Als Raúl Pagès im Café in der Nähe der Genfer Oper eintrifft, lässt sich in seiner bescheidenen Haltung und der Intonation seiner Stimme seine ganze Geschichte erahnen. Der Sohn spanischer Eltern wuchs in einem kleinen Dorf zwischen La Chaux-de-Fonds und Neuenburg auf, in der Wiege der Uhrmacherkunst. Als Erbe dieser Region, die seit Jahrhun-derten die renommiertesten Zeitmesser der Welt hervorbringt, gibt uns Raúl Pagès einen intimen Einblick in sein Repertoire winziger Handgriffe.
Mit kindlicher Freude und immer noch überwältigt, erzählt er, dass ihm die «New York Times» am Tag zuvor anlässlich der Eröffnung von Watches and Wonders eine ganze Seite gewidmet habe. Seine Kollegen und Bekannte aus der Kindheit wurden darin gefragt: «Warum er?» Nun versucht die ganze Branche, das Mysterium Raúl Pagès zu durchschauen. Warum war er es, der aus tausend Kandidatinnen und Kandidaten zum Gewinner des allerersten prestigeträchtigen Louis Vuitton Watch Prize erkoren und damit als vielversprechendster unabhängiger Uhrmacher geehrt wurde? Wegen der «Extraportion Seele», liess die Jury verlauten.
Seine Seele hat Raúl Pagès tatsächlich in jede Schwingung und jede Komponente seiner RP1 gesteckt. Die Besonderheit daran: Der Uhrmacher hat die Uhr nicht nur entworfen, sondern auch selbst gefertigt. Sein vielseitiges Können floss in eine Komplikation ein, die bei Armbanduhren praktisch beispiellos ist: die Chronometerhemmung. Obwohl die Hemmung die Achse ist, um die sich das Universum von Raúl Pagès zu drehen scheint, besitzt er die Stärke, einen Schritt zurückzutreten, sich vom unendlich Kleinen zu lösen und die Uhr in ihrer Gesamtheit zu betrachten, insbesondere auch mit Blick auf ihre ästhetischen Qualitäten. Sein gestalterisches Genie brachte ihn dazu, seine Komplikationen nicht zur Schau zu stellen und so nicht vom ausdrucksstarken Zifferblatt abzulenken.
Raúl Pagès träumt davon, Uhren zu entwerfen, mit denen der rationalen Zeitmessung ent-flohen und in eine andere Dimension eingetaucht werden kann: die des Staunens. Er erzählt uns von seinen zukünftigen Modellen, der Musikalität seines Handwerks und seiner kompromisslosen Beharrlichkeit, dank der er zum alleinigen Dirigenten seiner Schöpfungen wurde und seinen eigenen Stil etablierte, der ihn heute zu einer der vielversprechendsten, innovativsten und poetischsten Stimmen der zeitgenössischen Uhrmacherkunst macht.
Uhren & Schmuck: Sie nehmen für die RP1 keine Bestellungen mehr an, obwohl sie so gefragt ist. Welche Strategie verbirgt sich hinter dieser Entscheidung?
Raúl Pagès: Aufgrund der Komplexität des Modells war es für mich undenkbar, die Produktion der RP1 einem anderen Uhrmacher anzuvertrauen. Die Einstellungen des Uhrwerks bedürfen unglaublicher Sorgfalt! Hier geht es nicht mehr nur um technisches Können, sondern um Sensibilität, Musikalität und die exakte Kenntnis eines jeden Bestandteils, wie zum Beispiel der Kraft einer Feder. Nur mit Erfahrung kann man jedes Rädchen genau justieren und die Chronometerhemmung perfektionieren. Ich konnte also nur vier bis sechs Uhren pro Jahr herstellen und wollte mich nicht auf dieses Modell beschränken. Schliesslich habe ich viele weitere Ideen, die ich umsetzen möchte.
Können Sie uns etwas über die drei Einzelstücke erzählen, welche die Serie von 21 RP1-Exemplaren abschliessen?
Es handelt sich um eine Zusammenarbeit mit der Emailleurin Anita Porchet, die ich seit Langem kenne und für die ich grossen Respekt empfinde. Wir hatten zuvor nie die Möglichkeit, an einem gemein-samen Projekt zu arbeiten. Ich finde ihre Miniaturmalereien unglaublich schön, aber sie passten nicht zu meinem minimalistischen Stil. Im Lauf unserer Gespräche kristallisierte sich heraus, dass wir unsere Arbeit rund um Farbe und die verschiedenen Texturen von Farbe orientieren möchten. Da meine Palette für die RP1 von der architektonischen Polychromie von Le Corbusier inspiriert war, fügte sich diese Entscheidung harmonisch in die Serie ein. Die Emailarbeit auf diesem Zifferblatt ist jedoch sehr komplex. Wir versuchten es mit einem Korallenrot, das allerdings immer wieder einriss. Anita schlug schliesslich ein Perlgrau mit Tendenz ins Blaue, kombiniert mit einem unglaublich sonnigen Gelb, vor. Die letzten beiden Modelle sind noch in Arbeit.
Ihre Ästhetik und Ihr Stil sind von spezifischen Vorlieben inspiriert, insbesondere von Design und Architektur der Fünfzigerjahre. Liegt es Ihnen besonders am Herzen, diese Referenzen in Ihr eigenes zeitgenössisches Universum zu integrieren?
Ich lasse mich von der Kunstgeschichte inspirieren. Tatsächlich habe ich im Bauhaus eine Denkweise gefunden, die mir entspricht: Die Form folgt der Funktion. Der für meinen Stil typische Minimalismus ist ein Ausdruck dieses Prinzips. Doch es gibt viele verschiedene Strömungen, die mich inspirieren, dazu gehören auch Art déco und Jugendstil. Ich will Uhren schaffen, die weder von Nostalgie noch von der Ästhetik der Zukunft geprägt sind, sondern echte zeitgenössische Stücke sind, die uns vom Hier und Jetzt erzählen.
Ihre Uhren zeichnen sich durch technische Virtuosität aus, doch auch Ihre Aufmerksamkeit für das Design ist ein wichtiger Bestandteil. Wurden Sie dank dieser Eigenschaft mit dem Louis Vuitton Watch Prize ausgezeichnet?
Das Grafische ist für mich sehr wichtig. Bevor ich mich für die Uhrmacherei entschied, hatte ich mir überlegt, die Kunstschule zu besuchen. Auch heute muss ich unbedingt noch von Hand zeichnen. Ich habe die grafische Gestaltung immer schon geliebt, und sie ist ein wesentlicher Bestandteil meiner Arbeit geblieben. Ich verbringe gern Zeit mit dem Entwerfen meiner Zifferblätter, denn sie sind für mich das Fundament der ganzen Uhr. Weil sie minimalistisch sind, ist Genauigkeit äusserst wichtig: Jede Linie, jede Proportion muss exakt stimmen. Dies liegt an der Feinheit der Volumen und der Details, die dem Werk Tiefe und Relief verleihen. Diese Arbeit gehe ich wie ein Architekt an. Den Louis Vuitton Watch Prize verdanke ich sowohl diesem ästhetischen Aspekt als auch der Tatsache, dass ich jeden Entwicklungsschritt der Uhr selbst vollzogen habe.
Einen grossen Teil Ihres technischen Könnens haben Sie sich angeeignet, indem Sie sich bei der Restauration von Zeitmessern mit der Geschichte der Uhrmacherei auseinandergesetzt haben. Was haben Sie dabei gelernt?
Während meiner Zeit in der Restaurationswerkstatt von Parmigiani Fleurier hatte ich das Glück, Meisterstücke aus den grössten historischen Sammlungen in meinen Händen zu halten. Dadurch konnte ich ein breites Spektrum von Mechanismen studieren, begann aber vor allem auch, die von Automaten ausgehende Faszination zu verstehen. Das Einstellen dieser Uhrwerke ist gleichzeitig am einfachsten und am kompliziertesten. Die Automaten in Form kleiner Tiere haben mich sofort angesprochen. Vielleicht deshalb, weil sie die Zeit nicht anzeigen. Ich fand sie unglaublich poetisch. Sie existieren ausserhalb einer quantifizierbaren Zeit. Man musste nur die Besucherinnen und Besucher bei Parmigiani beobachten: Die hochtechnischen Komplikationen konnten nicht mit der Begeisterung mithalten, die ein Automat auslöst, wenn er sich in Bewegung setzt.
Ihre Stelle als Restaurator haben Sie aufgegeben, um Ihren eigenen Automaten zu entwickeln.
Ja, ich wollte im Bereich der Kreation tätig sein, ein Mosaik aus verschiedenen Bestandteilen auf meine eigene Art und Weise und völlig autonom zusammenstellen. Wenn man für eine Marke arbeitet, stammen das Konzept, das Uhrwerk, das Design und die Kommunikation aus verschiedenen Abteilungen. Nur die Unabhängigkeit erlaubt einem eine echte Kohärenz. Doch sie kommt mit einem Preis: Ich habe meine ganzen Ersparnisse und zwei Jahre investiert, eine automatische Schildkröte zu kreieren, die sich schliesslich nicht verkauft hat. Heute hüte ich sie wie einen Schatz. Sie repräsentiert die Wurzeln meines Stils.
An welchen neuen Projekten arbeiten Sie derzeit?
Ich arbeite gleichzeitig an zwei Projekten. Die RP2, die nächstes Jahr debütiert, wird ebenfalls eine Uhr mit Hemmung sein, jedoch technisch etwas einfacher. Für das Zifferblatt werde ich wieder Edelstein einsetzen wie bereits bei meinem Modell Soberly Onyx. Diese RP2-Kollektion wird meine Standardkollektion werden, jedoch mit nur zwanzig produzierten Modellen pro Jahr immer noch sehr exklusiv bleiben. Parallel dazu arbeite ich an einem Automaten, der am Handgelenk getragen wird und abstrakt sein soll. Wir bewegen uns hier im Bereich der reinen Poesie, denn der Automat führt uns in Richtung genau jenes kontemplativen Zustands, der es uns ermöglicht, der Zeit zu entfliehen.
Ihr Werdegang als unabhängiger Uhrmacher ist beispielhaft, und man spürt, dass Sie vollkommen von Ihrer Leidenschaft erfüllt sind. Welchen Rat würden Sie jemandem geben, der seine eigene Stimme sucht?
Auf alles neugierig zu sein, alle möglichen Meinungen einzuholen, aber letztlich immer auf seine eigene Intuition zu hören. Für mich ist die Meinung meiner Frau, einer Kunsthistorikerin, sehr wichtig, ebenso die anderer Kollegen meiner Generation. Doch wenn mir etwas wirklich am Herzen liegt, respektiere ich meine eigene Stimme. Übrigens zeigte sich meine wahre Berufung ab dem Zeitpunkt, als ich selbstständig wurde: Es war ein Prozess, der ganz mir gehörte. Ich glaube, das ermöglicht einem langfristig, einen echten Stil zu entwickeln.