Der Skandal um vermutete Bilanzmanipulationen bei der deutschen Wirecard AG versetzt nicht mehr nur Börse und Aufsichtsbehörden in Aufruhr. Angesichts der vorübergehenden Verhaftung von Ex-Chef Markus Braun bekommen allmählich auch die ersten Kunden kalte Füsse.
In Singapur legte der Fahrdienstleister Grab – eine Art asiatisches Uber – die jüngst gestartete Partnerschaft mit Wirecard wieder auf Eis. Der französische Telekomkonzern Orange SA soll für seine Orange Bank in Kürze auf einen neuen Zahlungspartner umschwenken; dies meldet «Bloomberg» unter Berufung auf «informierte Kreise». Ein Orange-Sprecher lehnte eine Stellungnahme ab. Die Zusammenarbeit beider Firmen reicht mindestens bis 2013 zurück. Der niederländische Arm der Fluggesellschaft Air France-KLM prüft nach Angaben eines Sprechers die Lage. Die Londoner Onlinebank Revolut Ltd. hat sich entschieden, Kunden auf einen anderen Anbieter umzustellen, um Probleme beim Service zu vermeiden.
«Ob sie die Lizenzen von Visa und Mastercard halten können, ist die grosse Frage. Ohne sie haben sie kein Geschäft mehr.»
Neil Campling, Mirabaud
Mindestens genauso dringend wie die Sicherung der Kundenbasis ist für den neuen Wirecard-Interims-CEO James Freis, die Zusammenarbeit mit den Kreditkarten-Anbietern zu sichern. Wirecard verfügt über Lizenzen von Mastercard, Visa und JCB International. Über sie gibt die Banksparte des Konzerns ihre Karten aus.
Wenn Wirecard die verschollenen 1,9 Milliarden Euro nicht auffinden kann, könnten sich die Kreditkartenfirmen gezwungen sehen, die Lizenzen zu widerrufen. Ein Wirecard-Sprecher lehnte eine Stellungnahme ab. «Ob sie die Lizenzen von Visa und Mastercard halten können, ist die grosse Frage», sagt Analyst Neil Campling von Mirabaud. «Ohne sie haben sie kein Geschäft mehr.»
Ein Sprecher der Mastercard Inc. erklärte, das Unternehmen verfolge die Entwicklung bei Wirecard, wollte sich zu den Gesprächen mit einzelnen Kunden aber nicht äussern. Eine Sprecherin der Visa Inc. sagte, man beobachte weiterhin, was vor sich gehe.
Wirecard hat nach Angaben seiner Internetseite mehr als 313'000 Firmen als Kunden. Der Zahlungsanbieter aus Aschheim bei München bietet seine Dienste in 26 Ländern an.
Banken: Stillhaltevereinbarung
Der dritte heikle Punkt: die Gläubiger. Offenbar gewähren die kreditgebenden Banken eine Atempause – mehr allerdings nicht. Im Bezug auf eine revolvierende Kreditlinie von 1,75 Milliarden Euro gibt es laut informierten Kreisen eine Stillhaltevereinbarung mit kurzer Dauer – so «Bloomberg». Dann wollen die Banken über die Rückzahlungsforderung entscheiden.
Inzwischen soll das Beratungshaus FTI Consulting prüfen, ob Wirecard gegen die Kreditkonditionen verstossen hat. Die Banken selbst gehen ebenfalls die Verträge durch und sprechen auch mit Visa und Mastercard, um zu sehen, wie sich die höchste Rückzahlungsquote sichern lässt.
Eine Option sei ein Tausch von Krediten gegen Aktienanteile. Wirecard hatte zudem bereits mitgeteilt, den künftigen Verkauf von Geschäftsteilen zu prüfen.
Zu den am stärksten betroffenen Kreditgebern gehören ABN Amro Bank NV, Commerzbank AG, ING Groep NV sowie die LBBW. Sie sind laut Bloomberg-Informationen jeweils mit 200 Millionen Euro engagiert.
Bank of America: Wirecard-Aktie könnte nur 1 Euro wert sein
Die Aktie des Immer-noch-Dax-Konzerns Wirecard könnten am Ende nur noch 1 Euro wert sein: Dies schreibt ein Analyst der Bank of America in einer Kunden-Notiz. «Die jüngsten Nachrichtenflüsse suggerieren, dass die Kunden begonnen haben, Wirecard den Rücken zu kehren, und dass die Gläubiger einen Schlussstrich unter die Kreditlinien ziehen könnten», so Adithya Metuku. «Es ist unwahrscheinlich, dass in nächster Zeit ds zugrundeliegende Geschäft einen Aufschwung erlebt.»
Damit reduzierte Metuku sein Kursziel von 14 auf 1 Euro, Rating: «Unterperform». Noch vor einer Woche war die Wirecard-Aktie zu 14 Euro bewertet worden. Im Gegensatz zu den meisten Analysten, die im Zahlungsdienstleister bis zuletzt einen Kauf sahen, warnte Merrill-Lynch-Analyst Metuku schon früh. Bereits im November 2018 setzte er Fragezeichen hinter die von Wirecard ausgewiesenen Zahlungsströme. («Bloomberg» – rap)
Offensichtlich wird auch, dass der Wirecard-Skandal eine ganze Batterie von Prozessen nach sich ziehen dürfte. Ex-CEO Markus Braun, 51, war zu Wochenbeginn verhaftet worden; die Staatsanwaltschaft München ermittelt und vermutet, dass das Management unter seiner Leitung die Bilanzsumme und die Umsätze des Dax-Konzerns durch vorgetäuschte Einnahmen aufgebläht habe. Gegen fünf Millionen Euro Kaution und wöchentliche Meldepflicht bei der Polizei hat das Amtsgericht München den Haftbefehl ausser Vollzug gesetzt.
«Nachtrags-Anzeige»
Zugleich erweiterte die Finanzaufsicht Bafin ihre Strafanzeige gegen den Zahlungsabwickler wegen des Verdachts der Marktmanipulation. «Wir haben eine Nachtrags-Anzeige bei der Staatsanwaltschaft München I wegen des Verdachts der Marktmanipulation erstattet», sagte eine Bafin-Sprecherin. «Die Ad-hoc-Mitteilung der Wirecard AG vom 22. Juni 2020 verstärkt den Verdacht, dass die bilanzielle Darstellung zu Umsatzerlösen und Vermögensgegenständen in den Geschäftsberichten (zum 31.12.2016, 31.12.2017 und 31.12.2018) unrichtig war.»
Braun musste zugleich einen grossen Teil seiner Wirecard-Aktien abstossen – offenbar gezwungen durch so genannte «Margin Calls» für ausstehende Kredite. In einer Serie von Verkäufen verkaufte er Aktien für 155 Millionen Euro. Das gab Wirecard in mehreren Ad-hoc-Mitteilungen am Dienstagabend bekannt. Als der Skandal am vergangenen Donnerstag aufflog, hatte er 7 Prozent am Unternehmen gehalten.
(«Bloomberg» – rap)
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