Handelszeitung Online: Herr Tognoni, Sie gelten als profunder Kenner des Weltfussballverbandes Fifa. Welche Schlüsse ziehen Sie aus den veröffentlichten Gerichtsdokumenten, welche die Schmiergeldzahlungen belegen?
Guido Tognoni: Die Fakten an sich sind nicht neu, denn sie wurden bereits von verschiedenen Journalisten in den vergangenen Jahren publiziert. Neu ist jedoch, dass die Korruption in der Fifa nun amtlich festgehalten wird und dass damit das «System Havelange/Blatter», welches 38 Jahre lang Bestand hatte, entlarvt wurde.
In der Einstellungsverfügung werden namentlich Joao Havelange, Jean-Marie Weber und Ricardo Teixeira schwer belastet. Klären Sie uns bitte über deren Rollen auf.
Jean-Marie Weber war der Verbindungsmann zwischen dem Marketing-Unternehmen ISL und der Fifa. Er hat die Korruptionsgelder verteilt und weiss somit als Einziger, wer in jener Blütephase der Sportkorruption wie viel Geld erhalten hat - wobei auch Funktionäre aus anderen Verbänden von diesem System profitierten.
Wie nahe steht der amtierende Präsident Joseph «Sepp» Blatter diesen Figuren?
Joao Havelange führte damals die Fifa als Präsident. Sepp Blatter war Generalsekretär des Verbandes und gewissermassen die rechte Hand von Havelange. Blatter wickelte die Tagesgeschäfte mit Jean-Marie Weber ab. Beides verlieh Blatter eine Machtposition. Ricardo Teixeira war damals der Schwiegersohn von Havelange und Präsident des brasilianischen Verbandes. Als die ISL bankrott ging, stellte sich bald heraus, dass Havelange und Teixeira einen sehr wesentlichen Anteil an den rund 140 Millionen Franken kassiert hatten, welche durch den Konkursverwalter als Bestechungsgelder eruiert werden konnten.
Aus den Gerichtsdokumenten geht hervor, dass Blatter von den Schmiergeldzahlungen gewusst hat. Wie reagieren Sie darauf?
Sepp Blatter gibt inzwischen selber zu, von den Korruptionszahlungen gewusst zu haben. Etwas anderes bleibt ihm aufgrund der Aktenlage gar nicht übrig.
Tatsächlich räumt Sepp Blatter in einem Interview auf der Fifa-Homepage jetzt ein, von den Korruptionszahlungen innerhalb des Weltfussballverbandes gewusst zu haben. Allerdings sieht der wohl mächtigste Fussball-Funktionär der Welt in dieser Mitwisserschaft kein moralisches Dilemma. «Worüber? Dass Provisionen gezahlt wurden? Damals konnte man solche Zahlungen als Geschäftsaufwand sogar von den Steuern abziehen. Heute wäre dies strafbar. Man kann die Vergangenheit nicht mit den Massstäben von heute messen. Sonst endet man bei der Moraljustiz. Ich kann also nicht von einem Delikt gewusst haben, welches keines war».
Herr Tognoni, was bedeutete der Umstand, dass Blatter von den Schmiergeldzahlungen innerhalb der Fifa wusste?
Indem er damals die Korruption begleitete, aber nichts dagegen unternahm, hatte er Havelange in der Hand. Deshalb konnte ihn Havelange 1994 nicht entlassen, als Blatter gegen seinen eigenen Präsidenten einen Putschversuch unternahm. Das Unterfangen scheiterte kläglich, aber Havelange musste wohl oder übel Blatter im Amt lassen.
Ist Sepp Blatter als Präsident des Weltfussballverbandes aus heutiger Sicht noch tragbar?
Ob Blatter noch als Fifa-Präsident tragbar ist, müsste die angeblich unabhängige Ethik-Kommission entscheiden. Oder allenfalls ein ausserordentlicher Fifa-Kongress. Blatter ist 76 Jahre alt. Dass er einen Aufbruch in eine saubere Fifa nicht mehr glaubwürdig vertreten kann, ist offensichtlich.
Ob der beschuldigte Joao Havelange zur Rechenschaft gezogen werden oder als Ehrenpräsident der Fifa zurücktreten soll, will Joseph Blatter im Fifa-Interview derweil nicht beantworten. «Es liegt nicht in meiner Kompetenz, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Er wurde vom Fifa-Kongress zum Ehrenpräsidenten ernannt. Nur der Kongress kann über seine Zukunft befinden».
Herr Tognoni, Blatter gehörte bereits unter dem damaligen Präsidenten Havelange zum engen Machtzirkel der Fifa. Er wusste ausserdem von der Korruption. Wie wahrscheinlich ist es, dass Blatter selbst Schmiergeldzahlungen entgegengenommen oder an Dritte überwiesen hat?
Dass Sepp Blatter auch korrupt ist, konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Es gibt in dieser Richtung Spekulationen, doch die sind bisher nicht erhärtet. Aber Blatter wusste von weiteren Unregelmässigkeiten, die andere Mitglieder des Exekutivkomitees betrafen. Auch in diesen Fällen ist er nicht eingeschritten.
Im Zuge des Skandals um die ISL und Fifa sicherte sich Joseph Blatter die Dienste des renommierten Strafrechtsprofessors Mark Pieth. Seine Aufgabe: Er sollte den Korruptionssumpf innerhalb der Fifa endlich trocken legen. Wie gut ist ihm das gelungen?
Bisher geschah ja nicht viel - und das Tempo der Reformbewegung bewegt sich nahe Null. Dies obwohl die Fifa ständig irgendwelche Meilensteine feiert. Es kann ja nicht sein, dass jene Journalisten, die sich mit den genannten Vorgängen beschäftigen, mehr wissen als jener Mann, der für die Fifa neue Führungsstrukturen erarbeiten sollte.
Also hat Pieth bislang versagt. Schliesslich wurden die von ihm vorgeschlagenen Amtszeitbeschränkungen, Altersbeschränkungen an sich oder die Salärobergrenzen immer noch nicht eingeführt.
Die Arbeit von Pieth wird von aussen sehr kritisch beobachtet. Ein neues Führungsmodell für einen Sportverband ist keine Hexerei. Das können einige Studenten an einem Drei-Tage-Seminar locker erarbeiten, aber eine neue Führung mit alten Gesichtern geht nicht mehr. An diesem Punkt wird sich Pieth messen lassen müssen. Andererseits ist Pieth in der ungemütlichen Lage, dass er einem grosszügigen Auftraggeber ehrlicherweise sagen müsste, er solle zurücktreten. Nichtsdestotrotz braucht die Fifa gar nicht so viele Reformen: Der Betrieb funktioniert einigermassen - es werden Milliarden verdient, ohne dafür besonders viel tun zu müssen. Es geht mehr um Personen als um Strukturen. Es ist zu hoffen, dass Pieth dies inzwischen gemerkt hat.
Sie sprechen von einem Interessenskonflikt. Ist es in diesem Zusammenhang nicht stossend, dass Pieth für die Fifa ein Korruptionsgutachten in Höhe von 120'000 Franken erstellt und darüber hinaus 5000 Franken an Taggeldern erhält?
Unternehmensberater und PR-Firmen kassieren ebenso viel und nützen noch weniger. Pieth kann und soll nicht gratis arbeiten, aber er muss das Tempo vorgeben und nicht die Fifa.
Trotzdem: Kann Pieth seiner Tätigkeit überhaupt nachgehen?
Wenn Mark Pieth nicht durchsetzen kann, dass er die ISL-Affäre und die Wahl Blatters zum Präsidenten 1998 ausleuchten kann, müsste er sein Mandat abgeben oder sich ausdrücklich nur noch als bezahltes Maskottchen der Fifa bezeichnen.
Mark Pieth war für «Handelszeitung Online» für eine Stellungnahme nicht erreichbar. Im Gespräch mit dem «Tages-Anzeiger» skizziert der Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Basel jedoch seine Rolle bei der Fifa. «Es ist nicht meine Aufgabe zu beurteilen, ob Blatter als Präsident noch tragbar ist». Und weiter: «Man kann über Blatter denken, was man will; Wir sind in der paradoxen Situation, dass wir den Fifa-Präsidenten für die Reformen brauchen, weil er die Person ist, welche die Sache vorantreibt». Zudem weigert sich Pieth offenbar, die Vergangenheit des Weltfussballverbandes aufzuarbeiten. «Wir sind kein Gericht. Es ist nicht meine Aufgabe, Probleme der Vergangenheit abzuklären. Ich habe nie behauptet, dass ich der grosse Aufräumer sein werde. Wir sind Geburtshelfer, um die neuen Strukturen in Kraft zu setzen».
Immerhin, Herr Tognoni: Nächste Woche wird die Ethik-Kommission in zwei Kammern aufgeteilt. Diese Aufspaltung soll die Korruption in Zukunft verhindern.
Die Fifa hat diese Trennung zwischen Anklagebehörde und richterlicher Funktion angekündigt. Aber ein solcher Schritt ist kein Grund zum Jubeln - er ist ebenso normal wie banal. Die Ethik-Kommission hätte von Beginn an so aufgestellt werden müssen.
Also wird es Korruption bei der Fifa auch in Zukunft geben?
Die Korruption im Fussball kann nicht einfach ausgerottet werden, da leider zahlreiche Mitgliedsverbände auch korrupt sind. Aber an der Fifa liegt es, abschreckende Massnahmen zu ergreifen. Solange jedoch die Fifa nicht selbst an der Spitze absolut sauber dasteht, kann sie nicht verlangen, dass der Fussball als Ganzes den Kampf gegen die Korruption und Spielmanipulationen mit Nachdruck aufnimmt.
Die Preise für Fernseh- und Vermarktungsrechte im Fussball sind nach wie vor exorbitant. Fliessen dort immer noch Schmiergeldzahlungen?
Es liegt an den Käufern, aufzudecken, wenn für die Rechtevergabe Schmiergelder bezahlt werden müssen. Die Sensibilität für solche Vorgänge ist heute gegeben – wenigstens ein gutes Ergebnis aus der unheilvollen ISL-Affäre.
Die jüngsten Erkenntnisse der Fifa-Korruptionsaffäre befeuern die Gerüchte, dass bei der Vergabe der Fussball-Weltmeisterschaften 2018 in Russland und 2022 in Katar im Vorfeld der Abstimmung Schmiergelder geflossen sind.
Wie die Fifa bis anhin funktioniert hat, sind alle Spekulationen erlaubt.
Müsste die Fifa Katar und Russland den Zuschlag für die Weltmeisterschaft nicht wieder entziehen?
Bevor über Massnahmen gesprochen werden, müssten Beweise auf den Tisch. Im Korruptionsfall ISL hat es vom Konkurs des Unternehmens bis zur amtlichen Feststellung der Korruption elf Jahre gedauert.
Die Korruptionsaffäre schadet ebenfalls der Reputation der Host-City Zürich. Sollte die Politik die Konsequenzen ziehen?
Zürichs Stadträte sollten zumindest aufhören, jedes Mal Ergebenheitserklärungen abzugeben, wenn Sepp Blatter mit dem Wegzug der Fifa droht - was ohnehin nicht ernst zu nehmen ist. Und die Stadt Zürich sollte sich bewusst sein, dass die Fifa für Zürich und die Schweiz ebenso einen Reputationsschaden verursacht, wie das Geschäftsgebaren einiger Banken. Den Banken werden ständig neue Daumenschrauben verpasst, aber die Fifa lässt man gewähren. Da besteht Nachholbedarf. Übrigens auch gegenüber anderen Sportverbänden, die in der Schweiz ihr Domizil haben.
Guido Tognoni ist ehemaliger Pressechef und Marketing-Verantwortlicher des Weltfussballverbandes Fifa.