Nach Winterthur wollt ihr ziehen?» Die Freunde waren teils belustigt, teils erschrocken. «Muss man den Pass zeigen, wenn man euch besuchen will?» «Gibt es dort auch genug zu essen?»
Zugegeben, die Idee war für Leute aus der Stadt Zürich ziemlich exotisch. Aber das Haus passte, die Umgebung sowieso. Knapp dreissig Autokilometer vom Bellevue, 17 Minuten mit der S 12 – was soll die Aufregung?
So naiv kann nur ein zugelaufener Innerschweizer fragen. Die mentale Distanz zwischen Zürich und Winterthur entspricht noch immer der halben Entfernung zwischen Erde und Mond. Zürich tickt metropolitan und urban, Winterthur ist ostschweizerisch-ländlich imprägniert. Zürich platzt vor Selbstbewusstsein, Winterthur vor Neid.
Nach bald 25 Jahren mit dieser Stadt fragen wir uns ratloser denn je: Warum denn eigentlich? Die sechstgrösste Stadt der Schweiz ist ein angenehmer, zentraler Ort mit hoher Lebensqualität, kurzen Distanzen, reizvoller Umgebung – und mit unzürcherisch vernünftigen Liegenschafts- und Mietpreisen. Die Verhältnisse sind übersichtlich, die Altstadt pulsiert, die Schulen sind von exzellenter Qualität, die Verkehrsverhältnisse in der Agglomeration vergleichsweise entspannt. Entsprechend angenehm und pragmatisch ist das politische Klima. Immer mehr Stadtzürcher entdecken Winterthur samt Weinland, Töss- und Eulachtal als Wohnalternative. Die Preise für erstklassiges Wohneigentum in zentraler städtischer Parklage, acht Minuten vom Bahnhof, liegen 30 Prozent unter denjenigen für vergleichbare Lagen in Zürich.
Winterthur hat es noch nicht geschafft, das Image der Industriemetropole abzustreifen; dabei steht dort, wo einst Sulzers Giessereien waren, längst ein Media-Markt. Winterthur war zwar eine der ersten Städte mit einem professionellen Marketing, aber es verliert immer noch bei Ansiedlungsprojekten. Das Paketpostzentrum ging nach Frauenfeld, auch für die Briefpost hats nicht gereicht. Einen Dringlichschalter mit sonntäglichen Öffnungszeiten gibts nicht mehr, dafür eine städtische Internetseite (www.stadt-winterthur.ch), die als Muster für E-Government-Lösungen international beachtet wird. Dennoch haben Winterthurer Lokalpolitiker gemotzt. Update AG, die Firma, die für den Webauftritt verantwortlich war, sitzt halt in Zürich.
Einen wirklich fairen Wettbewerb hatte es zwischen Zürich und Winterthur nie gegeben. Wie selbstverständlich zog die Hauptstadt alles an sich, was Standortgunst und Prestige versprach: Verwaltung, Spitäler, Hochschulen, den Flughafen. Die ländlich geprägten Winterthurer verharrten im Irrtum, man könne sich im Leben durch harte Arbeit und Pflichterfüllung durchsetzen. Als sie ein einziges Mal versuchten, die Zürcher zu überlisten, verschuldeten sie sich auf Jahrzehnte hinaus. Es war zur Zeit des Eisenbahnbaus. Winterthur wollte den Gotthard konkurrenzieren und die Verkehrsströme auf eine Ostalpenvariante lenken, die Zürich weiträumig umfuhr. Aber Alfred Escher war schlauer. Der Gründer der Kreditanstalt, der die eine Hand auf der Kasse und die andere auf dem Staatssiegel hatte, setzte sich mit seinem Gotthard durch. Die Winterthurer Träume («Volksbahn gegen Herrenbahn») endeten in einem Schuldendebakel, das erst nach Jahrzehnten verkraftet war.
Zürich entwickelte sich wirtschaftlich und kulturell schneller, aber Winterthur setzte sich politisch durch. Die demokratische Bewegung, die schliesslich das «System Escher» stürzte, ging von Winterthur aus. Die ewige Rivalität machte die Winterthurer stolz und eigensinnig. Auf dem Höhepunkt der demokratischen Bewegung setzten sie ein Zeichen, das den Führungsanspruch Winterthurs betonte: Die Winterthurer liessen sich vom Stararchitekten Gottfried Semper als Stadthaus einen neoklassizistischen Tempel mit einem riesigen Saal bauen.
Auch in Winterthur ist die Politik immer der Wirtschaft gefolgt. Noch in den Sechzigerjahren, als jeder dritte in Winterthur Beschäftigte seinen Zahltag von Sulzer bezog, wäre gegen den Willen dieses Konzerns kein Nagel eingeschlagen worden. Damals waren es 11000 Sulzer-Arbeitsplätze, heute sind es noch etwas mehr als 2000. Die Leute waren so stolz auf ihre Firma, dass sich nicht wenige im Telefonbuch als «Sulzer-Arbeiter» eintragen liessen. Bei Sulzer (oder Rieter) zu sein, war so etwas wie ein Bürgerrecht, in manchen Familien gar ein erbliches. Mit 16 Jahren trat man in die Lehre ein, man wurde übernommen, leistete seine 45 Dienstjahre und wurde pensioniert. Man spielte Fussball und Tennis in den Firmenklubs, war bei der Sulzer-Krankenkasse versichert, und wenn die Kinder ins Berufswahlalter kamen – siehe oben. Die führenden Familien zahlten diese Loyalität mit Diskretion und Grosszügigkeit zurück – und mit einem Hang zum Mäzenatentum, das während der mageren Jahrzehnte manche Finanzierungslücke im öffentlichen Bereich, namentlich für die Kultur, schloss, «Gartenstadt» wird Winterthur genannt – und sie ist es in doppeltem Sinne. Nirgendwo anders gibt es so viele zauberhafte Villen und Parks als Ausweise des grossbürgerlichen Wohlstands. Die hablichen Familien – die Sulzers, Wolfers, Hahnlosers, Jezlers, Friedrichs und Reinharts – haben ihre Häuser später dem Publikum geöffnet; die Villa Flora an der Tösstalstrasse zum Beispiel, die eine der vielen Kunstsammlungen von Weltklasse beherbergt, ist eins der zahlreichen Beispiele für die noble Selbstverpflichtung des Winterthurer Bürgertums. Zugleich ist das von parkgesäumten Villen geschmückte Winterthur eine Stadt der «Pünten», der Kleingärten. Die Püntenpächter sind die wirkliche politische Lobby in der ansonsten eher friedfertigen Stadt. Neuerdings fühlt sich Winterthurs neuer Stadtpräsident Ernst Wohwend stark genug, sich mit dieser Einflussgruppe anzulegen und ein Terrain in Oberwinterthur für industrielle Expansionszwecke zu beanspruchen. Mit seinem auf Opportunismus gegründeten Konsensstil und einem ungebremsten Wachstumsglauben ist er ein wahrer Genosse von Elmar Ledergerber. In ihren Städten führen die beiden Stadtpräsidenten – gestützt von einer breiten Koalition fortschrittlicher Bürgerlicher und gemässigter Linker – ein Bündnis der lösungsorientierten Vernunft an. In beiden Städten spielt die parteipolitische Färbung der Exekutive derzeit kaum eine Rolle mehr.
Schliesslich ist es egal, ob es Sozialdemokraten sind, welche die liberale Politik machen. Hauptsache, dass!
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