Wenn Joseph S. Blatter vom Härtetest seines Lebens erzählt, dann klingt das so: Seine Mutter habe ihn am 10. März 1936 als Frühgeburt zur Welt gebracht.
1936, muss man bedenken, gab es noch nicht in jeder mittelgrossen Schweizer Stadt eine technisch hochgerüstete Maternité. Geburtskomplikationen endeten oft tödlich.
Die Mutter habe den kleinen, schmächtigen Erdenbürger, ihren zweiten Sohn, angeschaut und zum Ehemann gesagt: Wenn er bis zum Josephstag überlebt, kommt er durch. Dann taufen wir ihn. Dann soll er Joseph heissen.
Das Büblein gedieh derart prächtig, dass Joseph Blatter heute engen Mitstreitern diese Geschichte weitergeben kann. Er sagt, dass er früh zu kämpfen gelernt habe. Die Mitarbeiter berichten, sie könnten nicht recht ermessen, ob er das Erzählte ernst meine. Denn Selbstironie ist diesem Mann nicht fremd.
Als sicher gilt indes, dass die drei grossen Fähigkeiten Blatters, seine Härte, seine stilsichere Eloquenz und sein aggressiver Opportunismus, ihren Ursprung in Kindheit und Jugend des Fussball-Paten haben.
Auf der Website des Weltfussballverbandes Fifa steht über ihn, er sei «nahe dem berühmten Matterhorn geboren». Das Bild, das vermittelt werden soll: Blatter, ein Mann der Berge, ein Naturbursche, eckig und sperrig und somit ein starker Charakter.
Dabei ist es anders. Die Wurzeln des Präsidenten liegen in Visp im Oberwallis, eingeklemmt zwischen zwei lang gezogenen Bergzügen; prägend waren St-Maurice und Lausanne, wo Blatter die höheren Schulen besuchte. Das Matterhorn spielte keine Rolle.
Klein Sepp wuchs an der Bahnhofstrasse in Visp auf, in einer einfachen Werkswohnung der Lonza, in einem Haus, das vormals das Hôtel des Alpes beherbergte. Zusammen mit einer älteren Schwester, der inzwischen verstorbenen Ruth, dem um ein Jahr älteren Bruder Peter und dem Nesthäkchen Marco wohnte Sepp auf engem Raum. Mit Peter teilte er ein 1,40 Meter schmales Bett. Es befand sich in einer Mansarde über der Wohnung. Das «Büäbäzimmer», das Bubenzimmer, nannte es der Vater.
Joseph Blatters Vater hatte aus finanziellen Gründen das Gymnasium abbrechen und eine Mechanikerlehre in Lausanne absolvieren müssen. «Papa» fand den Weg über das französische Pontarlier zurück ins Wallis und bei der Lonza als Werkmeister eine Anstellung. In Visp liessen er und «Mama», eine geborene Nellen, sich nieder.
Das Auskommen der Familie war karg. Der familieneigene Obstgarten diente nicht nur zur Selbstversorgung, sondern auch zum Nebenerwerb. Die Blatter-Buben verkauften Birnen, Äpfel, Aprikosen und Spargeln, die sie in einem Anhänger mit ihren Fahrrädern ins Dorf gezogen hatten. Ein Auto konnten sich Blatters nicht leisten.
Der Vater litt darunter, nie studiert zu haben. Er soll oft gesagt haben: «Ich will meine Söhne einmal nicht in einer blauen Uniform arbeiten sehen. Aus denen soll etwas Rechtes werden.» Das ging den Buben ins Blut über.
Blatter-Nellens sparten sich für die Ausbildung der Kinder das Nötigste vom Alltag ab. Sie waren stolze Eltern. Peter studierte Ingenieur an der HTL in Burgdorf und ist heute Gemeinderat in Siders. Aus Marco wurde an der Universität Bern ein Lic. rer. pol. und später der Direktor von Swiss Olympic in Bern. Joseph bildete sich an der Uni Lausanne zum Ökonomen und Politikwissenschaftler aus. Er arbeitete als Sportjournalist, beim Walliser Verkehrsverein, später beim Schweizer Eishockeyverband und wechselte anschliessend zur Uhrenfirma Longines, wo er das Marketing betreute. Der Zürcher Unternehmer Thomas Keller, der damals Präsident des Internationalen Ruderverbandes war, vermittelte ihn Ende 1974 zum Weltfussballverband Fifa nach Zürich. Von da an ist die Karriere bekannt: Projektmanager, Generalsekretär, Präsident.
Joseph Blatters jüngerer Bruder Marco sagt heute: «Da wir aus einfachen Verhältnissen kommen, wissen wir, jeder Schritt nach oben ist mühsam. Ist man aber einmal oben, so ist es nicht so leicht, uns wieder herunterzubringen.»
Dies ist bei Joseph Blatter programmatisch zu verstehen. Der Chef des Weltfussballs wollte stets «etwas Rechtes» werden. Deshalb ist er hart im Nehmen, noch härter im Geben und hält sich demütig an die alte Maxime «diviser et régner» (teilen und herrschen). Er verteilt in hohem Mass Lob und Tadel und regiert als «prince charming».
Das hat mit Joseph Blatters zweiter überdurchschnittlich ausgebildeter Stärke zu tun: seiner Eloquenz.
Im Einzelgespräch bisweilen unsicher wirkend, entwickelt er sich bei grösserem Publikum zu einem wahren Entertainer. Der 21. Mai 2004 in Paris mag da als Beispiel dienen: Als der Präsident am 100-Jahr-Jubiläums-Kongress der Fifa im Louvre während mehrerer Stunden gleich Dutzende von Ehrungen vornahm, wechselte er fliessend von einer Sprache in die andere. Vor über tausend Zuschauern flattierte er in perfektem Französisch Premierminister Jean-Pierre Raffarin, schmeichelte dem grossen Alfredo di Stefano in Spanisch, bevor er übergangslos ins Italienische wechselte.
Dass er Englisch und Deutsch am wenigsten gut beherrscht, ist eine Ironie und auch nicht wirklich wahr – dieser Eindruck beruht lediglich auf einer eigenwilligen französischen Färbung von Blatters Worten. Ein Überbleibsel aus seiner Mittel- und Hochschulzeit im frankofonen Sprachraum.
Blatters Flair für Sprachen und fürs Timing bei Bühnenauftritten wurde ihm nicht allein durch die Schule vermittelt. Da die Eltern nur über wenig Geld verfügten, mussten sich die Brüder Blatter eigene Ertragsquellen erschliessen. Joseph Blatter fand sie früh in zwei Nebenberufen. Mit zwölf Jahren arbeitete er die erste von sieben Sommersaisons in einem Hotelbetrieb.
Prägender war Blatters zweite Beschäftigung, die eines Conférenciers. Die Bühne und das Auftreten vor Zuschauern gefielen ihm. Der perfekt Zweisprachige war zu jeder Unzeit als Zeremonienmeister an privaten Feiern im Einsatz. «Armer Sepp, der an Weihnachten nicht zu Hause sein kann», sagte die Mutter jedes Jahr, weil ihr Zweitältester irgendwo den Tafelmajor geben musste, während die Familie Blatter-Nellen einträchtig unterm Visper Weihnachtsbaum sass.
Blatters Spektrum war breit, und er war talentiert. An einem kantonalen Walliser Turnfest gab er den Speaker. Er arbeitete an bunten Abenden, an Schützenfesten. So verdiente er sich jeweils hundert Franken, was ihm für einen Monat zum Leben reichte.
Zu Blatters Dienstleistungen an den Hochzeiten gehörten das Produzieren einer Zeitung, das Erstellen der Gästeliste, das Ausknobeln der Sitzordnungen, die Auswahl der Musik, das Unterhalten. Blatter musste erahnen, wenn die Stimmungsintensität abnehmen würde, und stets das ultimative Antiserum, ein Bonmot, bereithalten. Ausserdem entwickelte er ein Gefühl für den Rhythmus des mehrheitsfähigen Humors.
Dazu passt, dass er Tanzkurse besuchte, nur um später als Conférencier auf der Bühne zu brillieren. Der Jugendliche trainierte das Galante. Er schliff die eigenen Manieren. Kein Wunder, musste er nur mit den Fingern schnippen, damit ihm Frauenherzen zuflogen (was ihm die Beziehungen das ganze Leben hindurch nicht eben leichter machte: Blatter hat zwei Ehen hinter sich, eine dritte ist eben gescheitert).
In jenen Jahren im Wallis erlernte er das Gefühl für die Masse und das Wissen um die Wirkungsmacht eines kontrollierten Auftritts. Er verinnerlichte die Bedeutung der Vorbereitung. Noch heute wirkt dies nach: Etwa wenn der Präsident sich in einem Hinterzimmer die Haare kämmt, parfümiert und das Jackett zurechtzupft, bevor er auf die Bühne der Fifa tritt, wo er den Kosmopoliten mimen und so wenig gemein haben wird mit dem Kreuzworträtsel lösenden Couch-Potato, der er auf seinen vielen präsidialen Reisen gerne ist.
Joseph Blatters dritte Stärke ist sein Opportunismus – laut Duden die «allzu bereitwillige Anpassung an die jeweilige Lage um persönlicher Vorteile willen». Ihn erlernte und verfeinerte Blatter auf dem Sportplatz. Beim Fussballspiel, das er ab vier Jahren ausübte. Blatter agierte auf der Position des Opportunisten schlechthin: als Mittelstürmer. Mit seiner Körpergrösse von lediglich 1,71 Metern war er ein filigranes Leichtgewicht in der berüchtigt rauen Walliser Fussballliga. Mit der einzigen Aufgabe aufs Feld geschickt, das Runde ins Eckige zu befördern. Nur unzulänglich geschützt durch Schiedsrichter, deren Trillerpfeifen bei Derbheiten stumm blieben und die eine rustikale Art des Fussballsports förderten. Das Publikum an der Seitenlinie beschimpfte gefoulte Spieler als Weicheier, als Mädchen, als unwürdige Vertreter ihres Geschlechts.
Sepp, sei ein Mann! Steh auf! Halt durch!
Joseph Blatter war hart im Nehmen, aber körperlich unterlegen. Was blieb dem Mittelstürmer der 1. Liga, der höchsten Schweizer Amateurklasse? Er begann die Schwächen der stämmigen Gegner zu erfassen und auszunützen. Dabei setzte er seine Schnelligkeit ein, die ihm gar einmal, aus blossem Jux, die Krone für den schnellsten Walliser 100-Meter-Läufer eingebracht hatte. Er hüpfte über die meuchelnden Verteidigerbeine hinweg, schoss die Tore – und bekam dennoch so manchen Schlag ab. Der Vater sagte: «Du kannst Fussball spielen gehen, aber komm nie nach Hause und beklage dich!»
Sepp, sei ein Mann!
Als der FC Lausanne-Sports, ein Traditionsverein aus der höchsten Schweizer Spielklasse, anklopfte und dem Studenten Blatter einen Nachwuchsvertrag offerierte, sagte der Vater am Küchentisch: «Wenn du meinst, dir damit das Leben verdienen zu können, dann kannst du es machen.» Sepp machte es nicht.
So fanden die drei Stärken Härte, Eloquenz und Opportunismus zu Blatters Joseph, geboren in Visp, ehemals Conférencier, heute Präsident der weltumspannend tätigen Grossunternehmung Fifa, persönlicher Jahresverdienst: schätzungsweise eine Million Schweizerfranken, Genaueres weiss niemand.
Das Problem ist nur, dass auch beim Präsidenten alle schönen Eigenschaften ins Hässliche kippen können: Seine Eloquenz verirrt sich manchmal im Improvisatorischen. Sein Drang, im Mittelpunkt zu stehen, mündet öfters in unvorteilhafte Szenen. Seine ebenso grotesken wie spontanen medialen Vorstösse sind das Destillat daraus – etwa, wenn er vor TV-Kameras eine plötzliche Regeländerung oder einen absurden WM-Turnus fordert und die Restfussballwelt vor den Kopf stösst. Zur Korrektur muss er sich nicht selten rhetorisch verbiegen.
Blatters Opportunismus, das Anpassen während bald dreier Jahrzehnte, hat seinen Preis: Seit 1998 ist der Visper Mittelstürmer zwar Präsident der Fifa, aber auf dem Weg dahin in die Abhängigkeit von Stimmen der karibischen, süd- und nordamerikanischen Nationalverbände geraten. Jack Warner, der Pate der Karibik, Chuck Blazer, Mister Soccer der USA, sowie Ricardo Teixeira aus Brasilien und Julio Grondona aus Argentinien füttern den Stürmer Blatter zuverlässig mit Zuspielen. Sie erwarten von ihm beständigen Torerfolg.
Das weiss Blatter und reagiert. Er versucht, die Macht auf mehr Köpfe zu verteilen und die eigene Abhängigkeit von nur einigen wenigen zu verringern. Der Mittelstürmer steigert auch deshalb in den letzten Jahren Ozeaniens Stimmkraft im Kongress und beschenkt Afrika erstmals mit einer WM-Endrunde (2010 in Südafrika). Präsident Blatter möchte sich 2007 für eine dritte Amtszeit wählen lassen. Er selber bestätigt dies nicht, verneint im direkten Gespräch aber auch nie. Er lässt alles offen und wird wie stets pünktlich die Opportunität erfassen.
Tragisch ist, dass sich Blatters Härte letztlich oft gegen ihn selber richtet. Er, der trotz Präparation viel aus dem Gefühl heraus unternimmt, der durchaus gesellschaftlich hehre Ziele verfolgt und die Fifa von einem Fussball-Weltverband in einen Weltverbesserungsverband umbauen möchte, ist weicher, als ihm lieb ist. «Tu sei troppo romantico», soll ihm einst Italiens früh ergrautes Fussballidol Roberto Bettega gesagt haben. «Du bist zu romantisch.»
Das Jahr 2002 mit der Kampfwahl in Seoul (siehe BILANZ 7/2004) hat Blatter viel Kraft gekostet. Der heute 68-Jährige sagt, dass er dies körperlich und psychisch zwar gut durchgestanden, die Seele aber Schläge abbekommen habe. Vor diesem Hintergrund ist seine dritte Heirat (23.12.2002) zu sehen, die er vor seiner Walliser Familie lange Zeit geheim gehalten hatte. Erst zehn Tage vor dem Termin in Visp benachrichtigte er seine beiden Brüder, mit denen er üblicherweise ein inniges Verhältnis pflegt. Er ehelichte eine junge Delfin-Trainerin, Freundin seiner einzigen Tochter Corinne, und erhoffte sich von ihr das Seelenheil und neuen Sinn im eigenen unerträglich gewordenen Tun. Das gibt er heute im Gespräch offen zu.
Indes, die der Hochzeit folgenden bizarren Auftritte in vielen Schweizer Medien, in denen das standesamtlich vermählte Paar die ehelichen Sakramente vom Papst einforderte, liessen nicht nur die Brüder ratlos zurück. Inzwischen lebt Blatter getrennt von seiner dritten Ehefrau – und scheint alles Romantische mit neuer Härte zuzudecken. In der Fifa entlässt er langjährige Schützlinge mit einem Federstrich und schürt so die Unsicherheit im Hauptquartier. Kaderpositionen bestellt er nur noch mittels extern geführter Assessments. Blatter zieht die Zügel an. Der Präsident bereitet sich auf die nächsten Angriffe vor. 2007, der Wahl- und Zahltag, naht geschwind. Ob er es nochmals schaffen wird?
Blatters Joseph, die Frühgeburt, muss durchhalten.