Wie beurteilen Sie die Situation der Altersvorsorge in der Schweiz aktuell?
Matthias Müller: Das System ist akut gefährdet. In der ersten Säule türmen sich die Defizite Jahr für Jahr. Ein weiteres Übel ist die wachsende Umverteilung in der zweiten Säule auf Kosten der Jungen. 7 Milliarden Franken fliessen dadurch jedes Jahr von den Erwerbstätigen zu den Rentnern! Probleme gibt es aber auch in der dritten Säule: Dort wehrt sich die Politik partout gegen Innovationsbestrebungen.
Funktioniert das Drei-Säulen-System heute somit überhaupt noch?
Patrick Eugster: Das System an sich ist nach wie vor gut, wir dürfen uns jedoch nicht an den Status quo klammern. Es ist genau so, wie es Matthias beschrieben hat: Es braucht in sämtlichen Bereichen dringend Reformen. Deren Bedarf wird zwar erkannt – doch leider hapert es an der konkreten Umsetzung.
- Patrick Eugster ist Doktorand in Banking und Finance an der Universität Zürich und nebenbei im Teilzeitpensum als selbstständiger Ökonom tätig. Seit 2017 ist er Vizepräsident der Jungfreisinnigen des Kantons Zürich. Auf nationaler Ebene verantwortet er die Vorsorgepolitik der Jungfreisinnigen Schweiz und ist Präsident der Renteninitiative.
- Matthias Müller doktoriert in Übernahmerecht an der Universität Zürich und ist gleichzeitig als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Privat- und Wirtschaftsrecht tätig. Nebenbei berät er Unternehmen bei juristischen Fragestellungen und ist als Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz in der Politik aktiv.
2019 hat der Bundesrat die Botschaft zur AHV-Reform («AHV 21») verabschiedet. Unter anderem soll das Rentenalter von 65 Jahren für Männer und Frauen gelten. Reicht das nicht?
Eugster: Ganz klar: Nein! Eine Angleichung allein reicht leider nicht. Wenn wir nur das tun, fehlen der AHV im Jahr 2045 immer noch rund 12 Milliarden Franken pro Jahr. Die Reformen des Bundesrats genügen deshalb hinten und vorne nicht.
«Die fehlgeschlagenen Reformen der vergangenen Jahre haben eines gemeinsam: Sie alle zielten darauf ab, einzelnen Wählergruppen zusätzliche Ansprüche zu gewähren.»
Tatsächlich gestalten sich Reformbemühungen in der Altersvorsorge traditionell schwierig. Warum kann sich die Politik bei diesem wichtigen Thema nicht auf zukunftsfähige Lösungen einigen?
Müller: Die fehlgeschlagenen Reformen der vergangenen Jahre haben eines gemeinsam: Sie alle zielten darauf ab, einzelnen Wählergruppen zusätzliche Ansprüche zu gewähren. Zudem mangelte es den bisherigen Massnahmen grundsätzlich an Nachhaltigkeit.
Wo liegen die Gründe dafür?
Eugster: Die Politik ist darauf ausgerichtet, das Interesse von Wählermehrheiten umzusetzen. Leider lässt sich mit diesem kurzfristigen Denken die Altersvorsorge nicht nachhaltig sanieren.
Und das ist bei Ihrer Initiative anders?
Müller: Ja! Mit unserer Initiative wird die Altersvorsorge strukturell saniert. Dafür haben wir drei konkrete Schritte vorgesehen: Wir fordern das Rentenalter 66 für beide Geschlechter und eine anschliessende Kopplung an die Lebenserwartung. Viele westeuropäische Länder tun das übrigens heute schon. Das gesamte System soll so reformiert und entpolitisiert werden, damit unsere Renten nachhaltig gesichert sind.
Das sind massive Anpassungen. Warum glauben Sie, dass Ihre Initiative mehrheitsfähig sein wird?
Müller: Unsere Initiative wird von Erfolg gekrönt sein, weil sie das Problem des wichtigsten Sozialwerkes unseres Landes an den Wurzeln packt. Mit der schrittweisen Erhöhung des Rentenalters setzen wir beim entscheidenden Grund für die finanzielle Schieflage des Systems an. Die Vorlage sorgt dafür, dass die Kosten, die mit der höheren Lebenserwartung auf uns zukommen, fairer auf alle Generationen verteilt werden. Mit der Kopplung des Rentenalters an die Lebenserwartung bietet unsere Initiative zudem eine nachhaltige Lösung, weil damit zusätzliche – und oftmals wenig weitsichtige – Hauruckübungen zur kurzfristigen Sicherung der strukturellen Finanzierungsprobleme unnötig werden.
Eugster: Wir nehmen niemandem etwas weg, wir verlangen auch nicht mehr Geld – trotzdem können und müssen wir alle unseren Beitrag zur langfristigen Sicherung der Renten leisten.
Was motiviert Sie als junge Politiker, sich für das Thema Rentenalter einzusetzen?
Eugster: Wir Jungen müssen ein akutes Interesse daran haben, das Thema der Altersvorsorge anzupacken. Als Minderheit in der Gesellschaft haben wir am wenigsten zu sagen – gleichwohl sind wir am stärksten von den Problemen des Systems betroffen.
Müller: Das sehe ich genauso. Wenn nicht wir, wer dann? Es ist das Gebot der Stunde, dass sich junge Menschen mit den zukünftigen Herausforderungen unserer Gesellschaft beschäftigen. Unsere Generation ist wie keine andere darauf angewiesen, dass die Altersvorsorge auch in 40 Jahren noch funktioniert.
Wer im Büro arbeitet, kann vielleicht ein Jahr länger warten bis zur Pensionierung. Anders ist die Situation für Menschen mit körperlicher Arbeit – etwa auf dem Bau. Für diese Personen gibt es heute Ausnahmelösungen. Werden diese bei einem Ja zur Renteninitiative ebenfalls berücksichtigt?
Eugster: In der Tat können nicht alle bis 65 oder länger arbeiten. In der Baubranche haben sich die Sozialpartner auf Rentenalter 60 geeinigt. Dieses Modell muss auch auf andere, körperlich anspruchsvolle Branchen ausgeweitet werden. Es liegt hier an den Sozialpartnern und an der Politik, passende Lösungen zu finden.
«Die grosse Mehrheit der Berufstätigen kann länger arbeiten – und viele wollen das sogar.»
Ein weiterer Kritikpunkt: Wer heute mit 50 arbeitslos wird, hat in der Regel Mühe, eine neue Arbeit zu finden. Wird dieses Problem durch die Erhöhung des Rentenalters nicht noch zusätzlich verschärft?
Müller: Die grosse Mehrheit der Berufstätigen kann länger arbeiten – und viele wollen das sogar. Gleichzeitig ist es richtig und wichtig, dass wir jenen Leuten, die Unterstützung brauchen und keinen Job mehr finden, auch wirklich Hilfe bieten. Hier können wir mit einer gezielten Unterstützung jedoch viel mehr erreichen als mittels Giesskannenprinzip.
Eugster: Für Über-55-Jährige sehen wir zwei Ansätze. Einerseits sollen Arbeitgeber verstärkt das Potenzial der älteren Arbeitnehmenden erkennen, entsprechende Arbeitsplätze schaffen und so von deren Know-how und Erfahrung profitieren. Andererseits müssen wir Weiterbildungen noch stärker fördern, damit mit der fortschreitenden Digitalisierung alle unabhängig von ihrem Alter einen Job finden.
Die Juso und die Gewerkschaften sprechen sich gegen eine Erhöhung des Rentenalters für Frauen aus. Dies unter anderem aufgrund der noch immer vorherrschenden Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen. Ihre Antwort darauf?
Eugster: Die Gleichstellung zwischen Mann und Frau liegt uns ebenfalls am Herzen. Es macht jedoch keinen Sinn, verschiedene Themen miteinander zu vermischen. Wir können nicht alle Probleme gleichzeitig lösen.
Kritiker befürchten eine «schleichende Privatisierung der Altersvorsorge». Wie lässt sich verhindern, dass die Schere zwischen Arm und Reich in Zukunft noch weiter auseinanderklafft als heute schon?
«Wer behauptet, dass die Schere zwischen Arm und Reich zunehmend auseinanderklaffe, ignoriert die Fakten. Tatsächlich zeigte sich diese Schere in den vergangenen 70 bis 80 Jahren als sehr stabil.»
Eugster: Wer behauptet, dass die Schere zwischen Arm und Reich zunehmend auseinanderklaffe, ignoriert die Fakten. Tatsächlich zeigte sich diese Schere in den vergangenen 70 bis 80 Jahren als sehr stabil. Natürlich kommt es in einzelnen Jahren zu Schwankungen, grundsätzlich verfügen wir in der Schweiz aber nach wie vor über ein sehr gutes System.
Müller: Die Mehrheit der Rentner in der Schweiz kann auch nach der Pensionierung ihren gewohnten Lebensstil aufrechterhalten. Trotzdem existiert auch Altersarmut in der Schweiz: Diese muss wirksam über Ergänzungsleistungen bekämpft werden.
Statt das Rentenalter zu erhöhen, könnte ja auch die AHV finanziell gestärkt werden – dies etwa durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer oder Zustupfe aus den Gewinnen der SNB. Warum ist das für Sie kein gangbarer Weg?
Eugster: Und wo würde das hinführen? Da unsere Gesellschaft immer älter wird, müsste die Mehrwertsteuer immer weiter erhöht werden. Irgendwann kann das rein logisch nicht mehr aufgehen. Zudem sind mit Steuererhöhungen immer auch Nachteile verbunden. Unternehmen, die mehr Mehrwertsteuer bezahlen müssen, könnten zum Beispiel weniger Jobs schaffen.
Müller: Auch die Forderung nach den SNB-Gewinnen harzt. Die Nationalbank würde dadurch ihre Unabhängigkeit verlieren. Zudem würden sämtliche Sozialwerke in Schieflage geraten, wenn die SNB Verluste schreiben würde – und dann beginnt die ganze Diskussion wieder von vorne. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht ganz unterschiedliche Bereiche miteinander vermischen.
Sie müssen bis im Sommer 100’000 Unterschriften sammeln, damit ihre Initiative zustande kommt. Wie läuft die Unterschriftensammlung in Zeiten von Corona?
Müller: Aktuell sind wir bei rund 67’000 Unterschriften. In diesen Zeiten ist dieses Unterfangen tatsächlich schwieriger als sonst. Es braucht einen Koordinationsaufwand und mehr Überzeugungskraft als in normalen Zeiten. Auch wenn Corona wie ein Bremsklotz wirkt, sind wir auf gutem Weg. Die Leute unterschreiben unsere Initiative. Die Bevölkerung erwartet von der Politik nachhaltige Lösungen – mehr denn je.
Eugster: Wir werden die nötigen Unterschriften in der vorgegebenen Frist bis im Sommer zusammenkriegen. Trotz allen Schwierigkeiten bringt die aktuelle Situation auch Vorteile mit sich. Wir konnten in den vergangenen Monaten verschiedene kreative Massnahmen ausprobieren und wissen nun, was beim Unterschriftensammeln funktioniert und was nicht.
Ihren politischen Gegenspielern scheint das Unterschriftensammeln etwas leichter zu fallen.
Eugster: Das stimmt. Beim Sammeln haben wir Aufholbedarf gegenüber den Linken – dabei sind unsere Initiativen besser!
Darum geht es bei der Renteninitiative
Die von den Jungfreisinnigen lancierte eidgenössische Volksinitiative «Für eine sichere und nachhaltige Altersvorsorge (Renten-Initiative)» beabsichtigt, die strukturellen Finanzierungsprobleme der AHV langfristig und nachhaltig zu lösen. Die Unterschriftensammlung wird auch von der JSVP unterstützt. Seit 2014 decken in der Altersvorsorge die laufenden Einnahmen die laufenden Ausgaben nicht mehr. Der AHV-Fonds dürfte gemäss geltender Ordnung bereits im Jahr 2034 aufgebraucht sein. Die demografischen Ursachen dieser Entwicklung sind längst bekannt: Sinkende Geburtenrate und steigende Lebenserwartung. Das Ungleichgewicht zwischen Rentnern und Erwerbstätigen wird voraussichtlich sukzessiv steigen, sobald die geburtenstarken Babyboom-Jahrgänge das Rentenalter erreichen. Eine reine einnahmenseitige AHV-Sanierung käme die Erwerbstätigen teuer zu stehen. Gemäss der Renteninitiative soll das Rentenalter in der AHV für beide Geschlechter zunächst in jährlichen Zwei-Monats-Schritten auf 66 angehoben und danach schrittweise – und nach einer vorgegebenen Formel – an die Entwicklung der Lebenserwartung angepasst werden. Viele westeuropäische Länder haben das Rentenalter bereits heute mit der Lebenserwartung verknüpft und sehen für beide Geschlechter ein einheitliches Pensionsalter vor. Mehr zur Renteninitiative kann unter dem folgenden Link gelesen werden: www.renten-sichern.ch
1 Kommentar
Die Anhebung der Referenzalter ergibt für die 1. wie 2. Säule einen erheblichen Sanierungs/Gesundungsbeitrag.
Vor allem die Sanierung der 1.Säule muss sehr rasch erfolgen um nicht noch mehr Lasten in die Zukunft zu transportieren. Die generationengerechte Sanierung kann eigentlich nur noch mittels Leistungskürzungen erfolgen. Dies wäre zwar gerecht aber kaum umsetzbar. Die auch noch einigermassen gerechte Sanierung kann mit einer raschen Anhebung der Referenzalter umgesetzt werden. Die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern bezüglich Referenzalter scheint mir allerdings deutlich weniger wichtig, als die sehr schnelle Anhebung der Referenzalter. Heben wir die Referenzalter für alle an. Alter 65/66 F/M welche in 4 Jahren umgesetzt ist. Die Diskussionen bezüglich der Gleichstellung führt zu nicht enden wollenden Diskussionen. Eine Art destruktive CH-Filibusterei welche die Lösung der Problematik (gewollt) weiter in die Zukunft transportiert. Die Revisionen zur Altersvorsorge sind jeweils schwere Pakete welche für die allermeisten vielfach gleich mehrere Haare in der Suppe finden lässt. Diese schrecklichen Pakete sollte man fürs erste links liegen lassen und die Referenzalter auf 65/66 F/M anheben.
Die Personengruppe, welche die heute versprochenen Leistungen künftig finanzieren muss, sollte nicht über den Tisch gezogen werden. Seien wir fair, und sichern die künftigen Altersleistungen durch faire (generationengerechte) Sanierung der Altersvorsorge.