Nichts, aber auch gar nichts weist hier in diesem Wohnquartier ausserhalb von Baar ZG auf Bahnbrechendes hin. Es ist morgens um 10 Uhr, ruhig, und am einzigen Briefkasten vor diesem grauen Wohnblock steht: Ethereum Switzerland GmbH. Nach dem Klingeln verstreicht eine knappe Minute. Dann, leicht schlaftrunken, öffnet eine junge Frau die Tür. Sie sagt, sie sei bei Ethereum hier am Hauptsitz zuständig für die Administration. Und ja, es gehe hier um Kryptowährungen.
Seit Monaten kommt Bitcoin, die bekannteste digitale, von jeder Nationalbank unabhängige Währung, nicht aus den Schlagzeilen. Zuerst verhundertfachte sich der Wert innerhalb eines Jahres, dann folgten Betrugsdelikte und Schlampereien bei Wechselbörsen mit Verlusten in der Höhe von Hunderten von Millionen Franken. Gleichzeitig melden sich inzwischen täglich Unternehmen, welche die neue Währung akzeptieren. Das Kafi Schoffel in Zürich, die Warenhauskette Monoprix in Frankreich. Fonds stellen Millionen für Investitionen bereit. Steuerbehörden, Währungshüter von Island bis Kanada und Banken wie die UBS schreiben seitenweise Berichte, was sie davon halten. Aufbruch, Furcht, Veränderung, bloss eine Blase vielleicht. Klar ist einzig: Etwas Neues ist in die Welt getreten.
Der Überflieger
Ethereum in Baar ist das nicht genug. Die Macher des Start-up entwickeln gerade ein Konzept, das dieses neue Phänomen bereits wieder alt aussehen lassen könnte. So wie erst Social Media und die globale Interaktion dem Internet jene Kraft gaben, über die es heute verfügt. Und Ethereum, dieser Zusammenschluss von kanadischen, amerikanischen, rumänischen und aus weiteren Ländern stammenden Visionären und Programmierern, hat die Schweiz als Standort für ihren Hauptsitz ausgewählt.
Der frei stehende Wohnblock ist in zwei Zonen unterteilt. In den unteren Stockwerken sind die Schlafräume untergebracht, oben ein grosser Arbeitsraum mit offener Küche. Laptops stehen herum, auf einer Herdplatte brutzelt Speck, die Fenster sind vollgekritzelt mit Formeln und Organigrammen. Das Gebäude ist Wohngemeinschaft, Arbeitsort und Gasthaus in einem. Nur acht Leute sind an diesem Morgen anwesend. «Viele präsentieren Ethereum gerade in den USA und in Kanada auf Konferenzen», erklärt die für die Administration zuständige Roxana Sureanu. Alle wollten dort mehr über das Projekt erfahren.
Auf Reisen ist auch Vitalik Buterin, der 20-jährige Kopf des Ganzen. In der Branche gilt der Studienabbrecher als Überflieger, als einer, der zu Visionen fähig ist. «Ich hatte keine Wahl», sagt Buterin über seinen Einstieg in die Krypto-Welt. Es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen. «Was hier entsteht, ist wirklich revolutionär, vielleicht für die ganze Welt», sagt Mihai Alisie, einer der acht Gründer von Ethereum und seit drei Jahren Weggefährte von Buterin. Was sie verbindet, ist ihre Skepsis gegenüber Zentral-Instanzen mit ihrer Ineffizienz und gleichzeitiger Machtkonzentration. Was sie gemeinsam vorantreibt, ist der Wunsch, die Menschen zu ermächtigen, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu können.
Die Blockchain
Soweit der ideologische Überbau. Um zu verstehen, was Ethereum konkret will, muss man wissen, wie Bitcoin funktioniert. Bitcoins werden sinnbildlich über das Internet verschoben, von einem Konto auf ein anderes. Zwei Eigenschaften sind entscheidend - erstens: Jede Transaktion wird in so etwas Ähnlichem wie einem grossen digitalen Buch auf alle Zeiten unveränderlich festgehalten, in der sogenannten Blockchain. Sie ist öffentlich, jeder kann jede Transaktion nachvollziehen. Man weiss einzig nicht, wem die Konten gehören. Zweitens: Die Blockchain wird anders als etwa bei traditionellen Banken nirgends zentral verwaltet, sondern in unzähligen Kopien auf unzähligen Computern dezentral gespeichert im Netzwerk, das die Benutzer erschaffen. Jeder kann Teil des sogenannten Peer-to-Peer-Netzwerks werden.
Die Blockchain-Technologie, die erst dank praktikablen Verschlüsselungsmechanismen möglich wurde, birgt in den Augen der Verfechter enorme Vorteile: Nun ist es auf einfache Weise möglich, Eigentümerschaft zwischen zwei Parteien verbindlich, aber ohne Mitwirken einer dritten Partei zu übertragen. Transaktionen werden effizienter und günstiger.
Schon vor drei Jahren realisierten die ersten Bitcoin-Pioniere, dass sich die Blockchain-Technologie nicht nur für den eigentlichen Bitcoin nutzen liess, sondern potenziell für so vieles, was zwischen Menschen verbindlich abgemacht und irgendwo festgeschrieben werden sollte. Zum Beispiel, wem welcher Domainname im Internet gehört. Dutzende kluge Köpfe begannen, eigene Blockchains zu propagieren oder die ursprüngliche Bitcoin-Blockchain für eigene Zwecke zu nutzen. Es war wie im Wilden Westen, aber mit feuchter Munition: Der grosse Coup gelang keinem. Denn die ursprüngliche Bitcoin-Blockchain war technisch gar nicht für den Multi-Themen-Einsatz angedacht.
Grenzenloses Programmieren
Das war die Stunde von Vitalik Buterin. Er schlug vor, eine Blockchain zu schaffen, auf der alles Erdenkliche festgeschrieben werden könnte. Nicht nur Währungstransaktionen, sondern auch solche von digitalen Marktplätzen, oder Cloud-Speicher-Verzeichnisse, Versicherungsabschlüsse, komplizierte Finanzderivate. Einfach alles, was sich letztlich mathematisch beschreiben lässt. Der Clou von Ethereum ist: Das Projekt stellt nicht nur eine Blockchain mit dazugehöriger Währung, dem Ether, zur Verfügung, sondern auch eine integrierte Programmiersprache. Dank dieser soll es allen Interessierten auf der Welt möglich sein, Applikationen zu kreieren, die auf der Ethereum-Blockchain laufen. Ethereum will nichts weniger sein als ein offenes Betriebssystem für alle, die dezentrale Dienstleistungen anbieten möchten. Dropbox ohne zentrale Dropbox-Server. Ebay ohne Ebay. Bankgeschäfte ohne Banken. «Die einzige Grenze ist unsere Vorstellung», schreibt Buterin.
Noch steckt Ethereum in der Projektphase, Einnahmen erzielt Ethereum keine. «Bis jetzt haben wir alles selber vorfinanziert», erzählt Alisie. Dazu gehört nur schon die Miete von 80 000 Franken für den Hauptsitz in Baar für ein Jahr, die man auf einen Schlag im Voraus bezahlte. Im Unterschied zu anderen Start-up-Unternehmen verfügen die Gründer über Geld. Sie waren früh in Bitcoin investiert und haben massiv von der Wertsteigerung profitiert.
Bald allerdings fliessen Einnahmen. Ethereum plant, seine eigene Währung Ether in einer ersten Phase gegen Bitcoin zu verkaufen. Dieser Vorverkauf soll in Kürze starten und umgerechnet möglicherweise Millionen von Franken einbringen. Das Interesse in der Branche jedenfalls ist beträchtlich. Mit den Behörden in Zug hat Ethereum die neue Form des Fundraising bereits durchgesprochen.
Kontakte nach Bern
Den Ausschlag für den Standort Schweiz habe vor allem die geringe Bürokratie gegeben. Schon nur für die Arbeitsbewilligungen, sagt Herbert Sterchi, Geschäftsführer von Ethereum. Und die dezentral organisierte Schweiz passe hervorragend zur Ethereum-Kultur. Die Gründer hatten zuvor auch andere Standorte ins Auge gefasst, sich Ende Januar aber für die Schweiz entschieden.
Inzwischen entstehen auch Kontakte zu den Behörden in Bern. Das Finanzdepartement erarbeitet derzeit mit Hilfe der Finanzaufsicht Finma und der Nationalbank einen Bericht, der die Haltung der Schweiz gegenüber Kryptowährungen klären soll. Leute aus dem Umfeld von Ethereum stehen mit ihrem Fachwissen bereit. Zu ihnen gehört etwa Johann Gevers vom in Zug angesiedelten Start-up Monetas. Die Firma entwickelt Software für ultraschnelle dezentrale globale Finanztransaktionen. «Wir sähen es gerne, wenn sich dank Rechtssicherheit in der Schweiz mehr Firmen etablieren würden, die sich um Digital Finance kümmern», sagt Gevers.
Soweit ist es noch nicht. Aber Ethereum spielt bereits mit dem Gedanken, im Wohnquartier in Baar auch das Nachbarhaus zu mieten. «Wir möchten ausbauen und suchen Schweizer Softwareentwickler», sagt Alisie. Leute, die an eine Idee glauben und vielleicht manchmal am Morgen schlaftrunken an der Tür erscheinen. Leute, für die im Arbeitsraum des Ethereum-Hauses in Baar die Tafel hängt: «Nach 2 Uhr in der Nacht bitte ruhig sein, falls andere schlafen.»