Vor knapp einem Jahr sind Sie aus dem Bundesrat zurückgetreten. Wie fühlen Sie sich heute?
Doris Leuthard: Es geht mir gut. Mein Leben ist wieder deutlich entspannter. Geholfen hat mir sicherlich, dass mein Mann und ich gleich nach meinem Rücktritt auf Reisen gegangen sind.
Langweilig dürfte es Ihnen auch jetzt nicht werden. Neben Mandaten bei Coop und in gemeinnützigen Stiftungen sollen Sie im Frühling bei Stadler Rail in den Verwaltungsrat gewählt werden. Kritisiert wird, dass Sie schon jetzt in eine Firma gehen, die Ihrem alten Departement nahesteht. Was halten Sie davon?
Bis zu meiner Wahl in den Stadler-Rail-Verwaltungsrat werden über 15 Monate verstrichen sein. Zum Vergleich: In der Wirtschaft gilt in der Regel eine Wartefrist von sechs Monaten. Und was die Nähe betrifft, so gibt es zwar einen Berührungspunkt, weil der Bund das Bahnnetz ausbaut. Die Züge werden aber von den Transportfirmen bestellt – mit dem offiziellen Ausschreibungsverfahren der WTO. Der Bundesrat hat null Einfluss darauf.
Werden Sie bei Stadler Rail als Türöffnerin zu ausländischen Politikern fungieren?
Ich bin noch nicht gewählt und noch nicht Mitglied eines Komitees. Daher kann ich hierzu noch nichts sagen.
Zuletzt hat Sie auch die Postauto-Affäre nochmals eingeholt. Gemäss der Geschäftsprüfungskommission hätten Sie gegen den Zielkonflikt bei Postauto etwas unternehmen sollen. Sind Sie damit einverstanden?
Die Zielvorgaben des Bundesrates gehen an den Konzern. Dass dieser eine Rendite erzielen muss, ist klar, es handelt sich ja um eine Aktiengesellschaft. Wie die Post die Vorgaben auf die diversen Unternehmen umlegt, ist ihre Sache. Es gab nie eine Vorgabe, dass Postauto Gewinn machen soll. Zudem wurde 2012 klargestellt, dass beim regionalen Personenverkehr die Rendite null sein muss, wie es im Gesetz steht. Das muss man in den Vorgaben nicht wiederholen. Es gab spätestens ab da keinen Konflikt. Die Verantwortung liegt klar bei Postauto. Dem Bundesamt für Verkehr oblag die Aufsicht. Und dieses hat spät, aber immerhin als Einziges die Machenschaften 2017 aufgedeckt.
«Vielleicht ist der Bundesrat ja froh, wenn ich zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik eine Scharnierfunktion übernehme.»
Wie stark sind Sie heute eigentlich noch in die Politik involviert?
Ich will mich nicht direkt einmischen. Es gibt aber Themen – das Europa Forum Luzern oder die Swiss Digital Initiative beispielsweise – die ich gerne begleite. Und vielleicht ist der Bundesrat ja froh, wenn ich zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik eine Scharnierfunktion übernehme. Hier spüre ich ein Bedürfnis.
Sie werden zur grauen Eminenz?
Nein, das tönt für mich zu negativ. Ich sehe mich vielmehr als Vermittlerin.
Eine Vermittlerin würde der Beziehung zwischen der Schweiz und der EU guttun. Es heisst, wir befänden uns an einem Scheideweg. Sehen Sie dies auch so?
Das heisst es vor jeder Abstimmung. Allerdings halte ich die Begrenzungsinitiative tatsächlich für entscheidend, was unsere Beziehung zur EU betrifft. Es wäre verheerend, wenn wir den bilateralen Weg aufgeben würden. Nun wird sich die Schweizer Bevölkerung nochmals dazu äussern. Ich hoffe, dass damit die Frage endgültig beantwortet wird. Denn wir brauchen endlich Stabilität und Rechtssicherheit im Verhältnis mit der EU. Deshalb ist das Rahmenabkommen so wichtig, auch wenn beim Lohnschutz und bei den Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofs durchaus Vorbehalte angebracht sind. Wir müssen endlich vorwärts gehen.
Ist die Schweiz zu träge?
Gegen aussen erwecken wir zumindest den Anschein, dass wir selber nicht genau wissen, was wir wollen.
Dies wurde Ihnen von der EU so gesagt?
Ja. Und es sind Rückmeldungen, die ich durchaus nachvollziehen kann: Der Bundesrat spricht schon seit zehn Jahren über das Thema, seit Dezember 2013 haben wir hierzu ein Mandat. Gleichzeitig ist der Verhandlungshorizont bei einem sehr komplexen Anliegen wie dem Brexit viel kürzer. Aus EU-Perspektive erstaunt es, dass wir so viel Zeit benötigen.
Woran liegt es?
Anfangs war die Wirtschaft noch skeptisch. Die Stimmung hat gedreht, als 2018 bei Jean-Claude Juncker der Geduldsfaden riss und die Börsenäquivalenz und das Forschungsabkommen ausgesetzt wurden. Man hat gemerkt, dass sich die Situation der Schweiz damit deutlich verschlechtern würde. Bis auf die Gewerkschaften steht heute die Wirtschaft in den Grundzügen hinter dem Abkommen.
Zuletzt war es seitens der Parteien aber erstaunlich ruhig.
Die Parteien hatten wegen der Wahlen eine Ausrede. Es wäre schön, wenn man nun die Sache unterstützen und den Bundesrat bei den noch offenen Fragen konstruktiv begleiten würde. Der Prozess bis zu einem Referendum ist danach noch lange. Ich kann aber auch verstehen, dass es nicht allzu attraktiv ist, ein Abkommen mit einem Verbund zu schliessen, der wie die EU selber einige Probleme zu lösen hat. Doch ich sehe keine Alternative.
«Die EU ist zumeist gesprächsbereit. Es liegt an der Schweiz, ihr ein Angebot zu unterbreiten.»
Mit den Wahlen in der Schweiz wurden einige Kritiker des Rahmenabkommens abgewählt. Wird es nun einfacher?
Nein. Eigentlich steht nämlich nur die GLP ohne Wenn und Aber hinter dem Abkommen. Die Grünen dagegen waren nie sehr europafreundlich. Allgemein sind die Positionen beim Lohnschutz bezogen. Ich hoffe aber, dass sich am Ende der Pragmatismus durchsetzen wird und man nicht jedes Detail regeln will. Ohnehin besteht noch viel Klärungsbedarf. Ich hoffe, dass die Leute erkennen, dass ein sauberes Verhältnis im Bereich Marktzugang mit Europa viel besser ist als Rechtsunsicherheit, die lähmend wirkt und den Standort Schweiz schwächt.
Am 1. Dezember übernimmt Ursula von der Leyen das EU-Kommissionspräsidium. Wie wichtig ist dies für die Schweiz?
Frau von der Leyen kennt die Schweiz sicherlich gut. Dadurch erwarte ich ein gewisses Grundverständnis für unsere Anliegen. Aber dieses hatte auch Herr Juncker, und er war uns eigentlich immer wohlgesinnt. Doch er hat die Geduld verloren. Die Trägheit und gewisse Kommentare in den Zeitungen haben ihn genervt.
Die Beziehung zu Jean-Claude Juncker war am Ende unterkühlt.
Herr Juncker hat die Kritik, auch an seiner Person, nicht ganz verstanden. Man vergisst hierzulande manchmal, dass unsere Medienprodukte auch im Ausland gelesen und wahrgenommen werden.
Stehen Sie noch in Kontakt mit ihm?
Er hat mich erst kürzlich angerufen. Ich versuche, zu gewissen Politikern in Europa den Kontakt zu halten.
In den Brexit-Gesprächen hat sich die EU zu Nachverhandlungen bereit gezeigt. Welche Bedeutung hat dies in Bezug auf eine mögliche Nachbesserung des Rahmenvertrags mit der EU?
Am Ende musste vor allem London Zugeständnisse machen. Die EU hat durch den Brexit aber gelernt, dass eine sture und rigide Haltung nicht immer zielführend ist.
Also kommt es nochmals zu Gesprächen.
Die EU ist in der Regel gesprächsbereit. Es liegt aber an der Schweiz, der EU ein Angebot zu unterbreiten. Ich denke schon, dass hier noch nicht das letzte Wort gesprochen ist.
Wie zuversichtlich sind Sie, dass man das Rahmenabkommen bald abschliesst?
Man wird wohl zuerst die Mai-Abstimmung abwarten. Ich hoffe, dass man bis dahin nicht untätig bleibt, mit den Sozialpartnern zusammensitzt und das Feld mit der neuen Kommission auslotet. Sonst verlieren wir viel Zeit. Es wäre schön, wenn das Abkommen 2020 zustande kommt. Denn erst danach startet der Ratifikationsprozess. Auch dieser wird kein Spaziergang. Mit Vernehmlassung, Botschaft und Beratung im Parlament dürften nochmals gut zwei Jahre verstreichen.
Bis in der Schweiz etwas schnell geht, braucht es den Druck aus dem Ausland.
Tatsächlich wartet die Schweiz immer etwas lange. Und alles, was man unter Druck lösen muss, wird in der Regel nicht so gut, wie wenn man Zeit hat. Das hat man beispielsweise beim Bankkundengeheimnis gesehen. Es wäre besser, man fände vorher unaufgeregt eine eigene Lösung.
Den Druck der Strasse hat man bei den jüngsten Wahlen gespürt. Was halten Sie von der Klimabewegung?
Ich habe Freude daran, dass sich viele junge Menschen einbringen. Inzwischen sind aber auch einige Leute dazugekommen, welche die Bewegung für Forderungen nutzen, die nicht zielführend sind. Mein Vorwurf an die Klimabewegung lautet: Viele Veränderungen in der Gesellschaft und der Wirtschaft brauchen Zeit. Man kann nicht einfach einen Knopf drücken und alles läuft elektrisch. Am Ende ist aber das Resultat entscheidend: Der Druck der Strasse hat zu einem Umdenken geführt. Nachdem das CO2-Gesetz noch im Dezember 2017 vom Nationalrat zurückgewiesen wurde, dürfte es inzwischen problemlos durchkommen.
Vor kurzem sind die USA definitiv aus dem Klimaabkommen ausgestiegen, welches Sie 2016 für die Schweiz ratifiziert haben. Wie viel ist dieses heute noch wert?
Es dürfte sich wahrscheinlich nicht allzu viel ändern. Allgemein gilt: Donald Trump unterstützt zwar die Öl- und Gasindustrie. Doch der Grossteil der US-Wirtschaft ist auf einem anderen Weg. Vieles, was Energie betrifft, ist in den USA auf Staatenebene geregelt. Und hier sind Staaten wie Kalifornien oder Massachusetts schon weiter. Ich bin auch überzeugt, dass sich der Ausstieg aus dem Klimaabkommen für die USA nicht auszahlen wird und sie einen technologischen Nachteil haben werden.
Läuft die Umsetzung der Energiewende in der Schweiz wie geplant?
Soweit ich die Zahlen des Vorjahres kenne, sind wir auf Kurs. In zwei Bereichen sehe ich aber noch Schwierigkeiten: Bei der Wind- und der Wasserkraft. Windräder haben vor allem in der Deutschschweiz grosse Akzeptanzprobleme. Und bezüglich Wasserkraft gibt es immer wieder Konflikte mit dem Landschaftsschutz, Gewässerschutz. Dagegen hat die Fotovoltaik eine grosse Akzeptanz und wird flächendeckend installiert. Ohne Wind werden wir aber vor allem im Winter während ein paar Wochen Versorgungsprobleme haben. Es braucht entweder neue Windparks oder mehr Stromimporte.
Alt Bundesrätin Doris Leuthard wird am Europa Forum Lucerne zum Veranstaltungsmotto «Aufbruch statt Abbruch» referieren. Neben Leuthard werden weitere prominente Gäste am Annual Meeting erwartet, unter ihnen Bundesrat Ignazio Cassis, der deutsche Aussenminister a. D. Sigmar Gabriel, Staatssekretär Roberto Balzaretti, Credit-Suisse-CEO Tidjane Thiam oder Lufthansa-Chef Carsten Spohr.
Das Europa Forum Lucerne findet am 3. und 4. Dezember 2019 im KKL in Luzern statt. Die Veranstaltung bietet Orientierung im Verhältnis von Europa und der Schweiz und den globalen Wirtschaftsmächten.
Neue Speichermöglichkeiten mit Grossbatterien reichen nicht?
Nein, und sie sind auch noch zu teuer. Ich bin aber optimistisch, dass die Forschung die Speicherlösungen bis 2035 ausweiten kann und die Preise sinken werden. Die Versorgungssicherheit ist laut Gutachten weitgehend gewährleistet, aber es braucht noch technische Lösungen und Zeit.
Ende Jahr wird aber bereits das KKW Mühleberg abgeschaltet.
Der Winter ist mit oder ohne KKW eine Herausforderung für die Swissgrid. Wenn es kalt ist und die Industrie auf Hochtouren läuft, dann muss man sich im europäischen Verbund absichern.
Da wäre ein Stromabkommen nützlich …
Ja, eindeutig. Die Voraussetzung dazu ist aber das Rahmenabkommen. Es wird somit noch einige Jahre dauern, bis ein Stromabkommen in Kraft tritt, auch wenn es eigentlich bereits ausgehandelt ist. Ohne dieses haben die hiesigen Versorger den Nachteil, dass sie höhere Preise bezahlen müssen – wir sprechen da von dreistelligen Millionenbeträgen.
Wie kommt die Energiewende im Schweizer Gebäudepark voran?
Dieser Bereich erfüllt seit Jahren die Ziele. Bei den Altbauten ist die Renovationsquote allerdings noch ungenügend. Aber es wird viel getan. Der Pferdefuss der Schweiz ist die Mobilität.
Sie präsidieren die Swiss Digital Initiative. Sie soll ethische Standards in der digitalen Welt festlegen. Wozu braucht es sie?
Es gibt viele digitale Anwendungen, die nach ethischen Standards verlangen. Denken Sie nur an die künstliche Intelligenz oder Kriegsroboter. Es herrscht grosse Unsicherheit darüber, ob die Regeln der analogen Welt für die digitale ausreichen. Als Kunde ist man oft ausgeliefert und verunsichert, was mit den Daten passiert. Ebenso nehmen Cyberangriffe zu und bringen Schaden in grossen Summen mit sich.
«Im Internet kann man nicht national denken.»
Weshalb sollen die Unternehmen mit Ihnen zusammenarbeiten?
Bereits bei der Lancierung im September waren Konzerne wie Facebook, Microsoft oder Uber präsent. Für sie geht es um die Reputation. Es braucht Prinzipien, Regeln, um das Vertrauen der Kunden in die Unternehmen respektive in deren Applikationen zu stärken. Dasselbe gilt bezüglich Transparenz. Wir arbeiten nun mit dem WEF zusammen, mit dem Ziel, im Januar ein erstes Projekt vorzustellen.
In welche Richtung soll es gehen?
Im Internet kann man nicht national denken. Es braucht Lösungsansätze, die man weltweit anwenden kann. Idealerweise werden sie von der unabhängigen Wissenschaft zusammen mit den Unternehmen erarbeitet. Entscheidend ist, dass wir die Tech-Giganten für solche Standards und allgemeingültige Prinzipien gewinnen können. Die Schweiz hat hier etwas zu bieten und eine grosse Erfahrung.
Abschliessend: Was wünschen Sie sich für die Schweiz der Zukunft?
Mit dem Handelsstreit, dem Brexit, vermehrten Unruhen und Migration wird es auch 2020 wirtschaftlich schwierig. Ich würde mir wünschen, dass das BIP-Wachstum wieder besser ausfällt, sich aber in Richtung Nachhaltigkeit verändert. Wachstum auf Kosten der Umwelt oder der Menschen ist problematisch. Und natürlich sollten wir mit der EU einig werden – je schneller, je besser. Die Schweiz sollte sich zudem in den Bereichen Robotics, künstliche Intelligenz und Umwelttechnologie positionieren. Gleichzeitig müssen wir unbedingt eine Lösung für die nationale Sozialversicherung oder die negativen Folgen der Digitalisierung, insbesondere aufgrund der Ängste vor Arbeitsplatzverlust finden.
Sollte die Schweiz den EU-Beitritt vorantreiben?
Nein, das hätte in der Bevölkerung keine Chance – und es passt auch nicht zu uns.