Der Weg in die digitalisierte Klinik ist lang und beschwerlich. Er begann Mitte der 1990er-Jahre, vorneweg sind das Universitätsspital in Genf und ein paar Kliniken im Kanton Neuenburg. Die NZZ staunte: «All diese Kliniken sind fortan durch ein sogenanntes Intranet verbunden.»
Zwar war schon damals von verlockenden Effizienzgewinnen die Rede, viel wichtiger aber waren die Kosten für die neue Infrastruktur und der Datenschutz, was den Elan der ersten Stunden bremste. Zumal es anfänglich mehr ein punktueller Ansatz als eine umfassende Digitalisierungsstrategie war.
Das elektronische Patientendossier, ein Kern der Idee, ist auch heute, fast dreissig Jahre später, noch immer nicht flächendeckend ausgerollt. Immerhin haben die Planer in den Unikliniken, Kantonsspitälern, Spezialkliniken und Regionalspitälern die Notwendigkeit erkannt. Es gibt Kliniken wie Balgrist, in denen die Digitalisierung längst eine breite Anwendung findet.
Robotik, 3D-Operationsplanung, Augmented Reality oder künstliche Intelligenz sind integriert. Die Klinik hat letztes Jahr bei der Validierung nach Emram (Electronic Medical Records Adoption Model), das den Grad der Digitalisierung misst, die Stufe sechs von sieben erreicht.
Stark ist auch das Unispital Zürich, besonders in der Neurochirurgie. So hat man 2019 ein Machine Intelligence Learning Labor gegründet, das künstliche Intelligenz (KI) forciert. Diese wird bei den Prognosen für Patienten und Patientinnen eingesetzt, wie Luca Regli, Klinikchef in der Neurochirurgie erzählt.
Und die Prognose ist relevant: Dank KI kann das Gewebe eines Tumors schneller analysiert werden. «So können wir bereits während der Operation genauere Hinweise bezüglich des Tumortyps erhalten», sagt Regli. Ein Gewinn für den Patienten und die Patientin, ein Effizienzsprung für das Spital. Regli weiss, wovon er spricht. Mit zwei Kollegen aus der Zürcher Neurochirurgie hat er ein Standardwerk publiziert: «Machine Learning in Clinical Neuroscience».
Die Innerschweiz macht Tempo
Auch das Kantonsspital Luzern (Luks) setzt auf digitale Vernetzung. Das Projekt heisst Lukis, eine Digitalplattform, die alle für die Behandlung relevanten Daten aufbereitet. Wie der Balgrist hat auch das Luks beim europäischen Bewertungssystem für die Digitalreife den Grad sechs erreicht.
Es sind nicht nur die Grossen, die eine Digitalisierungsstrategie verfolgen, es gibt auch Kleine. Zu ihnen gehört das Kantonsspital Uri mit 91 Betten. Das Spital hatte lange wenig gemacht. Doch der Neubau, der 2022 bezugsbereit war, bot planerisch eine einmalige Chance. Und sie wurde gepackt.
Was zweifellos half, war, dass die Spitzenleute aus dem Spital einschlägige Erfahrungen aus der Privatwirtschaft mitbrachten: Der Chef des Spitals, Fortunat von Planta, arbeitete früher in der Bankenwelt, die bezüglich Digitalisierung ungleich weiter ist als das Gesundheitswesen. Aus diesem Umfeld stammt auch Betriebsleiter Adrian Gisler, er war in IT-Kaderfunktionen bei der Schwyzer und der Urner Kantonalbank tätig.
Das Kantonsspital Uri schaffte, was viele andere scheuen: die Einfürung des elektronischen Patientendossiern. Für die Patientinnen und Patienten sowie für die Ärztinnen und Ärzte existiert eine virtuelle Desktop-Infrastruktur, nutzbar auch vom Homeoffice aus. Allerdings, so warnt ICT-Experte Gisler, sei die Digitalisierung eines Spitals im Vergleich zur Bankenwelt ungleich komplexer, da viel mehr Devices integriert seien.
«Aktuell ist es oft schwieriger, einen alten Befund aufzutreiben, als eine neue Untersuchung durchzuführen.»
Urs Fischer, Universitätsklinik Basel
Der Nachholbedarf ist enorm
Doch Fan vom Patientendossier sind längst nicht alle. Urs Fischer, Oberarzt für Neurologie an der Universitätsklinik Basel, spricht sich deutlich dagegen aus: «Mein Traum wäre ein gutes elektronisches Patientendossier, in dem alle Befunde und Berichte einfach abrufbar sind» sagt er.
Für ihn sei es enttäuschend, dass Spitäler im 21. Jahrhundert nach wie vor keine besseren elektronischen Systeme hätten, die sie als Ärztinnen und Ärzte im Alltag unterstützen würden. «Aktuell ist es oft schwieriger, einen alten Befund aufzutreiben, als eine neue Untersuchung durchzuführen – das ist schlecht für das Gesundheitssystem und kostentreibend», sagt er.
6,4 Milliarden müssten investiert werden
Trotz der Bestrebungen von Balgrist, Kantonsspital Luzern oder Uri: Die Digitalisierungslücke in Schweizer Spitälern ist gross. Und sie lässt sich schwer schliessen. Das hat sich die Branche auch selber zuzuschreiben. Viel zu lange hat sie gezögert und die Effizienzsteigerung vorab durch bauliche Massnahmen angestrebt.
Das Versäumnis lässt sich an den ICT-Ausgaben der Spitäler ablesen. Diese sind im Vergleich zum Ausland auf niedrigem Niveau. Konkret: Ausländische Kliniken investieren im Schnitt 4,2 Prozent ihres Budgets ins Digitale, in der Schweiz 2,75 Prozent. Ergo ist der Nachholbedarf gross: Die Beratungsfirma PWC schätzt in einer Modellrechnung, dass Spitäler Investitionen in der Höhe von 6,4 Milliarden aufwenden müssten, um ein signifikantes Niveau zu erreichen.
Verteilt aufs Jahr müssten also wiederkehrend 1,6 Milliarden in die digitale Transformation gesteckt werden. Nur: Dafür sind Betriebsmargen notwendig, die doppelt so hoch sind wie heute.
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