Geplatzte Börsenblase
Den Kleinaktionären geht es ans Lebendige
Hunderte von Milliarden Franken sind durch den Börsencrash seit Ende 2000 vernichtet worden. Hart trifft es jene Kleinaktionäre, die erst spät aufs Börsenkarussell gesprungen sind. In den Vorsorgeplänen müssen die Renditeprognosen revidiert werden.
Pensionskassen in Not
Die Jungen erhalten weniger Rente
Der Börsencrash bringt die zweite Säule ins Wanken. Der Bundesrat will den Mindestzinssatz für Pensionskassengelder voraussichtlich von vier auf drei Prozent senken. Den Jungen drohen dadurch im Worst Case Rentenkür- zungen bis zu 15 Prozent.
Gefrässiger Staat
Steuern und Krankenkassenprämien steigen weiter
In den nächsten Jahren dürften Steuern, Abgaben und Gebühren wegen der Konjunkturflaute nach oben tendieren. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Krankenkassenprämien ist unausweichlich. Ob der Bund die Familien steuerlich entlastet, ist ungewiss.
Schwindende Kaufkraft
Die Löhne wachsen nur noch marginal
In den Neunzigerjahren sind die Löhne real nur noch geringfügig gestiegen. Explodiert sind jedoch die Saläre einzelner Topmanager. Und zwischen den Branchen wachsen die Unterschiede. Nur ein kräftiges Wirtschaftswachstum bringt neues Lohnwachstum.
Hochpreisinsel Schweiz
Die Preise purzeln noch nicht
Noch immer bezahlt man in der Schweiz 30 Prozent höhere Preise als in den Nachbarländern. Bei den Mieten und dem Gesundheitswesen ist die Diskrepanz beson-ders gross. Erst wenn das Kartell- gesetz verschärft wird, dürften die Preise ins Rutschen kommen.
Am Tag, vor dem die Rentenbombe platzte, liess Pascal Couchepin seine soziale Ader anschwellen wie der Hahn den Kamm. 86 000 Haushalte teilen hier zu Lande das Schicksal, dass der Lohn für das tägliche Brot nicht reicht. Mit einer gross präsentierten Working-Poor-Studie erweckte der Minister den Anschein, die Bekämpfung des Phänomens sei ihm ein Anliegen.
Weniger sensibel behandelte die Regierung 1,1 Millionen Beschäftigte, die ihr Leben weitgehend ohne Staatshilfe fristen. Angetrieben von Ruth Metzler und Pascal Couchepin, beschloss der Bundesrat vor den Sommerferien noch rasch, den Mindestzinssatz für die Pensionskassengelder «voraussichtlich» gleich um ein Viertel zu senken. Damit gab er den massiven Drohungen der privaten Versicherungen nach, die mit der kollektiven Vorsorge Verluste schreiben. Den politischen Hauruck-Entscheid unterlegte der Bundesrat nur spärlich mit Fakten, als ob es um die Subventionen für die Verarbeitung heimischer Schafswolle ginge. Entsprechend gross war von links bis rechts der Rabatz wegen des «Rentenklaus».
Peinlich für die Regierung: Sie hat es verschlafen, den Mindestzinssatz von vier Prozent während der Hochzinsjahre nach oben anzupassen. Dabei hatte ihr dies der Nationalrat 1992 ausdrücklich empfohlen. Mehr noch: Die Parlamentarische Verwaltungskontrollstelle bezifferte die Summe, die allein zwischen 1990 und 1992 direkt den Altersguthaben der Versicherten hätten zusätzlich gutgeschrieben werden können, auf mehrere Hundert Millionen Franken. Für die ständerätliche Geschäftsprüfungskommission war es 1995 nur schwer erklärbar, «warum der Bundesrat darauf verzichtet hat, während nahezu sechs Jahren den Mindestzinsstz an die Entwicklung des Geld- und Kapitalmarktes anzupassen». Im Klartext: Hätten der frühere Sozialminister Flavio Cotti und seine Nachfolgerin, Ruth Dreifuss, eine Erhöhung des Zinssatzes eingeleitet, wären die umstrittenen Gewinne der Versicherungen, die sie über Jahre hinweg aus dem Pensionskassengeschäft abgezogen haben, weniger üppig ausgefallen.
Nun trifft die geplante Senkung des Mindestzinses den Mittelstand ins Mark. Die AHV deckt den Existenzbedarf als Basisrente für alle. Erst die zweite Säule ermöglicht nach der Pensionierung die Fortsetzung des gewohnten Lebensstandards in angemessener Weise. Ans Lebendige geht es 1,1 Millionen Beschäftigten, primär in den KMUs. Diese kleinen und mittleren Unternehmen delegieren die berufliche Vorsorge über Sammelstiftungen an die Versicherungsgesellschaften wie die Rentenanstalt oder die «Winterthur». Die Privatassekuranz will den Zinssatz nun möglichst rasch auf drei Prozent senken, während die autonomen Kassen trotz Börsenbaisse und tiefen Zinsen noch über mehr Schnauf verfügen. Sollte der Zins über längere Zeit bei drei Prozent verharren, erhalten die Versicherten, die heute 25 bis 35 Jahre alt sind, dereinst 15 Prozent weniger Rente. Doch es kommt noch dicker: Da die Lebenserwartung gestiegen ist, will das Parlament den rentenbildenden Umwandlungssatz von 7,2 auf 6,8 Prozent senken. Bei einem angesparten Pensionkassenkapital von 100 000 Franken bedeutet dies statt 7200 Franken noch 6800 Franken Jahresrente. Bei einem Kapital von einer Million reduziert sie sich entsprechend von 72 000 auf 68 000 Franken.
Kein Wunder, scherte beim bundesrätlichen Zinsentscheid ausgerechnet Samuel Schmid aus. Der ehemalige Gewerbepräsident scheint den Kontakt zur KMU-Basis noch nicht ganz verloren zu haben. «Es ist die schweigende, schaffige und durchaus sozial denkende Mehrheit. Diejenigen, die zahlen, aber vom Staat nie Leistungen beanspruchen», umriss er 1994 den vagen Begriff des Mittelstandes. Kurz: «Chrampfe und bläche», wie es Myrtha Welti, damalige Generalsekretärin der selbst ernannten Mittelstandspartei SVP, auf den Punkt brachte.
Heute hat der Mittelstand als politischer Kampfbegriff nicht nur bei den Konservativen wieder Konjunktur, obwohl er bieder und altväterisch tönt und zünftisches Denken suggeriert. «Der Begriff wird von Politikern missbraucht», kritisiert Gewerkschaftssekretär Serge Gaillard. Dabei vereinnahmen ihn alle vier Bundesratsparteien, mitunter in der abgewandelten Form der «mittleren Einkommen». Selbst die SP fordert heute Steuerreformen, die explizit «den Mittelstand und die unteren Einkommen» entlasten sollen statt «die VillenbesitzerInnen an den Goldküsten überall in der Schweiz». Die Arbeiterpartei machte dem verarmenden Mittelstand schon in ihrem Parteiprogramm von 1935 Avancen. Am besten geholfen wäre ihm mit der «Übertragung der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und über den Verteilungsapparat an die Volksgemeinschaft». So weit kam es nicht. Doch wer dem Mittelstand angehört, ist auch heute nicht wissenschaftlich exakt geklärt. «Man weigert sich, weil man das mittelstandspolitische Umfeld nicht aufschrecken will», glaubt der St.-Galler Professor Franz Jaeger. Robert E. Leu, Mitautor von Couchepins Working-Poor-Studie: «Es sind nicht die Armen und nicht die Reichen».
Weil die Daten schlicht fehlen, ist es kaum möglich, konkrete Aussagen über die Vermögensverteilung in der Schweiz und deren Veränderung über die Zeit zu machen. Zu stiefmütterlich wird das politisch brisante Thema vom Bund und an den Universitäten behandelt. Was die intellektuelle Aufarbeitung der zentralen Verteilungsfrage angeht, ist die hoch entwickelte und vermögende Schweiz tatsächlich noch ein Entwicklungsland. Einer der wenigen Wissenschaftler, die sich damit eingehender befasst haben, ist Professor Yves Flückiger, Dozent für Wirtschaftspolitik an der Universität Genf und Mitglied der Wettbewerbskommission.
Anhand von Steuerdaten des Bundes konnte Flückiger belegen, dass sich die Einkommensunterschiede in der Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg merklich vergrössert haben. Zu diesem Zweck hat der Genfer Arbeitsmarktexperte die verfügbaren Einkommen (nach Steuern und Abgaben) der vermögendsten 20 Prozent im Lande mit denjenigen des ärmsten Bevölkerungsfünftels verglichen. Dabei kam er zu folgendem, der Tendenz nach wenig überraschendem Schluss: Lagen die verfügbaren Durchschnittseinkommen im privilegierten Bevölkerungsfünftel 1949 noch 4,1-mal höher als diejenigen im Vergleichssegment am unteren Ende der Einkommensskala, so vergrösserte sich der «Ungleichheitsfaktor» zwischen dem höchsten und dem tiefsten Einkommensquintil bis 1992 auf einen Wert von 6,8.
Für die wachsende Diskrepanz macht Flückiger im Rückblick unter anderem die notorische Geldmengenfixierung der Schweizerischen Nationalbank (SNB) unter Präsident Markus Lusser verantwortlich. Dass hohe Inflationsraten die besser verdienenden Haushalte tendenziell stärker belasten und somit für eine sozial erwünschte Umverteilung von oben nach unten sorgen, ist unter Ökonomen unbestritten. Der angesprochene Wirkungszusammenhang wird im Fachjargon als «kalte Progression» bezeichnet und meint die Tatsache, dass die progressive Ausgestaltung der Steuersätze automatisch dafür sorgt, dass (teuerungsbedingt) steigende Nominallöhne vom Fiskus stärker belastet werden. Exemplarisch zeigt sich dies bei der direkten Bundessteuer: 10 Prozent der Steuerpflichtigen bringen 70 Prozent der Einnahmen auf, 17 Prozent zahlen nichts. Nicht nur für die Superverdiener, auch bei einem steuerbaren Einkommen um die hunderttausend Franken geht die direkte Bundessteuer ins grosse Tuch.
So gesehen, schreibt Flückiger in seiner Studie, habe die restriktive Politik der SNB zu Beginn der Neunzigerjahre nicht nur für die gesamte Schweizer Volkswirtschaft unheilvolle Konsequenzen gehabt, sondern sie hat auch «die Ungleichheit bei den Einkommen erhöht, indem die Teuerungsraten von der Nationalbank quasi auf den Nullpunkt gedrückt wurden».
Ein anderer Faktor für die Schieflage lässt sich an der verfehlten Migrationspolitik der Eidgenossenschaft festmachen. Während in anderen Ländern die Verteilungsgerechtigkeit im Aufschwung tendenziell zunimmt und in rezessiven Phasen zurückgeht, verhält es sich in der Schweiz erstaunlicherweise gerade umgekehrt. Zurückführen lässt sich dies laut Flückiger auf kontraproduktive Einwanderungsbestimmungen des Bundes und dabei insbesondere auf das inzwischen abgeschaffte Saisonnierstatut. Indem die offizielle Schweiz bis vor wenigen Jahren in jeder Rezession Zehntausende von Gastarbeitern nach Hause geschickt hat, wurde das Angebot an unqualifizierter Arbeit künstlich verknappt und der Druck auf die Löhne im entsprechenden Segment des Arbeitsmarktes verhindert.
Sieht man von den vergangenen Sünden der Nationalbank und den Konzeptionsfehlern in der helvetischen Einwanderungsspolitik einmal ab, so scheinen die Früchte des wirtschaftlichen Fortschritts zwischen 1949 und 1992 so ungleich gar nicht verteilt worden zu sein. Bezogen auf die in diesem Zeitraum erzielten Lohnabschlüsse, spricht der Genfer Ökonomieprofessor jedenfalls von einer generell «arbeitnehmerfreundlichen Verteilungspolitik». Seither habe sich die Situation jedoch in dem Sinne verändert, schränkt der Verteilungsexperte ein, «dass sich die beobachteten Produktivitätsfortschritte nicht mehr in entsprechenden Reallohnsteigerungen niedergeschlagen haben».
Gemäss Berechnungen des Bundesamtes für Statistik haben die Reallöhne in der Schweiz zwischen 1993 und 2000 praktisch stagniert. Das heisst, dass sich die Kaufkraft der ausbezahlten Saläre, nach Abzug der Teuerung, insgesamt kaum mehr erhöht hat. «Für die Kapitalseite war es ein goldenes Zeitalter – für die Arbeitnehmerseite kaufkraftmässig ein verlorenes Jahrzehnt», bilanziert der Berner SP-Nationalrat und Ökonom Rudolf Strahm.
Je nach Branche und Funktionsbereich sind die Löhne zum Teil merklich gestiegen. Am besten erging es den Beschäftigten im Finanzbereich, im Versicherungswesen und in der chemisch-pharmazeutischen Industrie. In diesen traditionell privilegierten Branchen stiegen die Reallöhne in besagtem Zeitraum am stärksten, während sich die Situation der Lohnempfänger in weniger prestigiösen Wirtschaftssektoren unter Berücksichtigung der Teuerungsentwicklung in den Neunzigerjahren nur noch zaghaft verbessert hat. Geschrumpft ist die Kaufkraft derweil im Maschinen- und Fahrzeugbau, in der Textilbranche, im Verkehrsbereich, in der Papierindustrie, im Unterrichtswesen und in der öffentlichen Verwaltung.
Die Folgen sind fatal: Immer mehr Schweizer Privathaushalte sind überschuldet; nach Aussage von Fachgremien sind es bereits 10 bis 15 Prozent. Dabei gerät «zunehmend auch der Mittelstand in die Schuldenfalle», warnt die «HandelsZeitung». Auch die Zahl der Privatkonkurse schnellt in die Höhe: Im letzten Mai waren es 25 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. Prekär geworden ist es für jene Kleinaktionäre, die am Ende der Börsenhausse mit geliehenem Geld eingestiegen und infolge Crashs in einen finanziellen Engpass geraten sind.
Abgesehen von der Stagnation der Reallöhne, haben noch andere Faktoren das verfügbare Einkommen des Mittelstandes ausgehöhlt. Die Krankenkassenprämien steigen seit Jahren ungebremst, 2001 schnellten sie in der Grundversicherung um zehn Prozent in die Höhe. Stark nach oben tendieren auch die indirekten Steuern. So wuchsen die Mehrwertsteuereinnahmen des Bundes seit 1990 (damals noch Warenumsatzsteuer) um mehr als sieben Milliarden Franken. Gemäss einer Berechnung der BILANZ hat sich die Summe der obligatorischen Sozialversicherungsbeiträge, Steuern und Abgaben in der Schweiz von 1990 bis 2001 von 118,9 auf 171,8 Milliarden Franken erhöht, eine Zunahme von stolzen 46 Prozent. Diese Entwicklung bestätigt auch eine Studie der Universität St. Gallen, die im Auftrag der Zürcher SVP verfasst worden ist. Die Kantone haben in den Neunzigerjahren Gebühren und Taxen um gut 50, die Gemeinden um 66 Prozent hinaufgesetzt. Autor Franz Jaeger veranschlagt die Zwangsabgaben auf 50 bis 54 Prozent des Bruttolohnes. Jaeger: «Sicher ist, dass der Mittelstand am meisten belastet wird. Er hat keine Reserven mehr.»
Immerhin sind in mehreren Kantonen und Gemeinden die Einkommenssteuern gesenkt und die Erbschaftssteuern zum Teil sogar abgeschafft worden. Doch der Bund hat sein Versprechen, den Steuerdruck zu lindern, bis heute nicht eingelöst. Zu Beginn der Legislaturperiode hatten sich die bürgerlichen Parteien SVP, FDP und CVP auf ein milliardenschweres Steuersenkungspaket eingeschworen, das der Bundesrat Anfang 2001 dann auch vorgelegt hat. Heute hängt dieses jedoch völlig in der Luft. Weil die Konjunktur schwächelt, kippt die Stimmung. Im neuen Finanzplan drohen unerwartete Einnahmenausfälle. Der Bundesrat führt nächstes Jahr die Schuldenbremse ein, und er darf deshalb kein Defizitbudget vorlegen. In der Pipeline des Bundesparlamentes befinden sich zudem happige Mehrausgaben, die nicht finanziert sind, wie etwa in den Bereichen Bildung und Forschung, Krankenkassenprämien-Verbilligung und Kinderbetreuung. Wachsen die Ausgaben ungebremst weiter, drohen laut Economiesuisse bis 2010 Mehrbelastungen von achtzig Milliarden Franken.
Die Gut- und Besserverdienenden werden erst einmal vertröstet. Von der Reform der Ehepaar- und Familienbesteuerung profitieren sie 2003 noch nicht; sie tritt, wenn überhaupt, erst mit einjähriger Verzögerung in Kraft. Die heutigen und künftigen Hausbesitzer können ihre Hoffnungen weitgehend begraben. Der Nationalrat wollte sie grosszügigerweise mit 280 Millionen Franken entlasten; nun ist die ständerätliche Kommission bereits zurückgekrebst. Dabei sind die Eigenheimbesitzer infolge massiv erhöhter Eigenmietwerte und Gebühren «in den letzten zehn Jahren fiskalisch schlechter gefahren», behauptet der Schwyzer FDP-Ständerat Toni Dettling, Präsident des Hauseigentümerverbandes Schweiz. Die Stunde der steuerpolitischen Wahrheit naht in der Herbstsession, wenn sich der Ständerat über das Steuerpaket beugt und das Budget 2003 vorliegt. Per Mitte nächsten Jahres sollen immerhin die Lohnprozente bei der Arbeitslosenversicherung gesenkt werden, sofern das Volk der Vorlage zustimmt. Fazit: Die neoliberalen Verheissungen haben sich nicht erfüllt, wie die steigende Staatsquote zeigt. Der Staat ist nicht schlanker, sondern fetter geworden.
Bis hinauf in den gehobenen Mittelstand sind die frei verfügbaren Einkommen im Verlauf der Neunzigerjahre merklich zusammengeschmolzen. Untermauert wird diese Aussage durch eine Auswertung der Verbrauchserhebungen des Bundes aus den Jahren 1990 und 1998. Demnach hat sich das verfügbare Einkommen der Haushalte mit den ohnehin tiefsten Bruttoeinkünften (Einkommensklasse: unterste 25 Prozent) im Untersuchungszeitraum markant reduziert. Gleichzeitig musste aber auch das Gros der Bezüger mittlerer Einkommen materielle Einbussen in Kauf nehmen.
Im breit gefassten Mittelstand (Einkommensklasse: mittlere 65 Prozent) ist die Quote des verfügbaren Einkommens zwischen 1990 und 1998 von durchschnittlich 81 auf 78 Prozent der Einnahmen gesunken. Nur gerade im obersten Einkommensdezil (höchste 10 Prozent) konnte der Besitzstand in den Neunzigerjahren gewahrt bleiben. Die Topverdiener haben sich schadlos gehalten.
Dem Kaufkraftschwund nicht gefolgt sind die Preise. Nach wie vor liegt das allgemeine Preisniveau zwischen Genf und St. Margrethen rund 30 Prozent über dem unserer Nachbarländer und mehr als 40 Prozent über jenem der in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zusammengeschlossenen Industriestaaten. Für eine wachsende Zahl von Schweizer Haushalten ist dieser Befund alarmierend, obschon er keineswegs neu ist. Seit Jahren hinlänglich bekannt sind auch die schlimmsten unter den preistreibenden Faktoren: Verursacht werden die überdurchschnittlich hohen Lebenshaltungskosten «in erster Linie in Binnensektoren und in zweiter Linie in Bereichen, in denen die Politik des Staates eine wichtige Rolle spielt», heisst es dazu im kürzlich erschienenen «Wachstumsbericht» des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco).
Im internationalen Vergleich exorbitant erscheint das helvetische Preisniveau insbesondere bei den Wohnungsmieten (80 Prozent über dem EU-Durchschnitt), im Gesundheitswesen (plus 65 Prozent), bei den staatlichen Ausgaben (plus 60 Prozent), im Bereich des öffentlichen Verkehrs (plus 50 Prozent), bei den Nahrungsmitteln (plus 40 Prozent) und im Gast- und Freizeitgewerbe (plus 30 Prozent). Nach Einschätzung der Deregulierungsbefürworter im Staatssekretariat für Wirtschaft hängt das hohe Preisniveau in der Schweiz vorab «mit einem Mangel an Wettbewerb und im internationalen Vergleich zu aufwändigen staatlichen Regelungen» zusammen. Dieser Sichtweise können eingefleischte Deregulierungsgegner nichts abgewinnen. Auf Grund der vergleichsweise hohen Löhne im Dienstleistungsbereich sei es im Grunde völlig normal, dass in einem überdurchschnittlich entwickelten und spezialisierten Land wie der Schweiz auch die Preise höher lägen: «Bei ortsgebundenen Leistungen führt ein hohes Lohnniveau zu höheren Preisen. Das ist völlig natürlich. Alle reichen Länder haben dieses Problem», postuliert etwa Serge Gaillard, ökonomischer Vordenker des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Selbst wenn die Kaufkraft um den Einfluss des Einkommensniveaus bereinigt würde, kontert das Seco, «bleibt die Schweiz, wie Japan, eines der Länder, in denen die Preise weit über dem Preisniveau im Ausland liegen».
Bleibt die Frage, wie der geschröpfte Mittelstand der Kosten-, Steuer- und Abgabenfalle entkommt. Mehr Sensibilität für die politischen Abläufe wäre eine Empfehlung. Wenn Parteien Steuersenkungen versprechen und das Wahlvolk gleichzeitig mit neuen Leistungsangeboten ködern, ist etwas faul. Die Politik neigt weiterhin dazu, die Wenigverdienenden besser zu stellen, wie die laufenden AHV- und BVG-Revisionen zeigen. Den wissenschaftlich erhärteten Beweis für diese These wurde bei den Krankenkassenprämien-Verbilligungen geliefert. Die mittleren Einkommen werden über Gebühr strapaziert, wie die «Wirkungsanalyse» des Krankenversicherungsgesetzes ergab. «Man hat immer unten entlastet», kritisiert denn auch SVP-Präsident Ueli Maurer. Deshalb: «Eine gute Sparpolitik ist am mittelstandsfreundlichsten», weiss Franz Marty, Finanzdirektor des Tiefsteuerparadieses Schwyz, aus langjähriger Erfahrung.
Zu wenig Initiative zeigt der Einzelne gerade dort, wo er noch etwas bewegen könnte: im Privatbereich. Wenn beispielsweise alle Versicherten in die für sie günstigste Krankenkasse wechselten, ergäbe sich ein theoretisches Sparpotenzial von zwei Milliarden Franken, wie Richard Eisler vom Versicherungsservice Comparis.ch für das Jahr 2001 errechnet hat. Pro Kopf macht dies immerhin 277 Franken aus. «Der grösste Teil der Leute lässt sich nicht auf das Thema ein», bedauert Eisler.
Bösenflaute, tendenziell sinkende Renten, wachsende Steuern, Gebühren und Sozialabgaben – der grenzenlose Optimismus der New-Economy-Phase ist definitiv einer realistischeren Beurteilung der Zukunft gewichen. Alte Binsenwahrheiten werden dabei wieder aktuell, wie jene, wonach es soziale Sicherheit ohne wirtschaftliche Prosperität nicht gibt. Angst vor dem materiellen Abstieg ist ein schlechter Ratgeber. In der Schweiz sei der Mittelstand eben gut informiert, dadurch neige er zum Pessimismus, sagt Hans Rudolf Schuppisser, Sozialexperte des Arbeitgeberverbandes. Nur ist dies kein Grund, dass wir reichen Schweizer wehleidig werden.
Den Kleinaktionären geht es ans Lebendige
Hunderte von Milliarden Franken sind durch den Börsencrash seit Ende 2000 vernichtet worden. Hart trifft es jene Kleinaktionäre, die erst spät aufs Börsenkarussell gesprungen sind. In den Vorsorgeplänen müssen die Renditeprognosen revidiert werden.
Pensionskassen in Not
Die Jungen erhalten weniger Rente
Der Börsencrash bringt die zweite Säule ins Wanken. Der Bundesrat will den Mindestzinssatz für Pensionskassengelder voraussichtlich von vier auf drei Prozent senken. Den Jungen drohen dadurch im Worst Case Rentenkür- zungen bis zu 15 Prozent.
Gefrässiger Staat
Steuern und Krankenkassenprämien steigen weiter
In den nächsten Jahren dürften Steuern, Abgaben und Gebühren wegen der Konjunkturflaute nach oben tendieren. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Krankenkassenprämien ist unausweichlich. Ob der Bund die Familien steuerlich entlastet, ist ungewiss.
Schwindende Kaufkraft
Die Löhne wachsen nur noch marginal
In den Neunzigerjahren sind die Löhne real nur noch geringfügig gestiegen. Explodiert sind jedoch die Saläre einzelner Topmanager. Und zwischen den Branchen wachsen die Unterschiede. Nur ein kräftiges Wirtschaftswachstum bringt neues Lohnwachstum.
Hochpreisinsel Schweiz
Die Preise purzeln noch nicht
Noch immer bezahlt man in der Schweiz 30 Prozent höhere Preise als in den Nachbarländern. Bei den Mieten und dem Gesundheitswesen ist die Diskrepanz beson-ders gross. Erst wenn das Kartell- gesetz verschärft wird, dürften die Preise ins Rutschen kommen.
Am Tag, vor dem die Rentenbombe platzte, liess Pascal Couchepin seine soziale Ader anschwellen wie der Hahn den Kamm. 86 000 Haushalte teilen hier zu Lande das Schicksal, dass der Lohn für das tägliche Brot nicht reicht. Mit einer gross präsentierten Working-Poor-Studie erweckte der Minister den Anschein, die Bekämpfung des Phänomens sei ihm ein Anliegen.
Weniger sensibel behandelte die Regierung 1,1 Millionen Beschäftigte, die ihr Leben weitgehend ohne Staatshilfe fristen. Angetrieben von Ruth Metzler und Pascal Couchepin, beschloss der Bundesrat vor den Sommerferien noch rasch, den Mindestzinssatz für die Pensionskassengelder «voraussichtlich» gleich um ein Viertel zu senken. Damit gab er den massiven Drohungen der privaten Versicherungen nach, die mit der kollektiven Vorsorge Verluste schreiben. Den politischen Hauruck-Entscheid unterlegte der Bundesrat nur spärlich mit Fakten, als ob es um die Subventionen für die Verarbeitung heimischer Schafswolle ginge. Entsprechend gross war von links bis rechts der Rabatz wegen des «Rentenklaus».
Peinlich für die Regierung: Sie hat es verschlafen, den Mindestzinssatz von vier Prozent während der Hochzinsjahre nach oben anzupassen. Dabei hatte ihr dies der Nationalrat 1992 ausdrücklich empfohlen. Mehr noch: Die Parlamentarische Verwaltungskontrollstelle bezifferte die Summe, die allein zwischen 1990 und 1992 direkt den Altersguthaben der Versicherten hätten zusätzlich gutgeschrieben werden können, auf mehrere Hundert Millionen Franken. Für die ständerätliche Geschäftsprüfungskommission war es 1995 nur schwer erklärbar, «warum der Bundesrat darauf verzichtet hat, während nahezu sechs Jahren den Mindestzinsstz an die Entwicklung des Geld- und Kapitalmarktes anzupassen». Im Klartext: Hätten der frühere Sozialminister Flavio Cotti und seine Nachfolgerin, Ruth Dreifuss, eine Erhöhung des Zinssatzes eingeleitet, wären die umstrittenen Gewinne der Versicherungen, die sie über Jahre hinweg aus dem Pensionskassengeschäft abgezogen haben, weniger üppig ausgefallen.
Nun trifft die geplante Senkung des Mindestzinses den Mittelstand ins Mark. Die AHV deckt den Existenzbedarf als Basisrente für alle. Erst die zweite Säule ermöglicht nach der Pensionierung die Fortsetzung des gewohnten Lebensstandards in angemessener Weise. Ans Lebendige geht es 1,1 Millionen Beschäftigten, primär in den KMUs. Diese kleinen und mittleren Unternehmen delegieren die berufliche Vorsorge über Sammelstiftungen an die Versicherungsgesellschaften wie die Rentenanstalt oder die «Winterthur». Die Privatassekuranz will den Zinssatz nun möglichst rasch auf drei Prozent senken, während die autonomen Kassen trotz Börsenbaisse und tiefen Zinsen noch über mehr Schnauf verfügen. Sollte der Zins über längere Zeit bei drei Prozent verharren, erhalten die Versicherten, die heute 25 bis 35 Jahre alt sind, dereinst 15 Prozent weniger Rente. Doch es kommt noch dicker: Da die Lebenserwartung gestiegen ist, will das Parlament den rentenbildenden Umwandlungssatz von 7,2 auf 6,8 Prozent senken. Bei einem angesparten Pensionkassenkapital von 100 000 Franken bedeutet dies statt 7200 Franken noch 6800 Franken Jahresrente. Bei einem Kapital von einer Million reduziert sie sich entsprechend von 72 000 auf 68 000 Franken.
Kein Wunder, scherte beim bundesrätlichen Zinsentscheid ausgerechnet Samuel Schmid aus. Der ehemalige Gewerbepräsident scheint den Kontakt zur KMU-Basis noch nicht ganz verloren zu haben. «Es ist die schweigende, schaffige und durchaus sozial denkende Mehrheit. Diejenigen, die zahlen, aber vom Staat nie Leistungen beanspruchen», umriss er 1994 den vagen Begriff des Mittelstandes. Kurz: «Chrampfe und bläche», wie es Myrtha Welti, damalige Generalsekretärin der selbst ernannten Mittelstandspartei SVP, auf den Punkt brachte.
Heute hat der Mittelstand als politischer Kampfbegriff nicht nur bei den Konservativen wieder Konjunktur, obwohl er bieder und altväterisch tönt und zünftisches Denken suggeriert. «Der Begriff wird von Politikern missbraucht», kritisiert Gewerkschaftssekretär Serge Gaillard. Dabei vereinnahmen ihn alle vier Bundesratsparteien, mitunter in der abgewandelten Form der «mittleren Einkommen». Selbst die SP fordert heute Steuerreformen, die explizit «den Mittelstand und die unteren Einkommen» entlasten sollen statt «die VillenbesitzerInnen an den Goldküsten überall in der Schweiz». Die Arbeiterpartei machte dem verarmenden Mittelstand schon in ihrem Parteiprogramm von 1935 Avancen. Am besten geholfen wäre ihm mit der «Übertragung der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und über den Verteilungsapparat an die Volksgemeinschaft». So weit kam es nicht. Doch wer dem Mittelstand angehört, ist auch heute nicht wissenschaftlich exakt geklärt. «Man weigert sich, weil man das mittelstandspolitische Umfeld nicht aufschrecken will», glaubt der St.-Galler Professor Franz Jaeger. Robert E. Leu, Mitautor von Couchepins Working-Poor-Studie: «Es sind nicht die Armen und nicht die Reichen».
Weil die Daten schlicht fehlen, ist es kaum möglich, konkrete Aussagen über die Vermögensverteilung in der Schweiz und deren Veränderung über die Zeit zu machen. Zu stiefmütterlich wird das politisch brisante Thema vom Bund und an den Universitäten behandelt. Was die intellektuelle Aufarbeitung der zentralen Verteilungsfrage angeht, ist die hoch entwickelte und vermögende Schweiz tatsächlich noch ein Entwicklungsland. Einer der wenigen Wissenschaftler, die sich damit eingehender befasst haben, ist Professor Yves Flückiger, Dozent für Wirtschaftspolitik an der Universität Genf und Mitglied der Wettbewerbskommission.
Anhand von Steuerdaten des Bundes konnte Flückiger belegen, dass sich die Einkommensunterschiede in der Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg merklich vergrössert haben. Zu diesem Zweck hat der Genfer Arbeitsmarktexperte die verfügbaren Einkommen (nach Steuern und Abgaben) der vermögendsten 20 Prozent im Lande mit denjenigen des ärmsten Bevölkerungsfünftels verglichen. Dabei kam er zu folgendem, der Tendenz nach wenig überraschendem Schluss: Lagen die verfügbaren Durchschnittseinkommen im privilegierten Bevölkerungsfünftel 1949 noch 4,1-mal höher als diejenigen im Vergleichssegment am unteren Ende der Einkommensskala, so vergrösserte sich der «Ungleichheitsfaktor» zwischen dem höchsten und dem tiefsten Einkommensquintil bis 1992 auf einen Wert von 6,8.
Für die wachsende Diskrepanz macht Flückiger im Rückblick unter anderem die notorische Geldmengenfixierung der Schweizerischen Nationalbank (SNB) unter Präsident Markus Lusser verantwortlich. Dass hohe Inflationsraten die besser verdienenden Haushalte tendenziell stärker belasten und somit für eine sozial erwünschte Umverteilung von oben nach unten sorgen, ist unter Ökonomen unbestritten. Der angesprochene Wirkungszusammenhang wird im Fachjargon als «kalte Progression» bezeichnet und meint die Tatsache, dass die progressive Ausgestaltung der Steuersätze automatisch dafür sorgt, dass (teuerungsbedingt) steigende Nominallöhne vom Fiskus stärker belastet werden. Exemplarisch zeigt sich dies bei der direkten Bundessteuer: 10 Prozent der Steuerpflichtigen bringen 70 Prozent der Einnahmen auf, 17 Prozent zahlen nichts. Nicht nur für die Superverdiener, auch bei einem steuerbaren Einkommen um die hunderttausend Franken geht die direkte Bundessteuer ins grosse Tuch.
So gesehen, schreibt Flückiger in seiner Studie, habe die restriktive Politik der SNB zu Beginn der Neunzigerjahre nicht nur für die gesamte Schweizer Volkswirtschaft unheilvolle Konsequenzen gehabt, sondern sie hat auch «die Ungleichheit bei den Einkommen erhöht, indem die Teuerungsraten von der Nationalbank quasi auf den Nullpunkt gedrückt wurden».
Ein anderer Faktor für die Schieflage lässt sich an der verfehlten Migrationspolitik der Eidgenossenschaft festmachen. Während in anderen Ländern die Verteilungsgerechtigkeit im Aufschwung tendenziell zunimmt und in rezessiven Phasen zurückgeht, verhält es sich in der Schweiz erstaunlicherweise gerade umgekehrt. Zurückführen lässt sich dies laut Flückiger auf kontraproduktive Einwanderungsbestimmungen des Bundes und dabei insbesondere auf das inzwischen abgeschaffte Saisonnierstatut. Indem die offizielle Schweiz bis vor wenigen Jahren in jeder Rezession Zehntausende von Gastarbeitern nach Hause geschickt hat, wurde das Angebot an unqualifizierter Arbeit künstlich verknappt und der Druck auf die Löhne im entsprechenden Segment des Arbeitsmarktes verhindert.
Sieht man von den vergangenen Sünden der Nationalbank und den Konzeptionsfehlern in der helvetischen Einwanderungsspolitik einmal ab, so scheinen die Früchte des wirtschaftlichen Fortschritts zwischen 1949 und 1992 so ungleich gar nicht verteilt worden zu sein. Bezogen auf die in diesem Zeitraum erzielten Lohnabschlüsse, spricht der Genfer Ökonomieprofessor jedenfalls von einer generell «arbeitnehmerfreundlichen Verteilungspolitik». Seither habe sich die Situation jedoch in dem Sinne verändert, schränkt der Verteilungsexperte ein, «dass sich die beobachteten Produktivitätsfortschritte nicht mehr in entsprechenden Reallohnsteigerungen niedergeschlagen haben».
Gemäss Berechnungen des Bundesamtes für Statistik haben die Reallöhne in der Schweiz zwischen 1993 und 2000 praktisch stagniert. Das heisst, dass sich die Kaufkraft der ausbezahlten Saläre, nach Abzug der Teuerung, insgesamt kaum mehr erhöht hat. «Für die Kapitalseite war es ein goldenes Zeitalter – für die Arbeitnehmerseite kaufkraftmässig ein verlorenes Jahrzehnt», bilanziert der Berner SP-Nationalrat und Ökonom Rudolf Strahm.
Je nach Branche und Funktionsbereich sind die Löhne zum Teil merklich gestiegen. Am besten erging es den Beschäftigten im Finanzbereich, im Versicherungswesen und in der chemisch-pharmazeutischen Industrie. In diesen traditionell privilegierten Branchen stiegen die Reallöhne in besagtem Zeitraum am stärksten, während sich die Situation der Lohnempfänger in weniger prestigiösen Wirtschaftssektoren unter Berücksichtigung der Teuerungsentwicklung in den Neunzigerjahren nur noch zaghaft verbessert hat. Geschrumpft ist die Kaufkraft derweil im Maschinen- und Fahrzeugbau, in der Textilbranche, im Verkehrsbereich, in der Papierindustrie, im Unterrichtswesen und in der öffentlichen Verwaltung.
Die Folgen sind fatal: Immer mehr Schweizer Privathaushalte sind überschuldet; nach Aussage von Fachgremien sind es bereits 10 bis 15 Prozent. Dabei gerät «zunehmend auch der Mittelstand in die Schuldenfalle», warnt die «HandelsZeitung». Auch die Zahl der Privatkonkurse schnellt in die Höhe: Im letzten Mai waren es 25 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. Prekär geworden ist es für jene Kleinaktionäre, die am Ende der Börsenhausse mit geliehenem Geld eingestiegen und infolge Crashs in einen finanziellen Engpass geraten sind.
Abgesehen von der Stagnation der Reallöhne, haben noch andere Faktoren das verfügbare Einkommen des Mittelstandes ausgehöhlt. Die Krankenkassenprämien steigen seit Jahren ungebremst, 2001 schnellten sie in der Grundversicherung um zehn Prozent in die Höhe. Stark nach oben tendieren auch die indirekten Steuern. So wuchsen die Mehrwertsteuereinnahmen des Bundes seit 1990 (damals noch Warenumsatzsteuer) um mehr als sieben Milliarden Franken. Gemäss einer Berechnung der BILANZ hat sich die Summe der obligatorischen Sozialversicherungsbeiträge, Steuern und Abgaben in der Schweiz von 1990 bis 2001 von 118,9 auf 171,8 Milliarden Franken erhöht, eine Zunahme von stolzen 46 Prozent. Diese Entwicklung bestätigt auch eine Studie der Universität St. Gallen, die im Auftrag der Zürcher SVP verfasst worden ist. Die Kantone haben in den Neunzigerjahren Gebühren und Taxen um gut 50, die Gemeinden um 66 Prozent hinaufgesetzt. Autor Franz Jaeger veranschlagt die Zwangsabgaben auf 50 bis 54 Prozent des Bruttolohnes. Jaeger: «Sicher ist, dass der Mittelstand am meisten belastet wird. Er hat keine Reserven mehr.»
Immerhin sind in mehreren Kantonen und Gemeinden die Einkommenssteuern gesenkt und die Erbschaftssteuern zum Teil sogar abgeschafft worden. Doch der Bund hat sein Versprechen, den Steuerdruck zu lindern, bis heute nicht eingelöst. Zu Beginn der Legislaturperiode hatten sich die bürgerlichen Parteien SVP, FDP und CVP auf ein milliardenschweres Steuersenkungspaket eingeschworen, das der Bundesrat Anfang 2001 dann auch vorgelegt hat. Heute hängt dieses jedoch völlig in der Luft. Weil die Konjunktur schwächelt, kippt die Stimmung. Im neuen Finanzplan drohen unerwartete Einnahmenausfälle. Der Bundesrat führt nächstes Jahr die Schuldenbremse ein, und er darf deshalb kein Defizitbudget vorlegen. In der Pipeline des Bundesparlamentes befinden sich zudem happige Mehrausgaben, die nicht finanziert sind, wie etwa in den Bereichen Bildung und Forschung, Krankenkassenprämien-Verbilligung und Kinderbetreuung. Wachsen die Ausgaben ungebremst weiter, drohen laut Economiesuisse bis 2010 Mehrbelastungen von achtzig Milliarden Franken.
Die Gut- und Besserverdienenden werden erst einmal vertröstet. Von der Reform der Ehepaar- und Familienbesteuerung profitieren sie 2003 noch nicht; sie tritt, wenn überhaupt, erst mit einjähriger Verzögerung in Kraft. Die heutigen und künftigen Hausbesitzer können ihre Hoffnungen weitgehend begraben. Der Nationalrat wollte sie grosszügigerweise mit 280 Millionen Franken entlasten; nun ist die ständerätliche Kommission bereits zurückgekrebst. Dabei sind die Eigenheimbesitzer infolge massiv erhöhter Eigenmietwerte und Gebühren «in den letzten zehn Jahren fiskalisch schlechter gefahren», behauptet der Schwyzer FDP-Ständerat Toni Dettling, Präsident des Hauseigentümerverbandes Schweiz. Die Stunde der steuerpolitischen Wahrheit naht in der Herbstsession, wenn sich der Ständerat über das Steuerpaket beugt und das Budget 2003 vorliegt. Per Mitte nächsten Jahres sollen immerhin die Lohnprozente bei der Arbeitslosenversicherung gesenkt werden, sofern das Volk der Vorlage zustimmt. Fazit: Die neoliberalen Verheissungen haben sich nicht erfüllt, wie die steigende Staatsquote zeigt. Der Staat ist nicht schlanker, sondern fetter geworden.
Bis hinauf in den gehobenen Mittelstand sind die frei verfügbaren Einkommen im Verlauf der Neunzigerjahre merklich zusammengeschmolzen. Untermauert wird diese Aussage durch eine Auswertung der Verbrauchserhebungen des Bundes aus den Jahren 1990 und 1998. Demnach hat sich das verfügbare Einkommen der Haushalte mit den ohnehin tiefsten Bruttoeinkünften (Einkommensklasse: unterste 25 Prozent) im Untersuchungszeitraum markant reduziert. Gleichzeitig musste aber auch das Gros der Bezüger mittlerer Einkommen materielle Einbussen in Kauf nehmen.
Im breit gefassten Mittelstand (Einkommensklasse: mittlere 65 Prozent) ist die Quote des verfügbaren Einkommens zwischen 1990 und 1998 von durchschnittlich 81 auf 78 Prozent der Einnahmen gesunken. Nur gerade im obersten Einkommensdezil (höchste 10 Prozent) konnte der Besitzstand in den Neunzigerjahren gewahrt bleiben. Die Topverdiener haben sich schadlos gehalten.
Dem Kaufkraftschwund nicht gefolgt sind die Preise. Nach wie vor liegt das allgemeine Preisniveau zwischen Genf und St. Margrethen rund 30 Prozent über dem unserer Nachbarländer und mehr als 40 Prozent über jenem der in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zusammengeschlossenen Industriestaaten. Für eine wachsende Zahl von Schweizer Haushalten ist dieser Befund alarmierend, obschon er keineswegs neu ist. Seit Jahren hinlänglich bekannt sind auch die schlimmsten unter den preistreibenden Faktoren: Verursacht werden die überdurchschnittlich hohen Lebenshaltungskosten «in erster Linie in Binnensektoren und in zweiter Linie in Bereichen, in denen die Politik des Staates eine wichtige Rolle spielt», heisst es dazu im kürzlich erschienenen «Wachstumsbericht» des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco).
Im internationalen Vergleich exorbitant erscheint das helvetische Preisniveau insbesondere bei den Wohnungsmieten (80 Prozent über dem EU-Durchschnitt), im Gesundheitswesen (plus 65 Prozent), bei den staatlichen Ausgaben (plus 60 Prozent), im Bereich des öffentlichen Verkehrs (plus 50 Prozent), bei den Nahrungsmitteln (plus 40 Prozent) und im Gast- und Freizeitgewerbe (plus 30 Prozent). Nach Einschätzung der Deregulierungsbefürworter im Staatssekretariat für Wirtschaft hängt das hohe Preisniveau in der Schweiz vorab «mit einem Mangel an Wettbewerb und im internationalen Vergleich zu aufwändigen staatlichen Regelungen» zusammen. Dieser Sichtweise können eingefleischte Deregulierungsgegner nichts abgewinnen. Auf Grund der vergleichsweise hohen Löhne im Dienstleistungsbereich sei es im Grunde völlig normal, dass in einem überdurchschnittlich entwickelten und spezialisierten Land wie der Schweiz auch die Preise höher lägen: «Bei ortsgebundenen Leistungen führt ein hohes Lohnniveau zu höheren Preisen. Das ist völlig natürlich. Alle reichen Länder haben dieses Problem», postuliert etwa Serge Gaillard, ökonomischer Vordenker des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Selbst wenn die Kaufkraft um den Einfluss des Einkommensniveaus bereinigt würde, kontert das Seco, «bleibt die Schweiz, wie Japan, eines der Länder, in denen die Preise weit über dem Preisniveau im Ausland liegen».
Bleibt die Frage, wie der geschröpfte Mittelstand der Kosten-, Steuer- und Abgabenfalle entkommt. Mehr Sensibilität für die politischen Abläufe wäre eine Empfehlung. Wenn Parteien Steuersenkungen versprechen und das Wahlvolk gleichzeitig mit neuen Leistungsangeboten ködern, ist etwas faul. Die Politik neigt weiterhin dazu, die Wenigverdienenden besser zu stellen, wie die laufenden AHV- und BVG-Revisionen zeigen. Den wissenschaftlich erhärteten Beweis für diese These wurde bei den Krankenkassenprämien-Verbilligungen geliefert. Die mittleren Einkommen werden über Gebühr strapaziert, wie die «Wirkungsanalyse» des Krankenversicherungsgesetzes ergab. «Man hat immer unten entlastet», kritisiert denn auch SVP-Präsident Ueli Maurer. Deshalb: «Eine gute Sparpolitik ist am mittelstandsfreundlichsten», weiss Franz Marty, Finanzdirektor des Tiefsteuerparadieses Schwyz, aus langjähriger Erfahrung.
Zu wenig Initiative zeigt der Einzelne gerade dort, wo er noch etwas bewegen könnte: im Privatbereich. Wenn beispielsweise alle Versicherten in die für sie günstigste Krankenkasse wechselten, ergäbe sich ein theoretisches Sparpotenzial von zwei Milliarden Franken, wie Richard Eisler vom Versicherungsservice Comparis.ch für das Jahr 2001 errechnet hat. Pro Kopf macht dies immerhin 277 Franken aus. «Der grösste Teil der Leute lässt sich nicht auf das Thema ein», bedauert Eisler.
Bösenflaute, tendenziell sinkende Renten, wachsende Steuern, Gebühren und Sozialabgaben – der grenzenlose Optimismus der New-Economy-Phase ist definitiv einer realistischeren Beurteilung der Zukunft gewichen. Alte Binsenwahrheiten werden dabei wieder aktuell, wie jene, wonach es soziale Sicherheit ohne wirtschaftliche Prosperität nicht gibt. Angst vor dem materiellen Abstieg ist ein schlechter Ratgeber. In der Schweiz sei der Mittelstand eben gut informiert, dadurch neige er zum Pessimismus, sagt Hans Rudolf Schuppisser, Sozialexperte des Arbeitgeberverbandes. Nur ist dies kein Grund, dass wir reichen Schweizer wehleidig werden.
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