Frankfurt, Ende der 1990er-Jahre. Die Privatkundensparte der Dresdner Bank kriegt einen neuen Chef, einen McKinsey-Mann, der einen grossen Namen trägt, ansonsten aber ein unbeschriebenes Blatt ist. Die Belegschaft denkt: Da kommt ein Zahlenfresser. Stattdessen führt der Neue erstmal das freitägliche After-Work-Beer ein.

Damit niemand den Event verpasst, werden – so erinnert sich ein damaliger Mitarbeiter – grosse Hinweiszettel mit einem Mäuse-Cartoon aufgehängt. Der Witz: Im Ohr der einen Maus steckt eine Bierflasche. Und die andere Maus sagt: «Ein Beercing habe ich mir ganz anders vorgestellt.»

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«Ein richtig guter Typ»

Der ehemalige Mitarbeiter muss auch heute noch lachen, wenn er die Anekdote preisgibt. Und dann erzählt er und erzählt, in immer helleren Farben beschreibt er seinen ehemaligen Chef Martin Blessing. Man wird skeptisch und fragt: Aber Ihre Erinnerungen können doch nicht nur positiv sein? Doch der Mann bleibt dabei: «Nee, der Blessing ist ein Menschenfänger, nicht aus Kalkül, sondern weil er ein richtig guter Typ ist. Das war er damals. Und das ist er geblieben.»

Man ruft dann viele weitere Weggefährten an, in der Erwartung, dass irgendwer auch schlecht über ihn redet. Aber selbst Banker, die unter Martin Blessing einen Karriereknick erlebt haben, sagen zunächst einmal Sätze wie: «Menschlich lasse ich auf den Martin nichts kommen.»

Was hat der Deutsche vor?

Allerdings schälen sich dann doch ein paar Zwischentöne heraus, die in einem Fall schliesslich in folgender Feststellung münden: «Die Empathie ist eine seiner ganz grossen Stärken als Manager. Aber sie ist auch seine grösste Schwäche.»

Wer ist Martin Blessing – mal abgesehen davon, dass er zuletzt an der Spitze der zweitgrössten deutschen Bank stand, der Commerzbank? Und mehr noch: Was hat dieser Blessing vor? Das fragen sich dieser Tage nicht nur die Mitarbeiter der UBS, sondern die ganze Paradeplatz-Community in Zürich. Denn: Dass ein Deutscher Schweiz-Chef der grössten Schweizer Bank wird, das ist dann doch keine alltägliche Personalie. Zumal: Mit Axel Weber steht ein anderer Deutscher ja seit Jahren an der Spitze des Verwaltungsrats. Beginnt jetzt die Germanisierung der UBS? Nehmen Weber und Blessing früher oder später CEO Sergio Ermotti in die Zange? Und überhaupt: Wenn sich der langjährige Vorstandschef einer deutschen Grossbank bei einer schweizerischen Grossbank mit dem Posten des Länderchefs zufrieden gibt – dann will der doch mehr. Oder?

Goldene Löffel

Martin Blessing kommt 1963 als Spross einer angesehen deutschen Bankerfamilie auf die Welt. Der Grossvater: Bundesbankpräsident. Der Vater: Deutsche-Bank-Vorstand. Goldene Löffel also – das jedenfalls erzählen diejenigen gern, die es nicht ganz so gut mit ihm meinen wie die direkten Weggefährten.

Ob Wohlstandsjüngling oder nicht, was auffällt: Bis heute pflegt Blessing einen Lebensstil, den man sich leisten wollen muss: «Der kauft sich vielleicht einmal im Jahr ein neues Paar Joggingschuhe. Mehr aber auch nicht», sagt ein langjähriger Mitstreiter. Attitüde? «Nein. Der definiert sich so. Hohes Arbeitsethos, daneben kommt höchstens noch die Familie, aber keine teuren Hobbys.»

Sieben Jahre bei McKinsey

Nach dem Abitur studiert er Betriebswirtschaft in Frankfurt und St. Gallen, macht den Master an der University of Chicago. Danach: Erstmal keine Bank, sondern sieben Jahre McKinsey. Ein bisschen biografische Emanzipation von Vater und Grossvater.

Wie man überhaupt sagen muss: Der grosse Name, der später einmal Ansporn werden wird – in den frühen Jahren ist er wohl auch Bürde. Nach fünf Jahren bei der Consultingfirma rückt Blessing zum Partner auf, nach sieben folgt der Abgang Richtung Dresdner Bank. Der Karriereweg führt nicht steil, aber stetig nach oben. Er wird Chef einer zur Dresdner gehörenden Direktbank, wechselt 2001 zur Commerzbank, wo er als Vorstand zunächst für die Privatkunden, später für das Corporate Banking verantwortlich zeichnet.

Der grosse Karriereschritt

Der grosse Einschnitt folgt 2008. Für die Bankenbranche allgemein. Aber auch für Blessing speziell. Im Mai wird er Vorstandschef. Vier Monate später stielt die Commerzbank die Übernahme der Dresdner Bank ein. Unmittelbar darauf bricht Lehman zusammen. Was für Zeiten. Nun wackeln auch in Europa die Banken, der deutsche Staat muss die Commerzbank stützen, auch weil die sich durch den Kauf der Dresdner noch mehr faule Papiere ins Haus geholt hat, als ohnehin schon drin sind. Kaum im Amt, gilt Blessing bereits als gescheitert. Die Karriere droht zu enden, bevor sie richtig begonnen hat.

Was man dazu wissen muss: Genauso wie in der Schweiz, wo es Kritik an der UBS-Rettung gab, hat das deutsche Publikum wenig Verständnis dafür, dass die Bundesregierung alles in allem gut 18 Milliarden Euro in die «Coba» pumpt. Schnöselige Banker machen sich jahrelang die Taschen voll und rufen dann nach dem armen Steuerzahler – so ist die öffentliche Wahrnehmung. Blessing wird zum Inbegriff des geretteten «Staatsbankers», der freigegeben ist für Kritik von jedweder Seite.

Von vielen angefeindet

Politiker: Wettern gegen ihn, weil sie das ihren Wählern schuldig sind. Investoren: Dreschen auf ihn ein, weil er, um den Staat auszubezahlen, die Aktie durch insgesamt neun (!) Kapitalerhöhungen bis zur Unkenntlichkeit verwässert. Andere Top-Banker: Zerreissen sich ihr Maul, weil Blessing einem staatlich oktroyierten Gehaltscap von 500'000 Euro unterliegt. Da trifft es sich hervorragend, dass seine Ehefrau Dorothee – das Paar hat drei Töchter – eine hochrangige Investmentbankerin bei Goldman Sachs und später bei JP Morgan ist: Der Chef des zweitgrössten deutschen Finanzinstituts verdient nur einen Bruchteil dessen, was seine Frau verdient. Da haben Frankfurts Banker was zu lachen. Hihi.

Trotz allen Anfeindungen hält sich Blessing im Amt. Das ist einem bemerkenswerten Durchhaltevermögen geschuldet – und zwei glücklichen Umständen. Erstens: Kaum ein anderer Top-Manager will sich den Job antun. Und zweitens: Der Dresdner-Deal war eigentlich noch das Werk seines Vorgängers Klaus Müller, der nun an der Spitze des Aufsichtsrats sitzt. Müller weiss: Lässt er seinen einstigen Schützling Blessing fallen, dann ist er womöglich auch selber fällig. Die beiden gehen eine Zweckehe ein, über die die Bundesregierung mangels Alternativen ihre schützende Hand hält. Das Duo, das die Suppe eingebrockt hat, darf sie auch auslöffeln.

An Profil gewonnen

Fast acht Jahre wird Blessing das insgesamt tun. Seine Bilanz? Schwach, sagen die Kritiker. Denn gemessen an Börsenwert und Kapitalrendite ist die Commerzbank noch immer ein Torso. Man kann die Dinge aber auch anders sehen. «Ohne ihn gäbe es die Bank überhaupt nicht mehr.» So oder so ähnlich drücken es verschiedenste Gesprächspartner aus.

Man muss dieser Lesart nicht eins zu eins folgen. Aber zumindest bei der Stabilisierung der Bank und bei der schwierigen Integration der Dresdner hat Blessing ganze Arbeit geleistet. Und: Unbestritten hat der inzwischen 53-Jährige über die Jahre an Profil gewonnen. Und zwar nicht, weil sein dünner Scheitel längst einer markanten Glatze gewichen ist.

In Zürich die Runde gemacht

Auch wenn er sein Amt bei der UBS offiziell erst zum 1. September antritt – in Zürich, so hört man, hat Blessing längst seine Runde gemacht. Kontakte knüpfen. Vertrauen aufbauen. Menschen gewinnen.

Diesen Stil wird er beibehalten, auch wenn ihm mancher vorwirft, seine empathische Art habe dazu beigetragen, dass bei der Commerzbank zuletzt eine Atmosphäre der kuscheligen Selbstzufriedenheit geherrscht habe. «Harte Entscheidungen, harte Einschnitte – davor ist er leider zurückgeschreckt», sagt ein Kenner des Instituts. Tatsächlich liegt die Cost-Income-Ratio der «Coba» noch immer bei über 70. Man wollte unter 60 kommen.

Blitzscharfer Intellekt

Und nun? Die UBS darf sich auf einen Manager gefasst machen, dem es weniger darauf ankommt, dass er erstmals seit Ewigkeiten wieder mehr Geld verdient als seine Frau. Sondern darauf, dass er nach Jahren der Mangelverwaltung endlich einmal gestalten darf – und der, so sagen es Vertraute, riesige Lust darauf verspürt. An seiner Befähigung für den Posten kann es keine ernsthaften Zweifel geben. Denn bei allem Hang zur Kuscheligkeit: Blessing gebietet über einen blitzscharfen Intellekt. «Er analysiert extrem schnell und immer auf den Punkt», sagt einer, der lange eng mit ihm zusammengearbeitet hat.

Zur Frage, wie die UBS und Blessing zusammengekommen sind, kursieren verschiedene Versionen. Glaubhaft ist, dass es, wie in Frankfurt erzählt wird, schon vor zwei Jahren lose Kontakte gab. Und zumindest einigermassen glaubhaft ist, dass es im Februar oder März nicht Weber war, der Blessing anrief – sondern Ermotti. Hat der also, ob bewusst oder unfreiwillig, seinen eigenen Nachfolger zur UBS gelotst? Dass es so kommt, ist alles andere als zwangsläufig. Aber es ist auch nicht auszuschliessen. «Natürlich gibt es die Option, und das weiss er auch», sagt einer von Blessings engsten Vertrauten. An Ermottis Sessel allerdings werde er ganz sicher nicht sägen. Und zwar unabhängig davon, ob das dem Ziel zuträglich wäre. Sondern: «So was macht der nicht.»