Während Industrieunternehmen mit Macht in Richtung Industrie 4.0 vorpreschen, kommt die Digitalisierung beim Thema Versicherung nicht voran. Es sind vor allem die Rückversicherer, die mit digitalen Dienstleistungen im Industrieversicherungsgeschäft punkten. Die Vorstösse konzentrieren sich auf Bereiche wie Prävention, Produktionssteuerung, Wartung, Mitarbeiter-Krankenversicherung und die digitale Verwaltung von Industrieversicherungen. Vor allem die Munich Re ist hier sehr aktiv, aber auch Swiss Re und Scor bauen ihre digitalen Kompetenzen kräftig aus.
«Swiss Re Corporate Solutions rühmt sich seit langem, ein wissensbasierter und datengetriebener Versicherer zu sein», sagte Andreas Berger bei der Bekanntgabe der neuen Kooperation mit der Google-Tochter Verily. Der frühere Gerling- und Allianz-Manager ist seit 2019 CEO des Industriearms der Swiss Re. Im August startete die Swiss Re Corporate Solution zusammen mit Verily die digitale Plattform Coefficient, die US-Amerikaner beim Management ihrer Krankenversicherung unterstützt. Der Life-Sciences-Spezialist Verily steuert das digitale Know-how zu dem Gemeinschaftsprojekt bei, Swiss Re liefert die Versicherungsexpertise. «Wir gehen eine Partnerschaft mit Verily von Alphabet ein, um fortschrittliche Technologie und Datenanalyse zu nutzen, um das Risikomanagement im Bereich der Arbeitgeber-Stop-Loss-Versicherung zu erneuern», betont Berger.
Initiativen im Internet der Dinge
Die Rückversicherer haben in den letzten fünf Jahren ihre Aktivitäten in der Industrieversicherung ausgebaut, um dadurch das stark umkämpfte Rückversicherungsgeschäft zu diversifizieren. Mit ihren Digitalinitiativen wollen sie sich von den reinen Industrieversicherern abheben. Starker Fokus liegt auf Daten und dem wachsenden Potenzial des Internets der Dinge (IoT). Die Munich Re beispielsweise hat mit ihrer US-Tochter Hartford Steam Boilers eine Sensor-Technologie entwickelt, die Bauunternehmen vor Wasserschäden schützt. Lecks und Wassereinbrüche sind ein wiederkehrendes Problem auf Grossbaustellen. In Karlsruhe wurde der Bau der U-Bahn durch ein Leck um Monate zurückgeworfen. Jetzt bieten die Münchener die Technologie zusammen mit dem deutschen Versicherer VHV an.
Ein vollkommen neues Geschäftsmodell verfolg die Munich Re zusammen mit dem deutschen Maschinenbauer Trumpf. «Das gemeinsam entwickelte Pay-per-part-Modell soll es Kunden in Zukunft ermöglichen, Laservollautomaten von Trumpf nutzen zu können, ohne diese kaufen oder leasen zu müssen», berichtet die Munich Re. Stattdessen zahlen die Nutzer für jedes geschnittene Blechteil einen zuvor vereinbarten Preis. Pay as you produce, könnte man das nennen. Munich Re agiert als Business Enabler, Relayr stellt die IoT-Infrastruktur.
Investitionsmoratorium bei Industrie 4.0
In der Schweizer Industrie knüpft man grosse Hoffnungen an die Industrie 4.0. Weil die Schweiz bei 5G zu den internationalen Vorreitern gehört, sind die Startchancen gut. Die eidgenössische MEM-Branche will mit Digitalisierung Produkt- und Servicequalität verbessern und neue Geschäftsfelder erschliessen. Predictive Maintenance (PdM), Big Data, Internet of Things, Anomalie- und Mustererkennung zählen zu den Themen, mit denen sie sich beschäftigt.
Wegen der Pandemie und der damit verbundenen wirtschaftlichen Unsicherheiten mussten aber viele Investitionen zurückgefahren werden. Laut Statista stellen für 76 Prozent der gut 1000 Unternehmen der MEM-Branche fehlende personelle Ressourcen ein Problem bei der Umsetzung von Industrie-4.0-Projekten dar. Jedes zweite Unternehmen klagt über fehlende finanzielle Ressourcen. Dafür gibt es jetzt eine interessante Produktidee: Maschine plus Kostenersparnisversicherung. «Wir schätzen, dass mehr als zwei Drittel der grossen Industrieunternehmen derzeit den Einsatz von Predictive Maintenance erwägen», berichtet Simon Kampa, CEO von Senseye. Das britische Unternehmen unterstützt Industrieunternehmen bei der digitalen Wartung ihrer Produktionsanlagen. Zusammen mit dem Rückversicherer Scor bieten sie jetzt Industrieunternehmen eine Ertragsgarantie für ihre PdM-Investitionen an. Falls sich die Investition nicht innerhalb von zwölf Monaten bezahlt macht, bekommen die Kunden einen rückwirkenden Nachlass. «Obwohl unsere Erfolgsbilanz beweist, dass wir unseren Kunden zweistellige Millionenbeträge einsparen können, wissen wir, dass die Anfangsinvestition gerechtfertigt sein muss», sagt Kampa.
«Unsere Partnerschaft mit Senseye wird unsere Erfahrung im industriellen IoT vertiefen und uns helfen, neue Produkte zu entwickeln, die den sich entwickelnden Risikobedürfnissen unserer Kunden entsprechen», berichtet Laurent Rousseau, stellvertretender CEO der Scor Global P&C.
Lloyd’s-Initiative als globaler Blueprint
Die digitalen Initiativen der Rückversicherer in der Industrie setzen beim Thema Sicherheit an und verknüpfen digitale Services mit Finanzdienstleistungen. Das Digitalisierungsproblem im traditionellen Industrieversicherungsgeschäft lösen sie jedoch nicht. Die Marktteilnehmer bauen eigene Plattformen auf oder implementieren neue. Munich Re Specialty Insurance beispielsweise implementiert derzeit das Standardsystem von Duck Creek, die Swiss Re vermarktet die Eigenentwicklung IPA.
Das Problem liegt in fehlenden Marktstandards für den Datenaustausch. Hier verfolgt jedes Unternehmen eine eigene Strategie. Das jetzt von Lloyd’s vorangetriebene Digitalisierungsprogramm Blueprint 2 hat das Potenzial, zum internationalen Standardsetzer zu avancieren. Doch dafür müssen die Akteure über den eigenen Tellerrand schauen. Erste Schritte sind vielversprechend. Blueprint 2 legt mit einer Vielzahl von Londoner Marktteilnehmern Datenstandards fest. Neben den Lloyd’s-Unternehmen beteiligt sich auch ein Grossteil des Company Market. Die kontinentaleuropäischen Industrieversicherer sollten dieser Initiative ihr Augenmerk schenken.