Manchmal ist es der Vorgesetzte, der regelmässig nach Feierabend anruft, um Arbeitsaufträge zu erteilen. Mitunter sind es Verwandte, die sich nur dann melden, wenn sie Geld brauchen. Gelegentlich ist es auch der Partner, der vor Freunden als Scherz getarnte, verletzende Seitenhiebe austeilt.
Wenn in einer Beziehung die Balance zwischen Geben und Nehmen nicht mehr stimmt, wenn wir unserer Energie beraubt werden, wir verletzt oder überlastet werden, müssen wir Grenzen setzen, um uns zu schützen. Doch je enger die Beziehung und je grösser die Abhängigkeit, desto schwerer fällt es uns, für uns selbst einzustehen.
Dass viele damit zu kämpfen haben, musste auch Coach und Autor Attila Albert feststellen. In den knapp neun Jahren, seit denen er nun schon Kunden coacht, konnte er feststellen, wie viele Leuten tatsächlich Schwierigkeiten damit haben, Grenzen aufzuzeigen. Das brachte ihn auf die Idee, ein Buch zu schreiben.
Warten Sie nicht auf den «richtigen Zeitpunkt» — es gibt ihn nicht
In seinem Ratgeber «Ich mach da nicht mehr mit», erschienen bei Gräfe und Unzer, gibt er Tipps, wie man nicht mehr stillschweigend leidet oder sich herumstreitet, sondern in seinen privaten und beruflichen Beziehungen aufräumt.
Im Interview hat er seine wichtigsten Erkenntnisse verraten und acht Regeln genannt, die Sie beachten sollten, wenn Sie Ihren Freunden, Vorgesetzten und Partnern Grenzen aufzeigen wollen.
Wenn Sie sich den Artikel durchlesen, werden Sie vielleicht denken: Ja, aber… jetzt passt es gerade nicht. Schliesslich steht noch Problem X, Veranstaltung Y oder Projekt Z an. «Die Wahrheit ist aber: Es gibt nicht den einen richtigen Zeitpunkt», sagt Albert.
«Man hat nie ruhige Momente ohne Probleme, da ist immer irgendwas. Mal ist es ein neuer Job, mal ist es Corona. Das ist normal.» Warten Sie also nicht auf den perfekten Moment, um aus Ihrer Komfortzone zu treten und den ersten Schritt zu gehen.
Beziehungen neu verhandeln und Grenzen aufzeigen
Laut Albert besteht dieser zunächst darin, über seinen Alltag zu reflektieren. «Protokollieren Sie eine Woche lang in 15-Minuten-Schritten, wie Ihr Alltag aussieht, um zu sehen, wie belastet Sie sind.» Schauen Sie Ihr Protokoll genau an. Wie viel Zeit wenden Sie für Arbeit auf? Gibt es Freunde, die Sie täglich anrufen und Ihnen Zeit und Energie rauben?
Wenn Sie Ihre Energiefresser identifiziert habt, können Sie überlegen, wie lange sie Ihnen ungefähr schon Energie entziehen — und abschätzen, wie lange es noch so weitergehen wird. «Ich höre häufig: ‹Im Moment ist es schwierig.› Oft dauert dieser Moment aber schon viele Jahre an.»
► Dieser Text wurde zuerst unter dem Titel «8 Regeln, mit denen es euch leichter fällt, Freunden, Chefs und Partnern Grenzen zu setzen» im «Business Insider Deutschland» publiziert.
«Ich bin seit so vielen Jahren in dieser Beziehung, mit dieser Person befreundet oder in dem Job. Wenn sich in der Zeit nichts getan hat, wird sich auch jetzt nichts ändern.» Diesen Gedanken haben viele — er stimmt aber nicht, sagt Albert.
«Es wäre natürlich ideal, wenn man alles vorab klärt. In der Realität ist das aber so gut wie nie möglich», sagt der Coach. «Man beginnt eine Beziehung — sei es eine berufliche oder persönliche — und im Laufe der Zeit schleichen sich Dinge ein oder werden klar. Es ist absolut okay, eine Beziehung neu zu verhandeln. Auch nach zehn Jahren.»
Damit es Ihnen gelingt, Beziehungen neu zu verhandeln und Grenzen aufzuzeigen, müssen Sie laut Albert gewisse Regeln verinnerlichen. Wir haben sie hier für Sie aufgelistet:
1. Es ist okay, Nein zu sagen.
Es ist nichts Schlechtes oder Verwerfliches, Nein zu sagen. Sie müssen es nicht begründen – und auch kein schlechtes Gewissen haben, so Albert.
«Selbstverständlich kann mich jeder um etwas zu bitten», sagt er. Jeder habe das Recht, Sie um Hilfe zu bitten oder Sie zu fragen, ob Sie etwas für sie oder ihn erledigen können. «Aber ich habe genauso das Recht zu sagen: ‹Das passt mir nicht, das möchte ich nicht.›»
2. Sie können anderen nicht alles abnehmen.
«Ich werde immer feststellen, dass Leute um mich herum Probleme haben. Das sind Kleinigkeiten wie das Kind, das in der Schule nicht klarkommt, es sind aber auch grosse Lebenskrisen, Verwandte, die krank sind oder eine schwierige Trennung», sagt Albert.
Wenn Sie überall einspringen und die Probleme anderer lösen, überlasten Sie Sich nicht nur völlig — Sie sprechen damit auch dem anderen ab, dass er es selber schaffen kann, so Albert. «Andere Erwachsene haben eigene Ressourcen und Fähigkeiten. Sie müssen sie nicht alle retten.»
Damit einhergehend sollten Sie auch darauf achten, andere nicht ständig zu analysieren. «Sie müssen nicht in die Köpfe aller Leute reinkriechen — es sei denn, Sie sind professioneller Therapeut. Ansonsten ist es im Grunde genommen eine Grenzüberschreitung — ich tue mir damit keinen Gefallen und den anderen auch nicht.»
3. Es ist in Ordnung, wenn andere auch mal leiden.
Wenn Sie jemandem Nein sagen, müsst Sie laut Albert damit leben können, wenn es die Person eine Zeit lang verärgert und sie in Schwierigkeiten bringt. Ein Beispiel: Sie unterstützen regelmässig Ihren Kollegen, damit dieser seine Deadlines schafft.
Wenn Sie irgendwann aufhören, ihm die Aufgaben abzunehmen, wird er kurzfristig sauer auf Sie sein und Ärger vom Chef bekommen, weil er seine Fristen nicht mehr einhalten kann. Aber meinen Sie, er würde jemals sein Verhalten ändern, wenn er diese Erfahrung nicht macht? Nein — er würde seine Arbeit weiterhin auf Sie abschieben.
«Man nimmt seinem Kind ja nicht ständig die Hausaufgaben weg und macht sie selber, weil es sich damit schwertut. Für die Eltern ist das natürlich schlimm, wenn das Kind daran verzweifelt, aber es muss da durch», so Albert.
«Im Alltag denkt man oft, man tue jemandem einen Gefallen, indem man ihm seine Probleme wegnimmt, denn dann fühlt er sich ja besser. Kurzfristig stimmt das, langfristig fällt es aber beiden auf die Füsse.»
4. Es ist nicht Ihre Aufgabe, Gedanken zu lesen.
Die Fähigkeit, sich in andere Menschen einfühlen zu können, ist eine tolle und wichtige Eigenschaft. Aber der ständige Versuch, die Gedanken anderer zu lesen, kann zu falschen Vermutungen führen – und am Ende zerbrechen Sie sich nur unnötig den Kopf.
«Grundsätzlich sind Erwachsene fähig oder gar verpflichtet, sich zu artikulieren», sagt Albert. «Wenn jemand unsicher oder schüchtern ist, kann man sie zwar ermutigen, ihre Gefühle zu äussern. Aber am Ende ist es die Eigenverantwortung von allen Beteiligten, zu sagen, was sie möchten und brauchen.»
5. Mitleid ist keine Basis für eine Beziehung.
Manchmal tun wir Dinge, weil Leute uns leidtun. Wir gehen ans Telefon, obwohl wir es eigentlich nicht wollen, weil der Verwandte, der uns anruft, einsam ist und niemanden hat. Wir hören uns die Männerprobleme einer Freundin an, die immer wieder an die gleichen Idioten gerät, und geben unseren Geschwistern immer wieder finanzielle Unterstützung, weil sie Geldprobleme haben.
«Mitleid ist eine schlechte Basis für eine Beziehung», sagt Albert. «Wenn eine ständige, einseitige Hilfsbedürftigkeit herrscht und die Beziehung oder Freundschaft auf Mitleid basiert, würde ich empfehlen, diese zu beenden.»
Wer helfen will, könne stattdessen zum Beispiel ehrenamtlich arbeiten. In einer erwachsenen Beziehung sollte hingegen die Balance zwischen Geben und Nehmen stimmen.
6. Sie müssen sich zuerst selbst helfen, um anderen helfen zu können.
Wenn Sie mit Ihren Nerven, Ihrem Geld und Ihrer Zeit völlig am Ende sind, dann sind Sie niemandem mehr eine Hilfe. Deswegen sollten Sie sich immer zuerst selbst helfen. «Wenn ich helfen möchte, muss ich selber Reserven haben. Im Flugzeug nimmt man auch erst die Sauerstoffmaske, dann hilft man anderen. Sonst ist man nicht mehr hilfsfähig.»
Horchen Sie in sich hinein. Was sind Ihre Ressourcen? Wie viel können Sie gerade abgeben? «Manche Leute geben tatsächlich zu wenig ab», so Albert. «Bei vielen ist es aber umgekehrt, sie sollten sich eigentlich um sich kümmern und mit Banalitäten beginnen.
Zum Beispiel ausschlafen, sich ausruhen, das Konto in Ordnung bringen, die Wohnung aufräumen. Und erst dann können sie beginnen, anderen Leuten zu helfen.»
Wie der Coach erklärt, müsse man erst auf eigenen Füssen stehen, um andere nach oben ziehen zu können. Er appelliert: Haben Sie kein schlechtes Gewissen, weil Sie sich um sich selbst kümmern. «Es gibt Zeiten, da kann man nur sich selbst helfen.»
7. Sie sind in Ordnung, so wie Sie sind.
Nur wenn Sie sich selber mögen und ein gesundes Selbstbewusstsein haben, entscheiden Sie frei und unabhängig. «Wenn ich glaube, dass ich beweisen muss, dass ich gut bin oder liebeswert, dann bin ich natürlich moralisch extrem erpressbar», sagt Albert. «Dann mache ich vielleicht Dinge, die ich gar nicht möchte — nur, damit ich akzeptiert werde.»
Nun ist Selbstliebe natürlich kein Schalter, den man einfach umlegen kann. Es ist harte Arbeit, doch laut Albert können bereits kleine Dinge helfen. «Für den Anfang ist es gut, einfach mal zu reflektieren und die eigenen Qualitäten aufzuschreiben.
Vielen Leuten hilft es sehr, ihren Lebenslauf nochmal durchzugehen und aufzuschreiben, wie sie sich entwickelt haben. Oder mal zu vergleichen, wie sie im Vergleich zu anderen aus der Schulklasse stehen.»
Wenn das alles nicht funktioniert, ist es keine Schande, sich professionelle Hilfe zu holen. Ganz im Gegenteil: Je früher Sie aktiv werden, desto mehr Zeit, Ärger und Enttäuschung ersparen Sie sich.
«Generell ist meine Empfehlung: Wenn ich etwas nach ein paar Monaten nicht lösen kann, dann ist es besser, mit einem Experten zu sprechen. Ich muss mich nicht jahrelang mit etwas rumquälen.»
8. Glück ist individuell — jeder ist für seines verantwortlich.
Auch das ist eine Phrase, die jeder kennen dürfte. Sie sollten sie aber nicht als Floskel abtun. Für sein Glück verantwortlich zu sein, heisst, dass man für sich selber herausfinden muss, was einen wirklich glücklich macht — und das dann auch tatsächlich tun.
«Ich kann nicht darauf warten, dass andere es für mich tun. Ich muss den ersten Schritt machen — das ist eine Voraussetzung für selbstbestimmtes Handeln.»
Orientieren Sie sich dabei nicht an Ihrem Umfeld, denn jeder definiert Glück anders. Die glänzende Anwaltskarriere Ihrer Schwägerin wirkt vielleicht attraktiv, Ihnen würde dieser Job aber möglicherweise furchtbar langweilen.
Konkret heisst das: Bleiben Sie offen und probieren Sie Dinge aus. Mit jeder neuen Erfahrung nimmt Ihr Wissen darüber, was Sie glücklich macht, zu.
«Dann bin ich weniger abhängig von anderen, da ich weiss, dass ich sie nicht brauche, um mich glücklich zu machen. Ich habe gerne Beziehungen und Menschen um mich — aber ich weiss auch, wie ich das alleine hinbekomme.»
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