Was kann ein Baum schon darüber sagen, wie es ist, in einem Wald zu sein?», antwortet Jean-Louis Dumas-Hermès auf die Frage, wie es für ihn war, als viertes von sechs Kindern, in die Hermès-Familie hineingeboren worden zu sein. Rasch beantwortet ist die Frage, weshalb er Chef im Familienunternehmen geworden ist und nicht jemand anders: «Mein Vater hat mich berufen.»
Das war vor 25 Jahren. Als Chef von Hermès hielt Dumas eine schlafende Schönheit in den Armen, das Lebenswerk von fünf Generationen. Zusammen mit seinen Cousins, von denen es im Unternehmen an jeder Schaltstelle einen gibt, verwendete er seinen jugendlichen Esprit darauf, die Muse zu wecken, ohne die Ahnen zu verschrecken. Er hat das zwar angesehene, aber verstaubte Luxusgüterunternehmen, das fast ausschliesslich für eine französische Elitekundschaft produzierte, in ein multinationales Unternehmen mit 5000 Mitarbeitern und weltweit 280 Läden verwandelt. Er tat es sehr leise: Noch heute wird Hermès mehrheitlich mit Krawatten und Seidenfoulards assoziiert, obschon es unter diesem Label von A wie Agenden über G wie Gartenstühle und P wie Porzellan bis hin zu Z wie Zaumzeug alles gibt, was das Herz eines Luxusmenschen begehren mag.
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Hermès stellt mehr als 600 verschiedene Produkte her. Und verkauft sie mit Erfolg. Zu diesem Schluss kommt nicht nur, wer Umsatz- und Gewinnzahlen des Unternehmens analysiert. Es reicht ein Spaziergang durch die weihnächtlich geschmückte Einkaufsstrasse Rue du Faubourg St-Honoré in Paris. Givenchy, Brioni, Guy Laroche, Lanvin, Yves Saint Laurant – ein Luxushaus reiht sich neben das andere. In ihren Schaufenstern glänzt und glitzert es zwar, aus ihrem Innern strahlt an diesem Dezembernachmittag jedoch nichts als Leere und Langeweile; dunkel gewandete Türsteher blicken mürrisch und die schönen Verkäuferinnen fast trotzig auf die vielen Passanten, die an ihrer Auslage vorbeieilen und nur ein Ziel zu haben scheinen: das Hermès-Geschäft, Hausnummer 24.
Dort herrscht Hochbetrieb schon draussen auf dem Trottoir. «Guarda, que bello», winkt die Italienerin ihren Gatten zu sich vor das opulent ganz in blutrot getauchte Schaufenster. «Das sind die schönsten Schaufenster in Tout Paris», belehrt die deutsche Grossmutter das Enkelkind, das sein Näschen an die Scheibe der in rosa gehaltenen Weihnachtsauslage drückt. Drinnen drängelt die Kundschaft am Tresen für Foulards, steht Schlange am Verkaufstisch für Agenden, lässt sich die bunten Badetücher vorführen, nimmt hier einen Kaschmirschal in die Hand, hängt sich dort eine Handtasche um. In dem Geschäft, wo eine Wollmütze 300 Euro kostet und jede Tasche mehrere Tausend, geht es zu und her wie in einem Basar.
Das ist kein Zufall; der Chef, Jean-Louis Dumas, will es so haben. Denn seine Kunden sollen seine Ware nicht nur anschauen, sondern im wahren Sinn des Wortes begreifen. Um das seinem Verkaufspersonal verständlich zu machen, betet er ihnen nicht das «Der Kunde ist König»-Mantra vor, sondern sagt Dinge wie: «Wir schenken den Produkten zwar die Geburt, der Kunde schenkt ihnen das Leben», und er lässt seine Frontleute darüber nachdenken, wie mit einer Marke wie Hermès Umsatz zu machen ist. Die Antwort gibt er gerne selber: «Mit Takt und dezentem Verhalten.»
Seine Mitarbeiter hätten gerne, wenn Jean-Louis den Namen des Götterboten Hermès tragen würde statt Dumas. Denn für sie ist der 64-Jährige nicht von dieser Welt. «Er ist ein Alchimist», sagt ein Topmanager und meint: Der liebe Gott hat den Menschen Seide, Leder, Holz und Kaschmir gegeben, Dumas macht aus ihnen Objekte der Begierde. Oder: Womit zeigen Topmodels wie Kate Moss und Naomi Campbell, dass sie es geschafft haben? Richtig: mit einer Hermès-Birkin. Dieses Taschenmodell liess Dumas 1984 entwickeln, nachdem er Jane Birkin – berühmt geworden als Stimme im Schmusesong «Je t’aime, moi non plus» – zum ersten Mal begegnet war. Schon das schlichteste Modell kostet 6000 Franken, das aus Krokoleder locker das Zwanzigfache. Trotzdem erstickt das Angebot fast unter der Nachfrage.
Dumas tut, was er kann – er führt Wartelisten. Zu anderen Konzessionen ist er nicht bereit. Von seinem Bekenntnis zur Handwerkskunst will er um nichts in der Welt abweichen, das wäre Verrat an seinen Vorvätern. Die Taschen aus dem Hause Hermès werden in den Ateliers noch heute mit vor hundert Jahren definierten Arbeitsgriffen von Hand genäht: Jeder Täschner bei Hermès fertigt seine Taschen vom Anfang bis zum Schluss selbst, kein Fliessband, kein Jobsharing, keine Jobrotation. An einer Birkin arbeiten diese geübten Hände 18 Stunden. Drum: Wer eine will, muss sich Monate, wenn nicht Jahre gedulden. Oder aber bei Sotheby’s oder Chrstie’s, wo immer wieder eines dieser begehrten Stücke in eine Auktion gelangt, mitbieten.
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Die Lederverarbeitung ist der grosse Stolz im Hause Hermès. Mit ihr hat alles angefangen. 1837 eröffnete Dumas’ Urururgrossvater in Paris das erste Geschäft für Sattel- und Zaumzeug. Solches wird in den Ateliers Hermès im Pariser Vorort Pantin bis heute hergestellt. Das meiste Leder wird aber zu Gürteln, Portemonnaies und Taschen verarbeitet – sie machen mehr als ein Viertel des Umsatzes von rund 1,5 Milliarden Franken aus.
Dumas gilt als Prachtsexemplar der rar gewordenen Managerspezies, die genauso auf ihr Herz wie auf ihren Verstand hört. Er tut nur, woran er glaubt. Und wenn er an etwas glaubt, lässt er nicht mehr locker und unternimmt alles, seine Vorstellungen vom Hermès-Reich umzusetzen. Und zwar inhouse. Noch nie hat er eine Lizenz vergeben. Auch am Trend der vergangenen zehn Jahre, wegen finanzieller Begehrlichkeiten Luxusgüterimperien zu zimmern, hat er nicht teilgenommen. Wenn er akquirierte, dann weil er Know-how brauchte für die Dinge, die er in seinem Sortiment haben wollte: Porzellan, Kristallgläser oder Schuhe. Dafür kaufte er die jeweils besten Manufakturen des jeweiligen Fachs: etwa den Silberschmied Puiforcat, die Cristalleries de Saint-Louis und den Schuhhersteller John Lobb.
Anzeichen von Übermut zeigt aber auch Dumas: 2000 kaufte er eine 30-Prozent-Beteiligung am Kapital der deutschen Leica Kamera, und vor vier Jahren 35-Prozent vom Haute-Couture-Geschäft Jean Paul Gaultiers. Er tat es mit dem Argument, ein Netz von globalen Marken aufbauen zu wollen, die sich gemeinsam vermarkten lassen. Fraglich, was aus dieser Idee nun wird: Jean Paul Gaultier jedenfalls designt seit Oktober Damenkollektionen für Dumas. Was das Enfant terrible der französischen Modeszene mit dem klassisch-biederen Prêt-à-porter-Schick von Hermès anzufangen gedenkt, wird er erstmals im Frühling 2004 dem Publikum präsentieren.
Eine Revolution wird es nicht geben: Dumas’ Verständnis von der Marke Hermès basiert auf wahrer Qualität für wirklich Vermögende. Dank seiner Kompromisslosigkeit gilt seine Marke heute als Megastar in der Luxusgüterindustrie, auch kommerziell. Selbst als die Folgen von 9/11 die gesamte Konkurrenz in die Krise rissen, konnte Dumas 6 Prozent mehr Umsatz vorweisen und 15 Prozent mehr Gewinn als 2001. Gut möglich, dass solche Erfolgsmeldungen nie öffentlich würden, wäre der Patron nicht dazu verpflichtet: 25 Prozent seines Unternehmens hat er vor zehn Jahren an der Pariser Börse kotieren lassen, ergo schuldet er seinen Aktionären Rechenschaft. Keiner seiner Mitarbeiter hat ihn aber je Shareholder-Value sagen hören. «Sicher spielt der Profit eine grosse Rolle», sagt ein Hermès-Manager, «aber noch viel wichtiger ist, dass wir uns mit Hermès identifizieren können.»
Dumas weiss, dass Liebe und Leidenschaft von Mitarbeitern nicht umsonst zu haben sind. Ganz der Patron alter Schule, kümmert er sich persönlich darum. «Er kann einen ins Träumen bringen», sagt einer. Und zum Lachen: An einem Seminar für seine Finanzleute in Paris etwa liess Dumas auf jeden Stuhl eine rote Clownnase legen und verlangte, seine Zahlenhengste möchten sie aufsetzen, denn «il faut pas être tellement sérieux». Alle vier Monate, wenn die Schaufenster an der Rue du Faubourg St-Honoré neu dekoriert worden sind, stösst Dumas mit seinen Angestellten auf dem Trottoir mit einem Glas Champagner darauf an. Und er schickt jeden seiner Manager einen Tag in die Lederverarbeitung, damit diese merken, was es braucht, um zu der von ihm geforderten Perfektion zu gelangen. «Dumas gibt sich selbst und erwartet das Gleiche von uns», sagt der Hermès-Manager – Education émotionnelle wird im Hause Hermès gross geschrieben.
Dumas ist im Konzern omnipräsent. Nichts, vom Parfumflacon bis hin zur kürzesten Pressemitteilung, geht an die Öffentlichkeit, ohne dass er es mit seinem persönlichen Stempel abgesegnet hätte. Bei allem trägt er als Einziger die oberste Verantwortung. Er hat inzwischen 14 Geschäftsbereiche und die Arbeit in den 24 ganz oder wenigstens mehrheitlich von Hermès kontrollierten Betrieben zu überblicken. Dumas’ Schaffensdrang ist legendär. Als er dem weltberühmten Architekten Renzo Piano den Auftrag erteilte, im Tokioter Nobelquartier Ginza einen Hermès-Shop zu bauen, legte er ihm gleich auch eine Skizze vor: ein Baum, der mit seinen Wurzeln in den offenen Himmel ragt. Daraus entstanden ist ein Gebäude aus Glasbausteinen, das nachts wie eine riesige Laterne leuchtet. Es ist ein Tribut an die grösste Fangemeinde von Hermès, made in France: Die Japaner spielen 30 Prozent des Umsatzes ein.
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Im Tokioter Geschäft gibt es ein Novum: Hermès für Heim und Garten hat eine eigene Etage bekommen. Vor zehn Jahren hat Dumas entschieden, dieses Geschäftsfeld weiterzuentwickeln. Damals hatte er erst den Pippa-Stuhl, den seine Frau Rena 1987 für ihn designt und kreiert hatte. Daraus ist inzwischen eine ganze Kollektion von zusammenklappbaren In- und Outdoor-Möbeln geworden. Daneben bietet Hermès heute die kostspieligsten und exklusivsten Lifestyle-Kollektionen überhaupt. So kann das Happy-Hermès-Leben schon für ein Baby beginnen, etwa mit dem flauschigen Hermès-Bademäntelchen. Später wird dann von Hermès-Porzellan gegessen und aus Hermès-Gläsern getrunken. Geschlafen wird in Hermès-Decken aus Kaschmir und Seide, und selbst bei der Gartenarbeit muss nicht auf das Beste vom Besten verzichten, wer es sich leisten kann. Die Liebe zum Detail ist gross, Schwindel erregend sind die Preisschilder: 455 Euro kostet das Leintuch, 2620 Euro die Kaschmirdecke mit dem Federnmuster. Trotzdem oder gerade deshalb finden diese Wohlstandsveredler Anklang bei der Hermès-Klientel; sie machen bereits 14 Prozent des Konzernumsatzes aus, Tendenz steigend.
Dass der Exklusivität nach oben keine Grenzen gesetzt sind, weiss Dumas auch als Uhrenfabrikant zu nutzen. Dieses Geschäft hat er von seinen Vorfahren geerbt. Da diese eher zufällig, nämlich über die Lederarmbänder, zur Uhr gekommen sind, führten sie das Geschäft eher en passant. Für Dumas’ Geschmack war da zu wenig Hermès drin; kaum hatte er von seinem Vater das Ruder übernommen, änderte er das und gründete seine eigene Uhrenmanufaktur, La Montre Hermès, mit Sitz in Biel.
Inzwischen führt er mehr als ein Dutzend Kollektionen mit Uhren für jeden Geschmack. Das Geschäft, das übrigens von einem seiner Neffen geführt wird, blüht: Jedes Jahr werden rund 170 000 Montres Hermès verkauft. Jede ist ein exklusives Stück Handwerksarbeit, keine ist zu exklusiv, um nicht Abnehmer zu finden. Vom neusten Modell, der Herrenuhr Dressage, liess Dumas daher 75 in Platin herstellen. Die Zeitmesser waren Anfang November in den Läden kaum ausgepackt, da waren sie auch schon alle weg – für 35 000 Franken das Stück. Sagen Sie nicht, das sei teuer, wenn Herr Dumas oder einer seiner Gefolgsleute zuhört – dieses Attribut hört man bei Hermès im Zusammenhang mit Hermès nicht gern, sondern lieber: «Das kostet viel Geld.» Spüren Sie den Unterschied? Er bedeutet Monsieur Dumas sehr viel.