen wir ein Wideraufflammen von Handelsprotektionismus, Nationalismus und Fremdenhass.» Diese Tendenzen seien besorgniserregend, denn sie stünden am Anfang einer Abwärtsspirale, sagt er. «Um politisch, kulturell und wirtschaftlich erfolgreich zu sein, braucht es Vielfalt. Eine Gesellschaft muss offen sein für neue Ideen und neue Personen.»