Das wirkt hier alles etwas traurig. Die meistgestreamten Rapper und Sänger von 2018 klingen düster, niedergeschlagen, depressiv. Drake klagt in «God’s Plan» über Konflikte mit anderen Künstlern, und Post Malone ist in «Rockstar» niedergeschlagen von so viel Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll.
Dabei geht es den beiden alles andere als schlecht. Von den Top-Five-Songs auf Spotify im letzten Jahr stammen je zwei von Drake und Post Malone. Das macht vor allem ihr Label, die Universal Music Group, sehr happy.
15 Jahre lang war Universal im freien Fall. Die Einnahmen erodierten Jahr für Jahr – genauso bei den Konkurrenten Sony und Warner. 25,2 Milliarden Dollar setzte die gesamte Industrie im Jahr 1999 um – 2014 waren es noch 14,2 Milliarden. «Es war ein Desaster», sagte kürzlich ein Universal-Manager dem britischen «Guardian», auf die nuller Jahre angesprochen. Wenn er irgendwo mit seiner Gattin zum Dinner eingeladen war, habe sie ihn gewarnt: «Erzähl niemandem, womit du dein Geld verdienst.»
Es waren schreckliche Jahre für die Branche. Die Musik war ins Internet gewandert, die CD-Verkäufe schrumpften. Im Vorzeigemarkt USA hielt der Siegeszug der Compact Disc ein Vierteljahrhundert an. 1987 hatte sie umsatzmässig die LP überholt, 2012 wurde sie dann vom Download abgelöst, der wiederum nur vier Jahre später vom Streaming verdrängt wurde.
Ein Hoch aufs Streaming
Das Streaming hat die Branche schliesslich gerettet. «Noch nie zuvor war es möglich, für relativ wenig Geld Zugriff auf 40 Millionen Musiktitel zu erlangen», analysiert Lorenz Haas, Geschäftsführer von IFPI Schweiz, dem Verband der Musiklabels. Die Quantität der Streaming-Portale ist beispiellos: Jede Woche gehen 20 000 neue Songs online. Ein Monatsabo kostet im Schnitt 13 Franken. Das heisst: Audiophile, die früher CDs kauften, geben heute weniger Geld für mehr Musik aus. Doch bei der viel höheren Zahl an Gelegenheitskonsumenten, die alle drei Monate mal ein Album kauften, ist es umgekehrt. Eine Goldgrube für Universal und Co.
Streaming, das ist ein bisschen Apple (Marktanteil: 19 Prozent) und sehr viel Spotify (36 Prozent). Die schwedische Firma wurde 2006 von Daniel Ek gegründet, einem Studienabbrecher aus Stockholm, Jahrgang 1983. «Wer hat Ek das Geld gegeben, damit er sein Tool überhaupt bauen kann? Wir waren das!», sagt ein Mitarbeiter eines Majorlabels. Es schwingt etwas Frustration mit in den Worten. Die Majors stritten jahrelang mit Ek darüber, wie viel Geld die Schweden für die Lizenzrechte der Musik abdrücken sollen.
Dabei ist Spotify für sie eine Goldgrube. Rückblickend ist man sich nicht mehr ganz sicher, ob es reiner Zufall, weise Voraussicht oder pure Verzweiflung war, was die grossen Plattenfirmen dazu brachte, Spotify zu unterstützen. 2008, kurz bevor die Streaming-Plattform auf den Markt kam, verkaufte ihnen Ek 18 Prozent der Aktien. Ein Prozent davon ging an Merlin, einen Zusammenschluss von unabhängigen Labels. Gesamtpreis: 8804 Euro und 40 Cent. Zehn Jahre später, im Frühling 2018, ging Spotify an die Börse, und das Paket hat einen Wert von 2,3 Milliarden Euro. Ein grosser Teil diese Paketes wurde im Laufe des letzten Jahres verkauft.
Sparen, suchen, probieren
Heute sehen sich die Majors als Starthelfer von Spotify und damit als Teil der Lösung, die den kommerziellen Musikmarkt rettete. Doch Ek wäre wohl auch ohne die 8804 Euro der Industrie klargekommen. Vielmehr war der tiefe Preis für das Aktienpaket eine Art Kompensation für künftige Lizenzrechte, wie Branchenkenner einwenden.
Denn für jeden Song, der auf Spotify geklickt wird, muss die Firma den Rechteinhabern Geld abgeben. Man rechnet durchschnittlich mit 0.005 Dollar pro Klick. Seit 2006 flossen so über zehn Milliarden Dollar via Labels an Komponisten und Musiker zurück. Es hätte theoretisch auch viel mehr sein können. Aber Ek sagte damals in weiser Voraussicht: Ich schenk euch Aktien, die irgendwann sehr viel Wert haben werden, dafür saugt ihr mich nicht mit Lizenzforderungen aus.
Trotz steigendem Aktienwert setzten sich die harten Verhandlungen zwischen Spotify und den Labels fort. Und das milliardenschwere Aktienpaket ist nicht der Grund, warum die Labels heute wieder gesund sind. «Wir haben die Kostenstruktur angepasst, den Fokus konsequent auf die Künstler gesetzt und uns nicht vor Innovation gescheut», sagt Ivo Sacchi, seit 16 Jahren Chef von Universal Schweiz.
Sparen, suchen, probieren: Wo jahrelang Rock ’n’ Roll angesagt war, wurde plötzlich ein Hebel umgelegt. Das ist nicht selbstverständlich. Vor allem in den Talentabteilungen, A&R (Artists and Repertoire) genannt, ging es lange lustig zu und her. Aktenkundig ist die Story des britischen Investors Guy Hands, der 2007 den schlingernden Major EMI übernahm: Als er durch die Bücher ging, wunderte er sich über die sechsstelligen Beträge, die das Unternehmen jährlich für «Fruits and Flowers» ausgab. Bis ihm erklärt wurde, dass Früchte und Blumen für Drogen und Prostituierte stünden.
Angesichts der Eskapaden und des wenig nachhaltigen Geschäftsmodells wurde den Majorlabels der sichere Tod vorausgesagt. 2011 schluckte Universal den Pleite-Konkurrenten EMI. Aus den Big Four wurden die Big Three. Einige grosse Stars wie Madonna und U2 schlossen keine Deals mehr mit Plattenfirmen, sondern mit dem Konzertveranstalter Live Nation ab. Mit eingespielter Musik, dachten damals viele, lässt sich bald gar kein Geld mehr verdienen. Ausserdem war es nun den Künstlern möglich, ihre Musik selber online zu verkaufen.
Nur nutzte das kaum einer. Denn die Majors hatten eine bessere Lösung: «Wir bieten einen Gesamtservice, der es den Künstlern einfacher macht, sich voll auf die Musik zu konzentrieren», erklärt es Sacchi. Aufnahme, Merchandising, Brand Management, Social-Media-Pflege: Das Label liefert die ganze Palette. Neu kam in den letzten Jahren dazu, dass die Plattenfirmen Daten für die Bands auswerten. Sie zeigen, was auf den Streaming-Portalen bei wem wie gut ankommt.
Und dann begannen die Labels bei neuen Verträgen mit Musikern eine neue Klausel einzubauen: Ein Teil der Einnahmen aus Konzerten soll fortan in die Labelkasse fliessen. Dies, obwohl die Majors selber keine Konzerte veranstalten. Für Julie Born, Schweiz-Chefin von Sony Music, ist das nur konsequent: «Wir investieren viel Geld, um einen Künstler aufzubauen. Lange Zeit wurde das nur durch CD-Verkäufe kompensiert. Und dank unserer Investition können sie auch mehr Konzerte geben.» Bei manchen Bands würden die Labels zusätzlich Unterstützung bei der Konzert-Promotion leisten.
Ohne Werbung läuft nämlich auch im digitalen Zeitalter nichts: «Gute Songs zu schreiben, ist das eine», sagt Born, «aber die Leute müssen auch wissen, dass es die Songs überhaupt gibt.» Auf Social-Media-Kanälen geht das günstiger als früher. Universal macht beispielsweise fast keine TV-Werbung mehr. «Wir sprechen die Konsumenten heute direkt via Social Media gezielter und preiswerter an als früher», sagt Schweiz-Chef Sacchi.
Teure Glaubwürdigkeit
Es hat sich ausgezahlt. Die Deutsche Bank schätzt heute den Wert von Universal auf 33,3 Milliarden Dollar. Das ist fast doppelt so viel wie 2016. Sony wurde vor einem Jahr von Goldman Sachs auf 20 Milliarden geschätzt. Die Umsätze wachsen jetzt wieder zweistellig. Warner Music setzte 2018 vier Milliarden Dollar um – zwölf Prozent mehr als im Vorjahr. Der Gewinn verdoppelte sich auf 307 Millionen.
Möglich gemacht hat das bei Warner vor allem Ed Sheeran. Der Brite, Jahrgang 1991, hat mit «Shape of You» und «Thinking Out Loud» zwei Songs in den Top Five der meistgestreamten Songs, seit es Spotify gibt. Das Video zu «Shape of You» wurde auf YouTube bis heute über vier Milliarden Mal angeschaut. Theoretisch hat also jeder zweite Mensch auf der Welt den Song einmal angeklickt.
Warner hat dem Ausnahmetalent sogar ein eigenes Sub-Label geschenkt. Es heisst Gingerbread Man Records und nimmt vielversprechende Musiker unter Vertrag, die sich Sheeran selber aussuchen darf. Ein genialer Schachzug, denn der Name versprüht den Dunst eines unabhängigen Labels. Bei vielen Bands sind Major-Verträge immer noch ein No-Go. Auch darum haben die Grossen in den letzten Jahren viele Indielabels geschluckt, die sie unter dem gleichen Namen weiterlaufen liessen. Major-Hasser wahren sich so ein Stück Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit.
Schlagzeilen im Zusammenhang mit Spotify und den Majors machte vor allem US-Popstar Taylor Swift, Jahrgang 1989. Vor fünf Jahren zog sie ihr gesamtes Repertoire von Spotify zurück, weil der Streaming-Anbieter auch über einen Gratiskanal mit Werbung verfügt. «Musik sollte nicht umsonst sein», proklamierte sie. 2017 kehrte sie zurück. Spotify-Chef Ek gelang das Kunststück, Swift zu überzeugen, ohne von seinem Gratiskanal abzurücken.
Letztes Jahr schliesslich wechselte Swift nach 14 Jahren beim Indielabel Big Machine Records zu Universal. Auf Instagram liess sie ihre Fans wissen, dass sie dies nur unter der Bedingung getan habe, dass Universal die Erlöse aus dem angekündigten Verkauf der Spotify-Aktien an die Künstler verteile. Allerdings hatte das Label diese Absicht schon Monate zuvor verkündet.
Die Verkäufe der Spotify-Anteile waren das grosse Branchenthema im letzten Jahr. Beim Börsengang des Unternehmens liessen die Majors nichts anbrennen: Warner löste für seine Anteile 504 Millionen Dollar. Ein Viertel davon fliesst direkt auf die Konti von Warners Künstlern. Sony Music verkaufte die Hälfte ihrer Anteile und nahm damit geschätzte 750 Millionen ein. Universal hat bislang noch nichts verkauft. Es heisst, der französische Mutterkonzern Vivendi plane, die Hälfte des Musiklabels an strategische Partner zu verkaufen. Je nach Entwicklung des Spotify-Aktienkurses könnte der Wert weiter ansteigen.
Einigung mit Youtube
Der grosse Major-Tanker scheint auf Kurs. Die grössten Probleme sind beseitigt. Ein unternehmerischer Pragmatismus hat Drogenexzesse im Label-Betrieb ersetzt. Und die Zeiten, als man sich darauf konzentrierte, Portale wie Napster zu bekämpfen und Teenager zu verklagen, die illegal Musik im Internet teilten, sind auch längst vorbei. Jetzt gibt es fast nur noch Potenziale. Zum Beispiel in Schwellenländern, die die Branche früher wegen der Piraterie «One Disc Countries» nannte. «In vielen grossen Märkten wie Indien oder China bildet sich eine bedeutende Mittelschicht, die natürlich auch Musik hören will und bereit ist, dafür Geld auszugeben», prophezeit IFPI-Geschäftsführer Haas.
Auch die Auseinandersetzungen mit YouTube sind beigelegt, wo die globale Jugend ihre Musik gratis bezieht. «Sie hatten in unseren Augen in der Vergangenheit zu wenig Werbung geschaltet, um den Content zu monetarisieren», erklärt Sony-Chefin Born. Nun hat die Google-Tochter das kostenpflichtige Spotify-Konkurrenzangebot YouTube Music lanciert, und die Majors sind guter Dinge: «YouTube Music ist ein Modell, das Potenzial haben könnte», sagt Universal-Mann Sacchi.
Geld ist jedenfalls wieder genug da, wie man im Video von Drakes «God’s Plan» unschwer erkennen kann. Eine Million Dollar verteilt er da an Kinderheime und Schulhäuser oder einfach so an Leute auf der Strasse. Der Clip wurde auf YouTube eine Milliarde Mal geklickt. Rechnet man mit dem Durchschnittswert für YouTube-Lizenzzahlungen von 0.0006 Dollar pro Klick, hat der Musiker alleine auf diesem Kanal fast zwei Drittel der Ausgaben wieder hereingeholt. Man ist da sicher nicht alleine, wenn einen die Sache ein bisschen doppelzüngig dünkt. Vor allem wenn Drake zu Beginn des Clips über das verteilte Geld mitteilt: «We gave it all away. Don’t tell the label ...»