Lassen Sie mich zu Beginn meiner Kolumne über das «rechte Mass» die derzeit hervorstechendste Masslosigkeit erwähnen. Ich meine damit die weltweit existierende Staatsverschuldung. Ursache ist hauptsächlich die Weltwirtschaftskrise. Aber auch unabhängig davon stellen wir ein hohes Mass an Verschuldung in fast allen demokratischen Gesellschaften fest. Ursachen sind der Kampf der Parteien um Stimmen sowie die über den Einnahmen liegenden Ausgaben aufgrund steigender Ansprüche der Bevölkerung und, damit verbunden, die Ausweitung staatlicher Subventionen. Ein weiterer Grund für das Ausmass der Wirtschaftskrise liegt bei einem Teil der Manager, die zu kurzfristig denken und handeln und sich durch übertriebene Geldgier auszeichnen.
Das rechte Mass kann weder mathematisch noch objektiv exakt definiert werden. Im Folgenden möchte ich die Anwendung des rechten Masses auf verschiedenen Gebieten beleuchten. Zunächst einige Bemerkungen zur Unternehmensführung.
Ohne langfristige Politik kann ein Unternehmen nicht überleben. Selbstredend darf auch die Erzielung eines laufenden Gewinnes nicht vernachlässigt werden. Der Finanzmarkt bzw. die Eigentümer wollen in der Regel auch im laufenden Jahr eine Rendite erzielen. Die richtige Balance zwischen langfristiger Strategie und kurzfristiger Gewinnerzielung zu finden, ist eine der schwierigsten, aber gleichzeitig wichtigsten unternehmenspolitischen Fragen.
Wenn wir vom rechten Mass und vom Masshalten in der Unternehmensführung sprechen, gehört auch der persönliche Lebensstil dazu, genauso wie die Übertreibungen bei Managervergütungen, auch wenn es sich nur um vereinzelte Fälle handelt.
Ein weiterer Punkt ist die richtige Balance zwischen Ausübung von Führung und Autorität einerseits und den Erfordernissen von Verantwortungsdelegation und einem eher kollegialen und kooperativen Führungsstil anderseits. Meine Meinung dazu: Ich bin für ein Team mit Spitze und nicht für ein Team als Spitze.
Was das richtige Mass in der Finanzpolitik betrifft, gibt es zwei extreme Ansichten. Entweder arbeitet man nur mit Eigenkapital, vermeidet langfristige Schulden und schafft damit sehr viel Sicherheit, was allerdings zulasten der Rentabilität geht. Oder man setzt auf sehr starkes Leverage, das heisst maximale Verschuldung, dadurch höhere Rentabilität des Eigenkapitals bei entsprechender Reduzierung der Sicherheit und Erhöhung der Risiken. Das richtige Mass zu finden, ist bei verschiedenen Unternehmen sehr unterschiedlich, je nach Grösse, Struktur, Ertragslage sowie Mentalität und Risikobereitschaft der Eigentümer.
Andere wichtige Gebiete zu Fragen des rechten Masses, kurz angerissen:
- demokratische Verfassung einerseits und Führungsnotwendigkeit andererseits,
- bürokratische Regelungen und Gängelungen gegenüber mehr Freiheit für die Bürger und Subsidiarität,
- staatlich notwendige Gemeinschaftsaufgaben gegenüber Individualinteressen von Eigentümern und Bürgerrechtsbewegungen,
- freie Marktwirtschaft à la Hayek und Friedman oder stärkere Betonung der sozialpolitischen Komponente durch den sogenannten Sozialstaat, wie er von sozialdemokratischen Parteien angestrebt wird, oder gar Planwirtschaft ohne Privateigentum.
Zum Schluss kann ich nicht umhin, Goethe zu zitieren. Im zweiten Teil seines Gedichtes über «Natur und Kunst» heisst es: «So ist’s mit aller Kunst wohl auch beschaffen. Vergebens werden ungebundene Geister nach der Vollendung reiner Höhen streben. Wer Grosses will, muss sich zusammenraffen. In der Beschränkung erst zeigt sich der Meister, und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.»
Mehr Befolgung dieses Gedichtes hätte uns in der Geschichte manchen Ärger ersparen können.
Helmut Maucher, seit 2000 Nestlé-Ehrenpräsident. Er machte die Lehre bei Nestlé und blieb der Firma zeitlebens treu. Ab 1980 war er Generaldirektor, ab 1981 Delegierter, 1990 bis 1997 Präsident und Delegierter.