Der Mann am Klavier spielt eine Ballade von der Sehnsucht nach Freiheit. Eine Passantin umkreist ihn mit ihrem Smartphone, sie filmt. Ihre Aufnahmen zeigen seinen hageren Körper, die sonnengegerbte Haut, das verlebte Gesicht mit schweren Tränensäcken. Schwielige Hände fliegen über die Tasten.
Der Pianist ist Donald Gould – ein Obdachloser aus Florida, Musikstudent, Veteran, abgestürzt. Das Video von ihm wurde Ende Juni auf Youtube hochgeladen, es schlug bombastisch ein. Innert zwei Wochen wurde der Film knapp elf Millionen Mal angeklickt. Parallel zum Upload startete eine Crowdfunding-Initiative, um Gould den nachträglichen Abschluss seines Musikstudiums zu finanzieren. Dank des viralen Erfolgs des Videos sind umgerechnet 40’000 Franken zusammengekommen, seine ehemalige Universität bietet dem 51-Jährigen ein Vollzeitstipendium.
Eine rührende Geschichte. Doch sie steht für die Vergangenheit des Videoportals. Lange dominierten Milliarden von bewegenden, überraschenden, niedlichen Momenten, von Laien gefilmt und mit kaum kalkulierbarer Erfolgsquote.
Merkel-Interview klickte 1,3 Millionen Mal
Längst gibt es das neue Youtube. Hier regieren Youtuber mit Millionenanhängerschaft in einer heiss begehrten Zielgruppe: Junge Erwachsene bis Mitte 20. Ihre grosse Fangemeinde verschafft den vermeintlichen Laien einen Status von fast absurder Dimension. Das zeigt ein Beispiel: Vor wenigen Tagen lud Florian Mundt alias LeFloid ein 30-Minuten-Video hoch, wesentlich länger als sonst also und ohne die üblichen rasanten Schnitte. Zu sehen ist, wie der Berliner in T-Shirt und Basketballkappe Bundeskanzlerin Angela Merkel Fragen stellt.
LeFloid als einem der grössten Youtuber Deutschlands ein exklusives Interview zu geben, war ein kluger Schachzug von Angela Merkel. Der 27 Jahre alte Psychologiestudent hat auf Youtube knapp 2,7 Millionen Abonnenten. Der Auftritt der Bundesregierung im Videonetzwerk hat 13’010. Die letzten Regierungsvideos mit Merkel wurden 500 bis gut 2000 Mal abgerufen. Das Interview von LeFloid mit der Kanzlerin – ein charmanter Dialog ohne Nachrichtenwert – erreichte in weniger als 24 Stunden 1,3 Millionen Views. Mittlerweile sind es über 2,1 Millionen Views.
Und Views sind die Währung auf Youtube, die zählt. Wer mehr als eine Million Views pro Monat erreicht, kann von Youtube leben, gibt Mediakraft als Faustregel vor. Mediakraft ist das grösste deutsche Youtube-Netzwerk, eine Art Plattenlabel für Videoproduzenten, es betreut einige der erfolgreichsten Youtuber der Bundesrepublik. Die wenigsten Youtuber aber leben allein von der Werbung. Schon ab einer Grössenordnung von um die 50'000 Abonnenten starten zum Beispiel viele von ihnen ihr eigenes Merchandising. LeFloid etwa verkauft in seinem Fanshop 13 Artikel vom Poster bis zum Kapuzenpulli.
In den USA zeigt sich, welche Dimensionen die Geschäftsmodelle um Youtube erreichen können. Da hat die Beauty-Vloggerin Michelle Phan für L’Oreal eine eigene Kosmetiklinie entworfen, während Komikerin Jenna Marbles in ihrem Namen Hundespielzeug verkauft. Die Top-Youtuber der USA, das Comedy-Duo Smosh, sind längst nicht mehr zu zweit. Anthony Padilla und Ian Hecox pflegen ein Imperium mit sieben Kanälen und 21 Millionen Abonnenten, mehreren Angestellten, haben bisher vier Musikalben und ein Videospiel herausgebracht. Der erste Kinofilm der beiden startet kommende Woche.
Werbemarkt wächst um 29 Prozent jährlich
Es ist eine Menge Geld im Spiel: Zwischen 200'000 und 3,2 Millionen Dollar nehmen Smosh allein durch Klicks ein. Viel, aber der Schwede Felix Kjelberg alias PewDiePie toppt das locker. Der Game-Kommentator ist der Youtuber mit den meisten Abonnenten weltweit, knapp 38 Millionen sind es. 7,5 Millionen Dollar hat der 25-Jährige nach eigenen Angaben 2014 eingenommen.
Und der Boom hat gerade erst begonnen. Das klingt absurd angesichts von 300 Stunden Videomaterial, das pro Minute hochgeladen wird. Doch Online-Werbung gilt als der am schnellsten wachsende Werbemarkt – und Bewegtbild wiederum als Speerspitze. Die Investitionen werden in diesem Bereich bis 2017 um jährlich 29 Prozent wachsen, sagt Zenithoptimedia voraus. Wurden 2014 noch knapp 11 Milliarden Dollar für Werbung in Online-Videos ausgegeben, sollen es 2017 über 23 Milliarden Dollar sein.
Joiz versammelt Youtuber unter seinem Dach
Von solchen Dimensionen ist die Schweiz allerdings weit entfernt. Hier hat der Top-Youtuber, Gamekommentator Diabl0x9 aus dem Wallis, 1,7 Millionen Abonnenten. Er ist der einzige, der es über die Millionengrenze schafft. Auf Platz zwei steht Julia Graf. Sie gibt an, von ihrem Beautykanal leben zu können.
Immerhin aber hat das Social TV Joiz begonnen, hiesige Youtuber zu beraten und zu vernetzen. Der grösste Videokünstler dort ist der Musiker Swiss Beatbox mit gut 164’000 Abonnenten. Das Ziel: Ausreichend Youtuber unter dem Dach von Joiz zu versammeln, um selbst über die geschaltete Werbung zu entscheiden. «Das ist der eigentliche Sinn eines Netzwerkes», sagt Programmchef Alexander Sautter. Laut Experten besteht diese Möglichkeit ab rund drei Millionen Views, Kanäle können auch gebündelt gezählt werden.
Und auch kleine Erfolge auf Youtube können bereits ihr Geld wert sein: Der Aargauer Ballathlet Cubanito etwa hat bereits mit 24’000 Abonnenten Sponsoren gewonnen und einen Job als Fussballkommentator ergattert. Er ist kein Star, aber er sagt: «Ich wollte von Youtube leben können, und der Traum wurde wahr.»
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