Der Showdown fand an einem Freitag im März statt. Angetreten in der Zentrale der Industrial and Commercial Bank of China (ICBC) waren einige der mächtigsten Investmentbanken der Welt. Nacheinander wurden die Herren in ihren feinen Nadelstreifenanzügen in einen spartanischen Konferenzraum im zehnten Stock gebeten. In genau 60 Minuten musste jedes Team sein Konzept für den Verkauf der staatseigenen Bankaktien an ausländische Investoren erläutern. Die Aussicht auf den Hauptgewinn war es wert, sich mächtig ins Zeug zu legen: Dem Sieger winkte die Konsortialführung beim Börsengang der ICBC – mit einem Umfang von rund zwölf Millionen Dollar das grösste Initial Public Offering (IPO) der letzten sieben Jahre. Ein Mandat, das Hunderte Millionen Dollar an Provisionen in die Unternehmenskasse zu spülen versprach. Und die Chance, eine langfristige Partnerschaft mit einer der grössten Banken Chinas zu schmieden. Von den fetten Bonuszahlungen am Ende des Jahres ganz zu schweigen.
Goldman Sachs galt als haushoher Favorit. Seine Manager hatten ICBC jahrelang umworben, CEO Hank Paulson den Präsidenten Jiang Jianqing regelmässig kontaktiert. Und Jiangs Tochter hatte als Praktikantin bei Goldman in New York City gearbeitet. Anfang des Jahres signalisierte Paulson zudem die Bereitschaft seines Unternehmens, sieben Prozent des Aktienkapitals für insgesamt 2,6 Milliarden Dollar zu übernehmen. Goldmans alter Erzrivale Morgan Stanley war zu dem Schaulaufen in Peking nicht einmal eingeladen worden. Freie Bahn also für Goldman-Manager Fred Hu, um mit grossem Selbstbewusstsein das Angebot seines Unternehmens zu unterbreiten.
Umso grösser die Überraschung, als die ICBC-Bosse einige Tage später die Bewerber über ihre Entscheidung unterrichteten. Demnach soll nun ein Konsortium von fünf Banken den Börsengang durchführen: Merrill Lynch, Credit Suisse, Deutsche Bank, China International Capital (Chinas einzige Investmentbank) sowie eine Tochtergesellschaft der ICBC in Hongkong. Goldman war somit aus dem Rennen.
Dass die New Yorker Edelbanker so unzeremoniell aus dem Geschäft komplimentiert wurden, illustriert einmal mehr die Hürden, denen sich westliche Investment Bankers in China gegenübersehen. Als Paulson Anfang der neunziger Jahre erstmals regelmässige Reisen ins Reich der Mitte unternahm, waren die westlichen Kapitalmärkte für Chinas kommunistische Führer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Liu Erhfei, der Paulson damals häufig begleitete (und heute das Team von Merrill Lynch führt, das Goldman den ICBC-Deal wegschnappte), erinnert sich daran, wie wenig die chinesischen Beamten einst mit der Rolle eines Investment Banker anfangen konnten: «Sie wollen weder mein Geld, noch geben Sie mir einen Kredit», hätten die Gesprächspartner damals staunend gefragt, «und Sie wollen ein Banker sein?»
Seither hat Chinas Führung dazugelernt – nicht zuletzt auch, wie man die Investmentbanken gegeneinander ausspielt. Vor zwei Jahrzehnten hatten sie damit begonnen, die Marktkräfte zu entfesseln. Heute suchen sie ausländische Investoren, die den staatseigenen Konzernen fiskalische Disziplin beibringen sollen. Und China avanciert dabei zum grössten Schlachtfeld der internationalen Investmentbanken.
In den vergangenen drei Jahren kamen einige der grössten Börsenneulinge aus dem Reich der Mitte, darunter 2003 das Going-public der China Life Insurance in New York und Hongkong (Volumen: drei Milliarden Dollar) sowie der Börsengang der China Construction Bank im vergangenen Jahr in Hongkong (neun Millionen Dollar). Und erst im Mai absolvierte die zweitgrösste chinesische Bank, die Bank of China, ihren Börsengang in Hongkong. Die UBS begleitete zusammen mit BOC International und Goldman Sachs das IPO. Angesichts der grossen Nachfrage machte die Bank of China von einer Mehrzuteilungsregel Gebrauch und steigerte den Umfang der Erstemission von 9,7 Milliarden auf 11,1 Milliarden Dollar.
Insgesamt dürfte der Wert chinesischer Neuemissionen allein in diesem Jahr dreissig Milliarden Dollar übersteigen, Dutzende anderer Unternehmen aus der Volksrepublik haben darüber hinaus ihre Absicht erklärt, bis zum Jahr 2008 den Gang an die Börse zu wagen.
Doch es sind nicht nur die Initial Public Offerings, welche die grossen Investmentbanken magisch anziehen. Mehr und mehr chinesische Unternehmen engagieren sich auch beherzt im internationalen Übernahme- und Fusionsgeschäft. Allein im letzten Jahr betrug der Wert der Deals, an denen chinesische Unternehmen beteiligt waren, 28,5 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Zehn Jahre zuvor waren es gerade 1,9 Milliarden Dollar gewesen. Die Summe wird vermutlich weiter rasant steigen, wenn China erst einmal seine Beschränkungen der Beteiligung ausländischer Unternehmen gelockert hat und chinesische Konzerne ihrerseits zunehmend ihre Fühler ins Ausland ausstrecken.
Kaum verwunderlich, dass die globalen Finanzriesen heute selbst zu den grössten Investoren im Reich der Mitte gehören. In den letzten zwei Jahren wendeten Institute wie Goldman, Bank of America, Merrill Lynch, American Express oder HSBC mehr als 20 Milliarden Dollar auf, um sich an chinesischen Banken zu beteiligen. Morgan Stanley, Goldman und Citigroup haben darüber hinaus Tochterfirmen gegründet, um am boomenden Immobilienmarkt zu partizipieren.
Da kümmert es kaum jemanden, dass China insgesamt gesehen im weltweiten Investment Banking immer noch ein Winzling ist. Das Beratungsunternehmen Dealogic schätzt, dass die Volksrepublik seit Januar 2005 in diesem Sektor rund eine Milliarde Dollar an Umsätzen generiert hat, nur etwas mehr als ein Prozent des globalen Gesamtvolumens von 85,1 Milliarden Dollar. Trotzdem setzen Spitzenmanager fast aller internationalen Banken auf China als bedeutenden Wachstumsmotor der Zukunft. Und greifen dabei auch schon mal zu ungewöhnlichen Mitteln, um hier zu reüssieren. Im Vorfeld des Börsengangs der China Construction Bank setzte J.P. Morgan den alten Politkämpen Henry Kissinger als Sonderbotschafter in Marsch. Für die Deutsche Bank machte sich derweil der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder stark (beide blieben freilich ohne Erfolg). Sowohl Hank Paulson von Goldman als auch John Mack von Morgan Stanley und Stan O’Neal von Merrill Lynch reisten im vergangenen Jahr mindestens ein halbes Dutzend Mal nach Peking und Shanghai. Ein anderes beliebtes Mittel ist es, Kinder und Verwandte von Polit-Schwergewichten aus der Kommunistischen Partei einzustellen. Hierbei taten sich insbesondere Merrill Lynch, UBS oder Credit Suisse hervor. Ebenfalls beliebt: Das Abwerben der profiliertesten Dealmaker von der Konkurrenz. So schnappte sich Morgan Stanley im Februar Citibanks Top-Producer in China, Wei Christianson. Im Gegenzug warb Citibank Zhao Jing ab, Morgan Stanleys chinesischen Investment-Banking-Chef. Fang Fenglei, Star-Banker von Goldman Sachs mit besten Verbindungen in die chinesische Finanzwelt, lernte sein Geschäft bei Morgan Stanley.
Ein weiterer strategischer Ansatz sind Kooperationen. Während Goldman und Morgan Stanley bereits Anteile an chinesischen Maklergesellschaften besitzen, bemühen sich andere Institute heftig um chinesische Partner. Jeder will gewappnet sein für den Tag, an dem Peking westlichen Investmentbanken etwa die Erlaubnis erteilt, die Pensionskassen chinesischer Firmen zu verwalten oder den überaus fleissigen chinesischen Sparern finanzielle Dienstleistungen anzubieten. «Die Geschäftschancen werden gewaltig sein», vermutet Michael Berchtold, Präsident von Morgan Stanley Asia Pacific. «Jeder will da Gewehr bei Fuss stehen, wenn es so weit ist.»
Derweil scheint Chinas Führung unbedingt den Eindruck vermeiden zu wollen, irgendeine der ausländischen Banken zu bevorzugen. Beobachter glauben, dass die Rolle von Goldman Sachs als Berater der Bank of China der entscheidende Grund dafür war, dass die New Yorker nicht das Mandat für den Börsengang von ICBC ergattern konnten. Nicht etwa der Kunde sei am Ende für die Entscheidung verantwortlich gewesen, so die Einschätzung, sondern der zentrale Staatsrat, die höchste politische Institution im Lande. J. Michael Evans, Chairman von Goldman Sachs Asia glaubt, Peking wolle die zu vergebenden Deals möglichst breit streuen. «Es hat da offenbar eine Entscheidung an oberster Stelle gegeben. Wir waren, ehrlich gesagt, nicht sonderlich überrascht über den Ausgang.»
Eine Bank ohne den kraftstrotzenden Habitus der Wall-Street-Riesen hat sich bisher überaus erfolgreich im China-Geschäft geschlagen: die Credit Suisse. Zwischen 2003 und 2005 haben die Schweizer mehr Kapital für Firmen in der Volksrepublik China aufgebracht als jede andere ausländische Investmentbank. Dies ist der Erfolg von Paul Calello, CEO Credit Suisse Asia Pacific und seinem Türöffner in China, dem Investment Banker Zhang Liping. Ihr Trumpf: Das CS-Team schafft es regelmässig, Asiens Top-Executives und institutionelle Investoren zur grössten Finanzkonferenz Südostasiens nach Hongkong zu locken.
Der jüngste Boom bei chinesischen Going-publics ist auf zwei Gründe zurückzuführen: Auf der einen Seite ist Peking der festen Überzeugung, dass die Beteiligung ausländischer Investoren die Corporate Governance innerhalb der staatseigenen Betriebe deutlich erhöhen wird, ohne dass man gleich die Kontrolle vollständig abgeben muss. Auf der anderen Seite wollen ausländische Investoren durch den Kauf chinesischer Aktien vom atemberaubenden Wachstum der Wirtschaft profitieren. Die Folgen sind in Hongkong zu besichtigen: Während die Investmentbanken ihre chinesischen Klienten vor fünf Jahren noch zum Listing an der New York Stock Exchange oder an der Nasdaq zu bewegen versuchten, hat sich der Wind gedreht. Spätestens seit Hongkong seine Zugangsbestimmungen gelockert und der Sarbanes-Oxley Act den Börsengang in den Vereinigten Staaten erheblich kompliziert hat, boomt der Handelsplatz in Asien. Und Unternehmen aus der Volksrepublik China machen heute schon ein Drittel aller in Hongkong kotierten Aktiengesellschaften aus.
Die enge Verzahnung von chinesischen Unternehmen und ausländischen Investoren ist auch in Peking nicht mehr zu übersehen, insbesondere auf der «Finance Street», der neuen Business-Meile westlich vom Tiananmenplatz. Dutzende der neuen chinesischen Multis haben hier ihre prachtvollen Zentralen errichtet. Am Ende des Boulevards ist auch die Bank of China zu Hause – in einem von Stararchitekt I.M. Pei entworfenen Gebäude mit Bambushain und kleinem Teich im Foyer. Ein paar Stockwerke höher beschreibt Zhu Min, Assistent des Präsidenten der Bank, wie fremde Investoren dabei helfen, das Institut transparenter zu machen. Ausländer hielten jetzt vier Sitze im Verwaltungsrat, und Experten der Royal Bank von Scotland (die drei Milliarden Dollar für einen Zehn-Prozent-Anteil zahlte) assistierten bei Risikomanagement und Kundenbetreuung.
Alles eitel Sonnenschein also? Nicht ganz: Trotz aller Begeisterung sind die strukturellen Probleme des chinesischen Bankwesens unübersehbar. Eine Studie von Ernst & Young schätzte das Volumen der faulen Kredite allein bei Chinas vier grössten staatseigenen Banken jüngst auf 358 Milliarden Dollar – gut das Doppelte von dem, was von den offiziellen Stellen zugegeben wird. Unter dem Druck der chinesischen Zentralbank zog die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ihre Schätzung mittlerweile zwar zurück und stellte sich zähneknirschend hinter die offizielle chinesische Schätzung von «nur» 133 Milliarden fauler Kredite für die vier Staatsbanken. Beobachter spekulieren aber, dass die Wirtschaftsprüfer möglicherweise ihre Geschäfte in China in Gefahr sahen und sich deswegen zum Rückzug entschieden haben. Jack Rodman, Partner bei Ernst & Young und Experte für Distressed Debt, wundert sich jedenfalls darüber, dass Chinas Banken weiterhin mit vollen Händen Kredite auch an unprofitable Unternehmen vergeben. Und völlig unverständlich ist für ihn, dass die internationale Finanzwelt so begierig darauf ist, solche Exzesse auch noch mitzutragen. Rodman: «Das Mass an ausländischen Investitionen entbehrt jeder Logik.»
Wie wird das Experiment enden? Halten Chinas neue Börsenstars angesichts von Problemkrediten, steigenden Zinsen oder einer möglichen Verlangsamung des Wachstums das, was man sich heute von ihnen verspricht? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Die China AG und ihre neuen ausländischen Partner jedenfalls müssen aufpassen, dass die derzeitige Party nicht irgendwann mit einem gewaltigen Kater endet.