2023 liegt hinter uns und wird abgelöst von einem herausfordernden 2024. Das abgelaufene Jahr war unter dem Strich kein gutes Jahr für die Welt. Das liegt zum einen am fortgesetzten Krieg in der Ukraine nach Russlands Invasion. Ein Ende des Leidens ist so wenig in Sicht wie schon ein Jahr zuvor. Dazugekommen sind die Kämpfe in Israel. Nachdem Hamas-Terroristen bei einem Angriff mehr als tausend zumeist friedliche israelische Bürgerinnen und Bürger auf grausame Weise abgeschlachtet haben, herrscht jetzt im Gazastreifen als Folge davon ein brutaler Krieg mit einer Unzahl auch an zivilen Opfern.
Für nächstes Jahr kann nach aktuellem Stand der Dinge ebenso wenig mit einem baldigen Ende des Blutvergiessens gerechnet werden. Wie der Beschuss von Handelsschiffen im Roten Meer durch Huthi-Rebellen in diesen Tagen deutlich macht, ist auch das Risiko einer Ausweitung des Krieges in Gaza auf weitere Länder nicht gebannt. Ebenfalls besteht die Gefahr einer Ausweitung des Invasionskriegs von Russland in der Ukraine weiter.
Die geopolitischen Spannungen zwischen sich zunehmend feindlich gegenüberstehenden Blöcken dürften auch sonst nicht abnehmen – das Gegenteil ist wahrscheinlicher. Für Spannung – in jedem Sinn des Wortes – könnten zudem entscheidende Wahlen im nächsten Jahr sorgen: Das beginnt im Januar mit jenen in Taiwan, das von China beansprucht wird und solche Wahlen an sich schon für eine Provokation hält. Eine siegende Partei, die sich gegen das kommunistische Regime richtet, würde der kommunistische Staatschef Xi Jinping als feindlichen Akt interpretieren.
Die US-Wahlen sind das Kernereignis 2024
Keine Wahl wird aber so viel Bedeutung für die Welt haben wie jene des US-Präsidenten im November. Geschieht nicht noch ein Wunder, dürfte Donald Trump als Sieger hervorgehen. Die zunehmenden juristischen Hürden, denen er gegenübersteht, dürften ihm politisch kaum schaden. Nie hat Trump einen Hehl daraus gemacht, dass er nichts von einer fairen internationalen Zusammenarbeit hält und von gültigen Regeln für alle. Für die kleine Schweiz mit ihrer einzigartigen wirtschaftlichen Offenheit und internationalen Vernetztheit wäre seine Wahl deshalb besonders schädlich.
Aber auch darüber hinaus wäre ein solcher noch weitergehender Abschied von der Weltverantwortung durch die USA verheerend und gefährlich. Bei aller möglichen Kritik war es doch die Supermacht USA, die seit dem Zweiten Weltkrieg für das demokratische, marktwirtschaftliche Weltsystem stand und es verteidigte. Leider hat auch Joe Biden diese Verantwortung nicht mehr wahrgenommen. Aber Trump ist gefährdender, weil er von demokratischen Institutionen selbst im eigenen Land nichts hält und international die Nähe zu Diktatoren sucht. Mit seiner Wahl hätte auch das Ideal von demokratischen Ordnungen international einen noch schwereren Stand als schon bisher.
Und was ist mit Europa? Der alte Kontinent ist zu schwach und zu abhängig von den USA, um eine eigene internationale Führungsrolle zu übernehmen. Militärisch hat sich die Ohnmacht Europas beim Ukraine-Krieg gezeigt; nur die Amerikaner waren in der Lage, Russland ein glaubwürdiges Drohpotenzial bei Übergriffen auf weitere Länder entgegenzustellen. Auch politisch ist es nie gelungen, die EU zu einem nachhaltig geeinten Block zu formen, und wirtschaftlich hinken die Europäer den Amerikanern ebenfalls deutlich hinterher. Deutschland, die führende Wirtschaftsmacht der EU, befindet sich in einer Dauerkrise, aus der das Land bisher keinen Ausweg findet.
Der neue Europa-Anlauf als Zeichen der Hoffnung
Das ist für die Schweiz schon deshalb schlecht, weil Europa noch immer der mit Abstand dominierende Handelspartner ist und sich den Entwicklungen dort nicht entziehen kann. Import- und Exportzahlen sowie die konjunkturelle Abhängigkeit erfassen aber nur ungenügend, wie eng die wirtschaftlichen Vernetzungen allein zwischen Deutschland und der Schweiz insgesamt sind.
Es gibt daher keine Alternative zu einem Verhältnis mit der EU, das auf einem stabilen Fundament fusst. Seit dem Scheitern des Rahmenvertrags im Jahr 2021 fehlt ein solches schmerzlich. Es macht immerhin Hoffnung, dass jetzt ein neuer Anlauf genommen wurde. Der Fortgang dieser Verhandlungen und ihr Ergebnis gehören aus Schweizer Sicht mit zu den wichtigsten Ereignissen im neuen Jahr.
Ein erfolgreicher Abschluss ist nur möglich, wenn es gelingt, einen pragmatischen Mittelweg zu finden, mit dem alle Seiten leben können, auch wenn sie nicht jeder Punkt vollauf befriedigen wird. Selbstverständlich gilt es, die Kerninstitutionen jeder Seite zu wahren, wie etwa die direktdemokratische Selbstbestimmung in der Schweiz. Doch diese Selbstbestimmung war noch nie absolut und kann das auch nicht sein. Immer hatte sie auch gesetzlich verankerte Grenzen, wenn es um Grundrechte geht oder eben um Landesinteressen.
Der Wert von Kompromissen, Mittelwegen und Gratwanderungen
Pragmatische Mittelwege erfordern Kompromisse zwischen allen Interessensgruppen. Solche Mittelwege oder sogar Gratwanderungen braucht es 2024 erneut auch in anderen konfliktbeladenen Bereichen: etwa im Bereich der Neutralität oder der Zuwanderung. Die Neutralität zu bewahren, hat grosse Bedeutung, aber auch sie galt noch nie absolut, und das sollte weiterhin so bleiben. Auf die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte sind wir einerseits wirtschaftlich angewiesen, doch sie ist ebenfalls mit steigenden sozialen und gesamtwirtschaftlichen Kosten verbunden. Die Politik sollte beides im Auge behalten.
Im persönlichen Bereich und im Arbeitsleben vieler dürfte die technologische Entwicklung im neuen Jahr spürbarer werden. Wer je mit Anwendungen der künstlichen Intelligenz gearbeitet hat, weiss, welch grosses Potenzial hier schlummert und dass dieses Potenzial schneller umgesetzt werden kann als bisherige Technologien.
Das schafft für uns alle neue Möglichkeiten und kann uns als Gesellschaft in vielerlei Hinsicht helfen und weiterbringen. Neue Technologien brauchen wir allein schon, um den Klimawandel zu bewältigen. Gleichzeitig weckt die künstliche Intelligenz zu Recht auch Ängste vor der Entwertung von Erlerntem, von Berufen und vor dem Verlust von Jobs bis hin zur Sorge aufgrund verschiedener Entwicklungen, die zu einer Gefahr für die Menschheit werden können.
Neue und unerwartete Wege können alles besser machen
Auch wenn der Ausblick aufs neue Jahr nach einem schwierigen 2023 insgesamt wenig berauschend ist, zeigt die Erfahrung doch, dass es plötzlich besser kommen kann, dass sich Möglichkeiten auftun, die niemand erwartet hätte. Das wünsche ich uns allen – und Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, nur das Beste für das kommende Jahr.
Unser Team von der «Handelszeitung» wird Sie auch durch das nächste Jahr mit allen relevanten Informationen, Hintergründen, Einschätzungen und Analysen begleiten, die Ihnen das Verständnis für entscheidende Vorgänge erleichtern. Wie immer tun wir das aus dem Blickwinkel der Schweizer Wirtschaft.
Vorerst aber wünsche ich Ihnen und Ihren Familien einen prächtigen Rutsch ins neue Jahr!
Markus Diem Meier
Chefredaktor