Der Mieterverband hat sich durchgesetzt: Wenn das Gas knapp wird, dürfen Wohnungen, Häusern und Bürogebäude auf 20 Grad Celsius beheizt werden. Dies entschied der Gesamtbundesrat heute. «Der Bundesrat sieht vor, die Bestimmungen zur Begrenzung der Raumtemperatur in Innenräumen gegenüber dem ursprünglichen Verordnungsentwurf anzupassen», verkündete Wirtschaftsminister Guy Parmelin am Mittwoch an einer Pressekonferenz, bei der er die Bewirtschaftungsmassnahmen für den Fall einer Gasmangellage vorstellte.
Vor zwei Monaten wollte Parmelin 19 Grad in die Notverordnung schreiben. 19 Grad wären das rechtliche Minimum gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts für Mietwohnungen. Doch offenbar war ihm das zu heiss. Sehr wahrscheinlich fürchtete er Klagen von Betroffenen, sollte die Notlage eintreffen. Es gab Stimmen, die monierten, dass generell kalte Wohnungen auch Gesundheitsschäden verursachen könnten.
Heute wurden sechs weitere Punkte dazu geklärt, was der Fall sein würde, sollte eine schwere Gasmangellage eintreten. «Schwer» meint eine derartige Knappheit, dass der Bund per Verordnung eingreifen muss:
- Es gilt die Selbstkontrolle. «Die Einhaltung der Temperatur obliegt den Mieterinnen und Mietern», heisst es lapidar im Verordnungsentwurf. Die grosse Polemik betraf zunächst die Frage, ob die Polizei das Temperaturgebot durchsetzen solle. Etwa wenn ein Mieter eine Nachbarin verpfeift, sie habe zu stark geheizt.
- Der Entscheid über eine Bussenandrohnung, sollte jemand sich nicht an die 20-Grad-Regel halten, ist nicht entschieden. Diese Frage tauchte bereits nach dem ersten Auftritt Parmelins in dieser Sache auf. Der Bundesrat schickt ihn damit in eine Sonderschlaufe: «Das WBF wird die Möglichkeiten von Ordnungsbussen für Verstösse gegen das LVG prüfen», sagte Parmelin heute.
- Keine Vorzugsbehandlung für Grossfirmen. Alle Kreise und Firmen werden im Notfall in der Schweiz gleich betroffen sein vom bundesrätlichen Sparbefehl. «Voraussichtlich alle Verbrauchergruppen werden bereits zu Beginn einer Mangellage einen angemessenen Beitrag zur Einsparung von Gas leisten müssen», heisst es in der Mitteilung des Bundesrates. Parmelin sagte, der Bundesrat habe sich «gegen die Gewährung zusätzlicher Ausnahmen von der Kontingentierung entschieden», weil damit die Wirksamkeit gefährdet wäre.
Damit spricht Parmelin ein Machtwort. Viele Branchen, etwa die Chemie, forderten eine Vorzugsstellung – mit der Begründung, man produziere Medikamente. Ein Unterbruch hätte schwerwiegende Folgen für die Produktion. Parmelin sagte sich wohl: Wenn man mit einer Ausnahme anfängt, hören die Forderungen anderer Branchen nicht auf.
- Die Rationierung soll mit Gaskontingenten erfolgen. Die Gasanbieter werden eine gewisse Menge Gas je nach Verbraucher zulassen. In der Verordnung heisst es: «Bei eingeschränkter Versorgung wird der Handel mit Kontingenten zu ermöglicht, um damit den möglichen Schaden bei den Verbrauchern der Wirtschaft so tief wie möglich zu halten.» Die heikle, und noch nicht genau definierte Frage dürfte wohl sein, wer wie viel bekommt, je nach Kontingent.
- Es soll auch zur «kurzfristigen Abschaltung von Grossverbrauchern» kommen – von Produktionsstätten der Industrie, Nahrungsmittelherstellern oder von Rechenzentren. Diese Variante dürften die Grossverbraucher wohl nicht schätzen, vor allem wenn die Abschaltung nicht freiwillig geschieht. Eine solche Massnahme sei abhängig von der Schärfe der Krise, sagte Parmelin. Der Bundesrat beantwortete auch, warum er diese Möglichkeit will: «Damit soll innert 24 Stunden die Einsparung grosser Energiemengen erzielt werden.» Weil Schadenersatzforderungen auf ihn zukommen könnten, will er klären, in welcher Höhe der Bund bereit wäre, Entschädigungen zu leisten. Die Arbeit ist in diesem Punkt noch nicht getan. «Abgeltungsmöglichkeiten und die Überwälzung der dadurch entstehenden Kosten auf die Gastarife zu prüfen»: So steht es in der Mitteilung.
- Die Dauer solcher Notmassnahmen ist jetzt bekannt: «Die Mindestdauer von 24 Stunden kann bei einer Stabilisierung der Versorgungslage auf 7 Tage oder mehrere Wochen ausgedehnt werden.» Mit anderen Worten: Je nach Situation kann der Bundesrat die Notlage für nur einen Tag ausrufen, für eine Woche oder gar mehrere Wochen.
Die Lage entspannt sich, aber es bleiben offene Fragen
Hört man sich beim Bund und den Gasbetreibern um, wird deutlich, dass die Wahrscheinlichkeit für eine solche Notlage derzeit klein ist. Die Gaslager sind mit zu über 90 Prozent des Füllstands fast voll. Neues Gas, vor allem dank Flüssiggastransporten, strömt nach Europa, auch nach Deutschland.
Die offene Frage ist, welche Sonderfälle mitspielen, damit es dennoch zu einer Notlage kommt. Zum Beispiel, dass mehrere französische AKW ausfallen, sodass der Strom durch Gasproduktion ersetzt werden müsste. Oder dass ein sehr harter, kalter Winter Deutschland durchschütteln würde, sodass das Gas für die dortige Industrie knapp würde. Dies hätte dann Auswirkungen auf die Gasvorräte in der Schweiz.
Und schliesslich ist auch die Frage noch unbeantwortet, ob die schweizerischen Gasbetreiber auf die bestellten Notvorräte im Ausland zugreifen müssen und diese grenzüberschreitend auch wirklich bekommen. Bekanntlich liegt der einzige grosse Gasspeicher in Frankreich. In der Not ist sich jedes Land am nächsten, das hat die Pandemie gezeigt. Und gut möglich, dass Länder wie Frankreich oder Deutschland unilateral Gasexporte in die Schweiz zurückhalten. Diesen Fall nannte auch der Leiter Fachbereich für wirtschaftliche Landesversorgung, Urs Näf, an der Pressekonferenz.
Deutschland hat sich bisher geweigert, ein sogenanntes Gas-Solidarabkommen mit der Schweiz zu unterzeichnen, das den Notfall regeln würde. Der Grund: Brüssel hat ein solches untersagt, solange die Schweiz nicht einer Streitbeilegung nach den Regeln des EU-Binnenmarktes zustimmt.