Catherine Mann, Chefökonomin der OECD, fand deutliche Worte: Die Schweiz produziere seit Jahren ein geringes Wachstum, das nicht ausreiche, um künftige Staatsausgaben zu finanzieren. Wenn die Schweiz jetzt nicht handle und die Produktivität massiv erhöhe, könne sie in 20 Jahren die Versprechen des Sozialstaates nicht einhalten. Und die Amerikanerin empfahl bei ihrem Auftritt Ende Jahr in Bern auch gleich die passende Schocktherapie: Unter anderem solle die Swisscom privatisiert werden.
Unterstützung bekam Mann umgehend von der Chefin des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch: «Wir begrüssen die Empfehlung sehr.» Und im März reichten Natalie Rickli (SVP) und Ruedi Noser (FDP) in beiden Parlamentskammern gleichlautende Motionen ein, der Bund solle die Mehrheit beim grössten Telekomanbieter des Landes (Umsatz: 11,7 Milliarden Franken) abgeben.
Seither ist die Diskussion lanciert. Einmal mehr. «Das Thema Privatisierung der Swisscom ist wie das Ungeheuer von Loch Ness», sagt Marc Furrer, Präsident der Kommunikationskommission (ComCom): «Es taucht immer mal wieder auf, aber Realität wurde es bisher nie.» Damit ist die Schweiz ein Sonderfall: In Europa gibt es nur noch vier andere Staaten, die die Mehrheit an ihrem jeweiligen Telekomprovider halten. Eine OECD-Studie zeigt, dass kein anderes Land Europas so privatisierungsfeindlich ist wie die Schweiz. Und in kaum einem anderen Land sind die Marktanteile des Ex-Monopolisten noch so hoch wie in der Schweiz.
Gute Gründe für eine vollständige Privatisierung
Dabei gibt es viele gute Gründe, die Swisscom vollständig in private Hand zu entlassen. Zuerst einmal ordnungspolitische: «Der Telekommarkt funktioniert, es gibt keinen Grund, dass sich der Staat dort engagiert», sagt Thomas Pletscher, Geschäftsleitungsmitglied von Economiesuisse. Zumal die Swisscom sich zunehmend in kerngebietsfremde Tätigkeiten entwickelt: Im Onlineshopping (Siroop) ist sie ebenso tätig wie im Energiebereich (Tiko) oder in der Werbevermarktung (Admeira) und konkurrenziert jeweils private Anbieter.
Vor allem würde ein Verkauf der Swisscom den Interessenkonflikt beenden, der seit der Öffnung des Telekommarktes 1998 vorherrscht: Als Gesetzgeber ist der Staat daran interessiert, dass der Markt liberalisiert wird und die Swisscom Marktanteile verliert. Als Besitzer ist der Staat daran interessiert, dass die Swisscom floriert, damit sie hohe Dividenden ausschütten kann. Und als Grosseinkäufer von Telekomdiensten ist der Staat daran interessiert, dass der Wettbewerb spielt und die Preise sinken. Zwar agieren die diversen staatlichen Instanzen in der Praxis autonom, die Wettbewerbskommission (Weko) etwa hat die Swisscom wiederholt zu Millionenbussen verurteilt. Doch die Absurdität der Konstellation zeigt sich genau an diesen Bussen: Sie wandern von einer Bundestasche in die andere und sind letztlich ökonomisch nichts anderes als verrechnungssteuerfreie Dividenden für den Hauptaktionär.
13 Milliarden Verkaufserlös
Ein Verkauf des Aktienpakets von 51,2 Prozent würde heute rund 13 Milliarden Franken in die Staatskasse spülen. Zwar müsste die Eidgenossenschaft dann auf Dividendenzahlungen von jährlich rund 500 Millionen Franken verzichten, dafür entfiele auch das finanzielle Risiko. Die Swisscom selber ist nicht für eine Privatisierung, könnte aber damit leben. «Das ist eine politische Frage», sagt CEO Urs Schaeppi. «Für uns ist relevant, dass wir ein Aktionariat haben, das uns unternehmerische Freiheit gibt, das gewillt ist, unsere Geschäftsrisiken zu tragen, und das einen langfristigen Horizont hat», so sein Mantra seit Jahren. Das hat er mit dem Bund. Doch in einem Fernsehinterview im März fügte Schaeppi hinzu: «Wir können uns auch andere Set-ups vorstellen.»
Die Konkurrenz kann das erst recht. «Der Bund kann nicht gleichzeitig Besitzer und Regulator sein», sagt Therese Wenger, Kommunikationschefin von Sunrise, dem grössten Swisscom-Konkurrenten. Noch klarer befürwortet Salt einen Eignerwechsel, denn «die Dominanz von Swisscom ist und bleibt erdrückend», heisst es beim drittgössten Schweizer Mobilfunkanbieter. Die Hoffnung aufgegeben hat UPC, die regelmässig gegen die Swisscom (Sportrechte) und den Bund (Vergabepraxis bei öffentlichen Aufträgen) vor Gericht zieht: «Die Frage der Privatisierung ist so unrealistisch, dass wir uns damit nicht befassen», sagt Medienchef Roland Bischofberger.
In der Tat ist der Widerstand beträchtlich: Für eine Privatisierung sind im Parlament nur die Grünliberalen, Teile der FDP und jene Teile der SVP, die nicht die ländlichen Gebiete vertreten. Die Mitteparteien sind dafür nicht zu gewinnen, die SP leistet erbitterten Widerstand: «Wir sind klar der Ansicht, dass man das Tafelsilber nicht verscherbeln soll», sagt Edith Graf-Litscher, Mitglied der Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen im Nationalrat. «Es gibt keine Notwendigkeit, die Cash Cow Swisscom auf die Schlachtbank zu führen.» Im Ausland werde die Schweiz für ihre hohen Investitionen in die Infrastruktur beneidet, ein privater Eigentümer würde diese Ausgaben möglicherweise reduzieren.
Im Ausland positive Erfahrungen
Auch der Bundesrat will von einer Aufgabe der Mehrheit nichts wissen: «In den letzten Jahren haben die Gründe, die für ein Festhalten an der Mehrheitsbeteiligung sprechen, an Bedeutung gewonnen», liess Bundesrätin Doris Leuthard auf die Motion Rickli/Noser ausrichten.
Dabei sind die Erfahrungen aus anderen Ländern positiv: «Es ist kein Beispiel bekannt, wo sich die Privatisierung nachteilig ausgewirkt hat», sagt Thomas Pletscher von Economiesuisse. «Liberalisierung und Privatisierung werden weltweit als Erfolgsmodell angesehen.» Mehr Dienste und tiefere Preise sind das Ergebnis. Auch ist die Infrastruktur in Ländern mit privatisierten Anbietern nicht schlechter: «Das hat mit der Eigentümerschaft gar nichts zu tun», sagt Furrer. Vielmehr verdankt die Schweiz ihre guten Mobil- und Glasfasernetze dem Infrastrukturwettbewerb: Die Swisscom baute ihre Netze jeweils erst auf Druck der privaten Konkurrenz aus.
Auch auf die Qualität hat die Eigentümerschaft keine direkten Auswirkungen: Carrier, die als besonders leistungsfähig gelten, sind sowohl privat (Telefónica, France Télécom, Deutsche Telekom, KPN) wie staatlich (Belgacom). Jene, die eher schlecht dastehen, sind ebenso in privater Hand (die irische Eircom) wie in staatlicher (Telekom Slovenije). Und die Grundversorgung funktioniert auch mit privaten Anbietern, entweder weil der Staat die entsprechenden Auflagen macht oder weil der Markt sowieso spielt. «In der Schweiz erfolgt die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln auch nicht über Staatsbetriebe», sagt Thomas Pletscher.
Ausweg «goldene Aktie»
Der grosse Unterschied: In anderen Ländern hat nicht das Volk das letzte Wort. Hierzulande wäre eine Vollprivatisierung unrealistisch – zu gross die Angst, dass die Ertragsperle Swisscom von einem ausländischen Konkurrenten geschluckt würde. Eine Reduktion des Staatsanteils auf eine starke Minderheitsposition irgendwo zwischen 25 und 50 Prozent könnte das verhindern. Doch das würde die genannten Probleme nicht lösen. Auch in der Wahrnehmung würde sich kaum etwas ändern: Der Bund wäre weiterhin Hauptaktionär, die Swisscom gälte weiterhin als bundesnah (ein Staatsbetrieb ist sie schon heute nicht).
Anders wäre es bei einer Privatisierung, bei der der Staat eine sogenannte goldene Aktie behält, die ihm ein Vetorecht bei strategischen Entscheidungen wie Verkauf oder Fusion einräumt. Diese Golden Share kannten etwa Telecom Italia, Portugal Telecom, die bulgarische BTC, die spanische Telefónica oder die niederländische KPN – bis viele Formen dieses staatlichen Faustpfandes vom Europäischen Gerichtshof verboten wurden, da sie den freien Kapitalverkehr in der EU behinderten.
Gewaltiger Sympathiebonus in Bern
In der Schweiz wäre diese Jurisdiktion kein Hindernis. Aber nicht einmal das wollen die Politiker. Denn die Swisscom geniesst in Bern einen gewaltigen Sympathiebonus. Ständerat Peter Bieri (CVP) gab es 2011 an einer Podiumsdiskussion offen zu: «Wegen der schönen Dividenden – derzeit höher als die der Nationalbank – sind die Parlamentarier der Swisscom gegenüber oft positiv eingestellt.» Und ein langjähriger Parlamentarier sagt: «In Bern leben so viele von der Swisscom. Sie müssen mal schauen, was die Swisscom alles sponsert. Und dann schauen, wo die Parlamentarier überall engagiert sind.»
In der Tat gibt es von Swiss-Ski über das Filmfestival Locarno bis zu Schweiz Tourismus kaum einen Bereich, den der Carrier nicht unterstützt. «Bis heute hat es die Politik nicht geschafft, die Dominanz von Swisscom zu reduzieren», heisst es bei Salt: «Es muss davon ausgegangen werden, dass dies gewollt so geschieht.» 2006 wollte der damalige Bundesrat Hans-Rudolf Merz den Bund «aus den Fesseln dieses Engagements befreien und auch die Swisscom von einer Fessel befreien». Er scheiterte kläglich im Parlament. Das wäre heute nicht anders.
Gesetzlicher Auftrag bis 2017
So ist sich Ruedi Noser bewusst: «Am Ende werde ich im Ständerat vielleicht zehn Stimmen holen.» Auch Rickli glaubt nicht an einen Erfolg ihrer Motion im Nationalrat: «Aber wenn wir nicht durchkommen, haben wir es wenigstens wieder thematisiert und können es bei der Revision des Fernmeldegesetzes 2017 diskutieren.» Realistisch war eine Privatisierung wohl nur einmal in der Schweizer Geschichte: Mitte der neunziger Jahre, als 15 Wirtschaftsführer rund um den ABB-Co-Präsidenten David de Pury mit dem Weissbuch in der Schweiz Aufbruchstimmung verbreiteten. Doch damals war die Swissair noch nicht gegroundet, die UBS noch nicht vom Staat gerettet. «Seither ist jeder Vorstoss in dieser Sache verlorene Liebesmüh», sagt ComCom-Chef Furrer: «Was ökonomisch wünschenswert ist, ist nicht immer politisch durchsetzbar.»
Möglicherweise aber stellt sich die Eigentümerfrage ganz neu, wenn die Service-public-Initiative angenommen wird. Sie will Unternehmen, die vom Staat kontrolliert werden, das Erzielen von Gewinn verbieten. Würde sie angenommen, wäre sie auch auf eine privatisierte Swisscom anzuwenden. Denn im Initiativtext heisst es: «Die Grundsätze gelten sinngemäss auch für Unternehmen, die im Bereich der Grundversorgung des Bundes einen gesetzlichen Auftrag haben.» Diesen hat die Swisscom noch bis Ende 2017, und auch danach ist kein anderer Interessent in Sicht. Eine Firma jedoch, die keine Gewinne mehr erzielen darf und folglich keine Dividenden ausschütten kann, wäre nicht mehr börsenfähig. Die Rückverstaatlichung der Swisscom wäre die logische Konsequenz. Und die will in Bundesbern nun gar niemand.