Kaum spürt man die Wärme des nahenden Sommers auf der Haut, besinnt sich der handwerkslose Grossstadtbewohner darauf, wenigstens die Sonnenbrille als Schutz vor den visuellen Gefahren der Biossphäre in diversen Schubladen zwischen Batterien, Nägeln, unterschiedlichen Generationen von Leathermans und mehreren Dutzend verwaisten Ladegeräten zu suchen. Unmittelbar danach werden die übrig gebliebenen Sonnencreme-Kontingente, welche über den Winter zu lackähnlichen Substanzen mutiert sind, noch einmal aufgetragen, um dann doch angstgetrieben, in der Drogerie des Vertrauens, astronomische Lichtschutzfaktoren mit Leichtmetallzusatz zu erstehen.
Ganz entgegen der dialektischen Disposition zwischen ingeneurigem Dominanzstreben und non-invasiven veganen Lebensträumen, machen sich auch gestalterische Krankheitssymptome bemerkbar, die bei der Betrachtung grüner konsistenter Flächen oder farbiger Blüten- und Fruchtstände, anabole Steroide in grossen Mengen freisetzen und dabei der emotionalen Unvernunft folgen. Unüberbrückbare, gestalterische Hürden der winterlichen Wohnzimmergemütlichkeit aus Kvadrat Stoffen, George Nelson-Sofas und olfaktorischer Erzgebirgs Räuchermännchenidylle werden im Rausch dieser hormonellen Ausschüttung übersprungen, als hätte Allen Johnson Dopamin pur gespritzt.
Wie eine gedopte Fremdbestimmung
Das Ganze fühlt sich an wie eine gedopte Fremdbestimmung, die den angehenden Intensiv-Hobbygärtner unkontrolliert an die Gestade der Baumärkte branden lässt. Ist man gestrandet wirken die flimmernden Verkaufsförderungsvideos in den Regalen der Gartencenter wie brandingbetonte Agitprop-Versionen der homerschen Sirenengesänge. Frei nach Lenin wird im Kontext von Propaganda und Agitation eine Aussaat der besonderen Art in die Hochbeete des städtischen Privat-Grüngürteldenkens eingebracht, kurz gesagt: Er (der Garten/Baumarkt) muss viele Ideen vermitteln, so viele, dass sich nur (verhältnismässig) wenige Personen all diese Ideen in ihrer Gesamtheit sofort zu eigen machen werden da sie eventuell nur einen Balkon besitzen.
Der Agitator (Dünger/Pestizidprovider) hingegen, der über die gleiche Frage spricht, wird das allen seinen Hörern (den Hobbygarten-Aktivisten) als das bekannteste und krasseste Beispiel herausgreifen (Fliege, Schnake, Kohl-Weissling-Drahtwurm, Schnellkäfer, Engerlinge, Grillen, Fadenwürmer, Nacktschnecken, Schnirkelschnecken, Spinnmilben, Wühlmäuse und Feldmäuse, Kaninchen und Feldhasen, nicht zu vergessen die pflanzliche Fraktion aus Mehltau-, Rost- und Brandpilz)
Im Reich der Hightech-Grünpflege
Spätestens jetzt fühlt sich der von Schädlings-Feindbildern Getriebene im Reich der Hightech-Grünpflege willkommen. Zielgruppengerecht wird von nun an ein Strauss den gartenkampfbetonten Produktdesignideen über seinen Bedürfniswelten ausgeschüttet. Da stehen auf Kunstrasenflächen aufgereihte bunte Rasenmäher, deren windkanalgetesteten Karosserien jeden Bugatti Veyron 16.4. erblassen lassen und effektiv genutzt dem täglichen aerodynamischen Mähgeschäft viele Sekunden entreissen können; alles übrigens mit sportlicher Breitbereifung und brachialen Felgendesign.
Wer ein schlechtes Gewissen mit sich herumträgt weicht auf Hybridmodelle aus und agiert nachhaltig im Hurricane der rotierenden Messer. Wird die Luft für den Rasenschnitt im Mekongdelta des heimischen Gartens knapp, gibt es behende Vertikutierer und für den Grafiker unter den Rasenpflegewilligen eine Vielzahl an Trimmern, die es ermöglichen die Randgebiete des Gartenzonen-Grids bis auf den Millimeter im Sinne Ottl Aichers festzulegen. Dabei kommt auch die Benutzerergonomie nicht zu kurz. Grandiose Abrutschsicherheit und schwindelige Umdrehungszahlen jenseits der 10000er Marke lassen den Ordnungshüter des Grasnabendesigns vor Glück taumeln.
Ins rechte Sonnenlicht rücken
Vorbei die Erinnerung an den von Kind und Hund malträtierten Golfrasen, der ein Diorama des Scheiterns als «Little Verdun» vor dem Nachbar ausbreitete. Mit einer neuen Chance und professionellem Survival Equipment kann das neue Mitglied der Special-Gardening-Forces-Unit vieles wieder ins rechte Sonnenlicht rücken. Den ehemals Gescheiterten lassen von nun an die Replikanten-Träume von der Rückkehr auf den Heimatplaneten und zur gesegneten Gartenscholle nicht mehr los.
Die Hoffnung, in die Gesellschaft derer aufgenommen zu werden, die den grünen Planeten aus Hochbeeten und Tröpfelbewässerung trotz des atomaren Winters wiedererstehen liessen stirbt, wie in Ridley Scotts «Blade Runner», zuletzt. Der Traum von der monumentalen Plakativität eines Daseins im Liegestuhl mit Bluetooth-Soundbox, Hauspumpenwerk, Multimaster mit «all purpose E-Cut-Sägeblatt (44 mm)» und »Stihl Motorsäge mit 1/4 «Sägekettenteilung» zerplatzt jedoch schnell als konsumgenerierte Garten-Dystophie.
Das Erwachen aus der Euphorie
Viele der orientierungslos zwischen den Regalen umherirrenden Startup-Gärtner erwachen aus ihrer euphorischen Konsum-Grundstimmung erst angesichts der Kasse. Der eine oder andere besitzt nämlich einen viel zu kleinen oder gar keinen Garten und selbst ein gut getesteter PS-starker Brill Vertikutierer macht auf dem Estrich des heimischen Balkons schnell schlapp - vorbei der Traum vom Fachsimpeln über Baumveredelung, Keimling und Bestäubung als Glienecker Brücke zum entfremdeten Nachbarn mit anschliessender Synchronisation durch Sechsämtertropfen.
Aber es gibt Alternativen auf der Suche «nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest» und wenn nur ein Balkon ruft. Im quadratmeterarmen Fassadengrünbereich besteht sogar eine viel höhere Wahrscheinlichkeit im Rangeln um die Sichtbarkeit der eigenen Gartenskills zu punkten, als mit einem, hinter meterhohen Zäunen versteckten, Grünkonzept. Ähnlich der Haustür im Reihenhauskontext ist der Balkon die ideale Projektionsfläche des Wohnungsinhabers und bestens geeignet den eigenen gestalterischen Anspruch nach aussen zu kommunizieren. Er legt ausserdem Zeugnis ab von der Egomanie oder dem Altruismus des Bewohners - ein Seelen-FKK an der Fassade eben.
Authentischer Diskurs aus Irrtum und Geniestreich
Die rituelle Umkreisung der balkonierten Brennpunkte des urbanen Erlebnisraumes bietet gerade deswegen einen besonders authentischen Diskurs aus Irrtum und Geniestreich. Beispielsweise erweist sich die Montage einer Satellitenschüssel im Lebensumfeld als fataler gestalterischer Irrtum, mit dem ein Bewohner der zugehörigen Wohnung eine orbitalen Hilfeschrei aussendet. Die konkave Antennen-Blechfläche dokumentiert ein Bedürfnis zum opportunistischen Dauerkontakt mit den Sendern dieser Welt. In diesem ikonografischen Element der Medienwelt wird rotationssymmetrische Einsamkeit ästhetisch verpackt. Das auf dem Balkon hilflos arrangierte und empfangskontaminierte Konglomerat aus ergrauten Kabeln und Multifeed LNB´s, versendet jegliche genussorientierte Zwischenmenschlichkeit.
Drei Kernzielgruppen klassifizierbar
Dieser Offset-Elektrosmog der Belanglosigkeit spielt für die ernstzunehmende Topfpflanzenfraktion keine Rolle, allenfalls wird mitleidig auf diese Zeugnisse der Astra-Isolation herabgesehen. Der gemeine Balkonista ist dagegen hochambitioniert aber doch visuell grob in drei Kernzielgruppen klassifizierbar:
Eines der am häufigsten vorzufindende Balkonkonzepte ist beispielsweise ein Setzling des Aristippos von Kyrene und scheitert letztendlich genau an den Folgen des von ihm propagierten ungezügelten Hedonismus: der «Fun-Balkonista». So verstopfen in der Regel Unmengen von Bierflaschen die infrastruktuerelle Dimension dieser Balkonwelten.
Zu dieser beim Begehen gerne klirrenden Glasblockade (Nachbarschaftsproblematik!) gesellt sich gerne ein in Wickeltechnik applizierter endlos-Leuchtschlauch mit Blinkfunktion. Auch der instabile, leicht rostende Drei-Bein Baumarkgrill von mittleren Ausmassen ist Teil dieser genussorientierten Chaostheorie. Gestalterisch fehlt dem Grill jedoch die Finesse und das posttraumatische Partysyndrom aus Fettresten und halbabgebrannter Grillkohle, das dem Konzept ästhetisch gesehen den Rest gibt. «Urban Gardening» gerät hier zum «Urban Headbanging» und das allgegenwärtige Baumarktequipment ist eher von einem Perfektiononierungswillen im Sinne von Partyfunktionalitäten geprägt.
Doch zurück zum Fokus unserer Betrachtungen: Nur wenige Pflanzen schaffen es in dieser Vergnügungs-Namib zu überleben und stemmen sich ähnlich einer «Welwitschia mirabilis» gegen das langsame Sterben mit extremer Anspruchslosigkeit. Für diese Profanbiotope sind Bodendecker, multiresistente Kakteen oder Papyruspflanzen im immerfeuchten Wassertopf angezeigt - Designfaktor 0 (Schala 0-6).
Die zweite Gruppe
Eine zweite Gruppe die sogenannten «Common-Balkonistas» betreiben die Topfpflanzenfülle deutlich ambitionierter. Hier wird zwar während sportlicher Grossveranstaltungen auch schon mal eine Flagge in bescheidenen Ausmassen gehisst aber schon im Grillbereich geht es ganz anders zu. Erste Zweifel am Genuss grosser Fleischmengen werden laut. Erhöhter Grillgemüsekonsum wird eingeklagt.
Zur Hipstermütze gesellt sich hier der High-Tech-Ventilationsgrill mit minimalen Holzkohleverbrauch. Bei den Planzen kommen Kirschloorbeer, verschieden Palmensorten, Hibiscus oder Citrusgewächse zum Einsatz. Mediterrane Kräuter versprechen einen aromatischen Kontrapunkt zur technischen Geruchsdimension der 3-Wege Katalysatoren im Strassenbereich und verfeinern statt der roten Grossmarktmarinade aus Cochenillen-Schildlaus und Aromen, authentisch das nachhaltig das produzierte Grillgut.
Wer aber denkt, das Infektionsrisiko mit dem Garten/Baumarkt-Design-Virus wäre in diesen Kultur-Soziothopen gering, der irrt. Die Elektrifizierung im hedonistischen Gewand findet gerade in diesen Zielgruppen ihre Abnehmer. LED als Buntlichterkette mit traditioneller E27 Fassung werden gerne als Reminiszenz an die oft vermisste Bierseeligkeit unter dem Kastanienbaum eingesetzt. Die ambitionierte Positionierung zum Designumfeld manifestiert sich auch durch den Einsatz teurer und stark pigmentierter Farben aus dem Fachhandel (Baumärkte aufgepasst!).
Der Werkzeugeinsatz in diesem Umfeld beschränkt sich natürlich auf wenige Tools. Für die Pflanztopfpflege ist eine schicke polierte Aluminiumschaufel immer in Reichweite und wenn mal was danebengeht gibt es einen dieser akkugetriebenen Saugmonster mit 15 Zyklonen, in zwei Reihen und einem digitalem V6 Motor. Von weitem gesehen kommt diese »Common« Version des Urban Gardenings dem Bild eines erfolgreichen Gärtners schon sehr nahe. Designfaktor 4.
Die dritte Gruppe
Will man aber Königinnen dieser Disziplin finden, muss man sich auf eine lange Suche einstellen und darf auch die sehr privaten Hinterhöfe der Grossstadt nicht ausser acht lassen. Hier im Verwunschenen sitzen die «Extrem-Balkonistas» und lassen wie Rapunzel die Ranken aus den luftigen Höhen ihrer Balkone auf uns neidisch emporblickende Grünvoyeure herab.
Tiroler Hängegeranien, hängender Duftsteinrich und Dichondra werden als visuelle Erlebniswelten blühend über uns ausgeschüttet. Man kann nur erahnen, wie sich die Koexistenz mit nahezu ausgestorbenen Zuccini- und Tomatensorten oder der Blick auf durch Roundup vernichtet- und vergessen- geglaubte Blütenrefugien anfühlen muss. Eine reiche Erlebniswelt des Besitzers/Bewohners scheint garantiert und die Hochbeetstrategien, Miniaturgewächshäuser und computergesteuerten Tröpfelbewässerungen lassen uns ungläubig auf dem Boden der Tatsachen zurück.
Wenn dann noch der Inhaber des Biotops mit wirrem Haar und einer «Haws Long Reach 8,8 l Giesskanne» den Balkon betritt, fällt der Zuschauer ehrfurchtsvoll auf die Knie. Er imaginiert wie es ist «Extrem-Balkonista» zu sein. Dort oben im Himmel des «Urban Gardenings» liegen sicher die ultimativen Gartenwekzeuge: klassische Formschnittscheren, die seit 1730 den Miniaturgarten formal definieren, Handgabeln, Gartenkrallen, Handharken und nicht zuletzt Handschaufeln, allesamt mit Holzgriff versehen und von glanzvoller Nachhaltigkeit. Leuchtenden Zierrat dagegen sucht man vergebens, alles bewegt sich hier im Sinne der Pflanzenwelt. Designfaktor 6.
Die Pflanzenwelt wird obsiegen
Über die phylogenetische Entwicklung aller Balkonistas und deren hochindividualisierter Gestaltungswelt liesse sich noch viel sagen, aber am Ende wird die Pflanzenwelt den Züchtigungsbestrebungen im Balkon- und Gartenbereich obsiegen, egal wie gut das Design oder technologisch ausgereift die Instrumente sind.
Charles Darwin wusste das schon vor 150 Jahren: «Alles, was gegen die Natur ist, hat auf Dauer keinen Bestand».
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