Eigentlich ist die Schweiz in einer guten Position, was das vorausschauende Management von Katastrophen und Notlagen angeht. Verfügt sie doch über einen systematischen Prozess zu deren Identifizierung. Alle fünf Jahre publiziert das Bundesamt für Bevölkerungsschutz eine Lageanalyse, zuletzt hat es eine solche im November 2020 herausgegeben.
Covid-19 hat nun allen vor Augen geführt, dass die beschriebenen Szenarien nicht nur theoretischer Natur sind, sondern auch tatsächlich eintreffen. Eine Pandemie war schon seit vielen Jahren als mögliches Grossschadenereignis identifiziert und entsprechend in Risikomodellen der Versicherungen abgebildet worden. «Die Modelle haben vieles richtig antizipiert, inklusive der Auswirkungen auf den Finanzmarkt», betont Ivo Menzinger, Head Europe, Middle East & Africa für Public Sector Solutions bei Swiss Re und Projektleiter der SVV-Arbeitsgruppe Pandemieversicherung. «Der Fokus lag jedoch auf Lebensversicherungen und sekundär auf Branchen wie Kredit-, Veranstaltungs- oder auch Krankenversicherungen.» Niemand habe eine derart grossflächige und andauernde behördlich angeordnete Schliessung von Betrieben antizipiert, wie sie bei Covid-19 zur Anwendung komme.
Gigantische Schadensummen
Weltweit existierte kein Versicherungsprodukt, das auf das systemische Risiko eines Stillstandes der ökonomischen Aktivität ausgerichtet war. Der Grund: Ein solches verletzt die Prinzipien der Versicherbarkeit. «Bei einem erwarteten Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität um 12 Billionen Dollar durch Covid-19 in den Jahren 2020/21 wird auch schnell evident, dass das gesamte Kapital der globalen Versicherungswirtschaft nicht ausreichen würde, um dieses Risiko zu decken», so Menzinger. Dass der Pandemieausschluss in einigen Betriebsunterbrechungspolicen zum Teil zu wenig klar formuliert gewesen sei, habe zu Schadensummen geführt, für die folglich keine Prämien eingenommen worden waren. «Über alle Branchen hinweg schätzen wir die globale versicherte Schadensumme durch Covid-19 auf 50 bis 80 Milliarden Dollar. Dank der guten Kapitalausstattung und Ertragslage der Versicherungswirtschaft wird diese Belastung jedoch im Allgemeinen gut verdaut werden können.»
Die nächste Krise kommt bestimmt
Für Menzinger ist klar: Wenn die Gesellschaft bei einer nächsten Pandemie auch bezüglich Betriebsunterbrechung finanziell besser vorbereitet sein will, braucht es aufgrund der Nicht-Versicherbarkeit auf rein privatwirtschaftlicher Basis eine Public-Private Partnership, bei der der Staat Rückendeckung gibt. Die Diskussionen mit Verwaltung und der Versicherungswirtschaft hat er als Projektleiter der SVV-Arbeitsgruppe Pandemieversicherung als konstruktiv und pragmatisch erlebt. «Innerhalb weniger Monate haben wir Vorschläge entwickelt, die auch hinsichtlich der operativen Umsetzung wesentlich weiter gingen als die Überlegungen zu Pandemieversicherungen in anderen Ländern.»
Durch den Entscheid des Bundesrats, das Projekt auf Eis zu legen, seien die Probleme nicht aus der Welt geschafft: Bei der nächsten Pandemie werden Betriebsausfälle nicht privatwirtschaftlich entschädigt werden. Ivo Menzinger ist überzeugt, dass die Schweiz Corona besser kann als bis dato. «Auszahlungsregeln und Auszahlungsprozesse können im Voraus vereinbart werden, sodass Unterstützung sehr schnell an die tatsächlich betroffenen Betriebe fliesst, und zwar unabhängig davon, in welchem Kanton ein Betrieb sitzt. Das Risiko kann auch gerechter finanziert werden und muss nicht komplett auf jede Steuerzahlerin und jeden Steuerzahler überwälzt werden.» Mit einer Pandemieversicherung hätte ein Unternehmen einen rechtlichen Anspruch auf finanzielle Unterstützung, statt auf Nothilfe hoffen zu müssen.
Die ideale Versicherung
Die ideale Pandemieversicherung skizziert Ivo Menzinger wie folgt: Sie ist sehr einfach strukturiert und die Vertragsbedingungen sind unmissverständlich formuliert. Die Versicherung erbringt bei behördlich angeordneten Schliessungen während ausserordentlicher oder besonderer Lage gemäss Epidemiengesetz sowohl direkt als auch indirekt betroffenen Betrieben und Selbstständigen finanzielle Leistungen. Diese orientieren sich an den ungedeckten Fixkosten von Unternehmen, um das Überleben in Kombination mit Kurzarbeitsentschädigungen zu sichern. «Damit ähnelt sie einer Taggeldversicherung und zahlt sehr schnell aus. Weitere Vorteile wären, dass sie einen tiefen Kostensatz durch sehr hohe Automatisierung und differenzierte Prämiensätze nach Risiko hat und auch für exponierte Branchen zahlbar ist, weil alle Unternehmen solidarisch einen Beitrag leisten – genauso wie Gebäudebesitzer bei der Elementarversicherung solidarisch Beiträge leisten.»
In einem Spezialvehikel würden die Prämien Kapital bilden, welches von einer Rückendeckung durch den Bund profitiert. Diese Rückendeckung kann über die Zeit mit wachsender Kapitalbildung reduziert werden. Auch Prämienanpassungen wären dann denkbar. «Die Rückendeckung kann als Rückversicherung ausgestaltet werden, aber auch in der Form eines Eventualkredits, das heisst, der Bund würde eventuelle Auszahlungen über die Zeit zurückerhalten.»
Um einer solchen Lösung näherzukommen, davon ist Menzinger überzeugt, braucht es nach Covid-19 einen strukturierten Lessons-Learned-Prozess, bei dem es nicht um Ideologie oder Parteipolitik geht, sondern um die Fakten. Insbesondere braucht es eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Frage, wie die Schweiz besser vorbereitet sein kann. Dazu gehört auch die bessere finanzielle Vorbereitung. «Daher wünsche ich mir einen viel prominenteren Dialog in Politik, Wirtschaft und Verwaltung über die Risikolandschaft der Schweiz und unseren Umgang damit.»
Die Market Opinion: Versicherbarkeit von Pandemierisiken wird in Zusammenarbeit mit dem Institut für Versicherungswirtschaft (I.VW-HSG) der Universität St.Gallen realisiert.
Hier geht es zum Dossier. Bisher erschienen:
- Können die Pandemie-Risiken versichert werden?
- An der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis
- Interview mit Urs Arbter, stellvertretender Direktor des Schweizerischen Versicherungsverbandes SVV
- Warum gewisse Grossrisiken nicht versicherbar sind, mit Ruedi Kubat, Allianz Suisse
- Gerechtere Risikofinanzierung gesucht, mit Ivo Menziger, Swiss Re
- Diversität ist mehr als Frauenförderung
«I.VW Policy Brief: Versicherbarkeit von Pandemierisiken»
Dieser I.VW Policy Brief fasst das Arbeitspapier "Versicherbarkeit von Pandemierisiken" von Helmut Gründl (Goethe-Universität Frankfurt), Danjela Guxha (Universität St.Gallen), Anastasia Kartasheva (Universität St.Gallen) und Hato Schmeiser (Universität St.Gallen) zusammen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Spielraum für den privaten Markt für die Deckung von Pandemieverlusten begrenzt ist und Mechanismen des Risikotransfers auf den Finanzmarkt sowie die Rolle des Staates in Betracht gezogen werden sollten, um die Gesellschaft auf die nächste Pandemie vorzubereiten.
Weitere Auskünfte zum aktuellen «I.VW Policy Brief»: www.ivw.unisg.ch/hs