Spräche jemand von 2009 als «Jahr der Hypotheken», würde dies wohl in vielen Teilen der Welt als bitterer Sarkasmus aufgefasst. Anders in der Schweiz. Hierzulande konnte sich die Raiffeisen-Gruppe mit eben dieser Botschaft im Geschäftsbericht dem Applaus ihrer Genossenschafter sicher sein.
Denn immerhin gelang es der Bank, ihren Hypothekenbestand auf bisher unerreichte 9% zu steigern; sie wuchs damit fast doppelt so schnell wie der Markt, der seinerseits um starke 5% zulegte.
Margen tiefer als 1 Prozent
Den Boom ausgelöst haben die niedrigen Leitzinsen, welche die Vergabe von Hypotheken zu Tiefstpreisen erst ermöglichten, ausserdem die rasche Erholung der Schweizer Wirtschaft sowie die steigenden Immobilienpreise. Und jene Treiber wirken weiter. Ge- mäss der Schweizerischen Nationalbank (SNB) haben die Hypothekarforderungen in der Schweiz allein letzten Januar nochmals um 3 Mrd Fr. auf über 730 Mrd Fr. zugenommen.
Just die SNB hat nun aber die Party gestört. Sie mahnte die Branche im März mit ungewohnter Schärfe zu «grösster Vorsicht angesichts des Wachstums der Hypothekarkredite und des anhaltenden Anstiegs der Wohnimmobilienpreise» und leitete eine «vertiefte» Umfrage bei den hiesigen Banken zum Hypothekargeschäft ein. Näher wollte sich die SNB zu einzelnen Verdachtsmomenten seither nicht äussern.
Einen Hinweis zu den besonderen Risiken im Zinsengeschäft gab SNB-Präsident Philipp Hildebrand jüngst aber in einer Rede zum Finanzsystem. Banken seien aufgrund ihrer Bilanzstruktur fragiler als andere Unternehmen, so der oberste Notenbanker. «Banken nehmen kurzfristig Gelder auf und leihen diese in der Regel mit längerer Laufzeit aus. Damit weisen Banken eine asymmetrische Fristenstruktur in ihrer Bilanz aus.»
Das ist an sich nichts Neues. Doch wegen der tiefen Zinsen hat sich die Asymmetrie in den Bankbilanzen verstärkt. Heute ist für Banken über die Anlage in Staatsanleihen und dem «Parkieren» von Mitteln bei der SNB kein Mehrwert zu erwirtschaften. Besser rentieren dagegen Hypotheken, insbesondere die Festhypotheken mit langen Laufzeiten - zudem erweisen sich die Kredite als ideales Instrument zur Kundenbindung (siehe Kasten unten).
Über die Folgen berichtet Lorenz Heim, Leiter des VZ Hypothekenzentrum in Zürich, das auch selber Hypotheken anbietet. «Weiterhin ist auf Bankenseite sehr viel Geld im Markt, alle wollen mitmachen. Die Margen von 0,6 oder 0,7% reichen inzwischen nicht mehr aus, um die Kosten für das eigentliche Hypothekargeschäft zu decken.» Das Geschäft werde daher über die Passivseite also billige Spargelder quersubventioniert, sagt Heim.
«Unsicherheit höher als sonst»
Das hinterlässt Spuren in den Bilanzen: Einer hohen Kreditvergabe stehen deutlich tiefere Erträge gegenüber. Auf die besagten 9% Wachstum bei den Hypothekarforderungen bei Raiffeisen kam so 2009 ein um 1,3% höherer Erfolg im Zinsengeschäft. Eine Entwicklung, die sich auch in den Bilanzen anderer Institute findet und die inzwischen auch gestandenen Bankern Respekt einflösst. «Das Bilanzstrukturrisiko ist meiner Meinung nach die derzeit grösste Gefahr für den Schweizer Bankensektor», sagt Harald Nedwed, CEO der Migros Bank. Kurzfristig bei der Bank angelegtes Geld sei in langfristigen Hypotheken gebunden. «Wenn aber die Zinssätze ansteigen, besteht die Gefahr, dass der Zinsensaldo bei einigen Banken drastisch zurückgeht.»
Zum andern könne es sein, dass die kurzfristigen Kundengelder abfliessen - sei es in den Konsum oder in Kapitalmarktanlagen - und Banken dadurch in Refinanzierungsprobleme geraten, sagt Nedwed. Das bekräftigt auch Andreas Venditti, auf Banken spezialisierter Analyst bei der Zürcher Kantonalbank (ZKB). «Das Zinsänderungsrisiko ist ein bedeutendes Risiko gerade bei Schweizer Retail- und Kantonalbanken, weil diese einen Grossteil ihrer Erträge im Zinsengeschäft erarbeiten.» Die Branche schaue deshalb sehr genau auf die Zinsentwicklung. «Die Unsicherheit diesbezüglich ist höher als sonst», so der ZKB-Analyst.
Eine Folge davon ist, dass sich die Institute inzwischen mit umfangreichen Absicherungsgeschäften, sogenannten Swaps, gegen die Folgen eines Zinsanstiegs absichern. «Diese Massnahme ist aber mit Kosten, das heisst konkret mit sinkenden Zinsmargen, verbunden», mahnt Beat Bernet, Professor am Schweizerischen Institut für Banken und Finanzen der Universität St. Gallen (HSG). Wie gut die Schweizer Banken tatsächlich abgesichert sind, ist von aussen jedoch schwierig zu erkennen. «Eine gewisse Unbekannte bleibt», sagt Analyst Venditti von der ZKB.
Schlechte Kredite sind unsichtbar
Und wie vorsichtig die Banken bei der Kreditvergabe selber waren, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Für die Institute spricht, dass sich die Zahl der Ausfälle in den letzten Jahren fast durchwegs reduziert hat. Zudem ist ein Hypothekarportefeuille in winzige Risikotranchen atomisiert, was einen Gesamtausfall eher unwahrscheinlich macht.
«Ob es am Schweizer Markt gehäuft schlechte Risiken gibt, wird erst sichtbar, wenn die Zinsen ansteigen und gleichzeitig die Immobilienpreise fallen würden», sagt VZ-Mann Heim. Das würde aber das wirtschaftliche Szenario einer Stagflation bedingen - derzeit eine von den meisten Experten kaum gehandelte Situation.
Als wahrscheinlich gilt dagegen, dass die SNB die Zinsen sanft erhöht, immer mit dem Blick auf die dadurch ausgelösten Effekte. Beginnt sie damit schon im Sommer, dann steht ihr bezüglich der Hypothekarrisiken jedoch ein Blindflug bevor: Denn die Daten der jetzigen Banken-Umfrage sollen erst im Herbst bereitliegen.