Welche Rolle spielen für Sie die demografischen Prozesse in Rahmen der langfristigen Anlageplanung?

Urs Chicherio: Demografische Trends und insbesondere die Themen «Überalterung» und «verlängerte Lebenserwartung» spielen eine wichtige Rolle in unseren Anlageüberlegungen. Bei der strategischen Beratung von Pensionskassen kommt man nicht um die Berücksichtigung langfristiger Aspekte herum. Insbesondere die Problematik der steigenden Lebenserwartung verbunden mit den Unsicherheiten bezüglich Konsum- und Anlageverhalten einer älteren Gesellschaft ist eine grosse Herausforderung. Für wie lange muss das angesparte Deckungskapital reichen, und mit welchen Finanzmarktrenditen kann in der Zukunft gerechnet werden?

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Wie gehen Sie mit diesen Fragestellungen um?

Chicherio: Während man die Auswirkungen des ersten Problemkreises einigermassen genau bestimmen kann, gehen die Ansichten der Fachleute zur zweiten Fragestellung noch auseinander. Zurzeit geht man eher davon aus, dass die Renditen als Folge von Kapazitätsüberhängen unter anderem auch aus demografischen Gründen langfristig niedrig bleiben, was sich in der auch bei historisch tiefem Zinsniveau anhaltenden Nachfrage nach lang laufenden Obligationenanlagen insbesondere seitens von Versicherungen und Pensionskassen widerspiegelt. Angesichts der Globalisierung und des starken Wachstums in vielen Regionen könnte sich dieser Konsens aber auch ins Gegenteil verkehren.

Viele Industrienationen geraten 2005 bis 2010 in Strukturen, wo die Überalterung ein Problem ist. In welchen Nationen werden diese Probleme am virulentesten sein?

Chicherio: Ich denke, dass wir schon etwas länger Zeit haben. Erst 2011 wird die erste Generation der «Baby-Boomer» offiziell in Rente gehen. Weil gleichzeitig geburtenschwache Jahrgänge ins Erwerbsleben eintreten, beginnt sich ab dann das Ungleichgewicht zwischen Rentenbezügern und Beitragszahlern stärker zu verschlechtern. Am schnellsten wird dies in Ländern spürbar sein, in denen die Bevölkerung bereits relativ alt, die Lebenserwartung hoch und die Geburtenrate seit Jahren niedrig ist. Das trifft stark auf Italien und Japan zu. Aber auch die Schweiz und andere Länder Europas sind in dieser Rangliste nicht viel weiter hinten.

Wie beurteilen Sie die Lage in Deutschland? Dort lebt die Rentenversicherung von der Hand in den Mund. Ist das ein Beispiel für ein System, wo man schon jetzt an die Grenzen stösst?

Chicherio: Das ist zweifellos so. In keinem anderen Industriestaat ist die Abhängigkeit der Rentner von den im Umlageverfahren finanzierten gesetzlichen Renten so hoch wie in Deutschland, wo rund 85% aus der 1. Säule stammen. Mit dem heutigen Beitragssatz von 19,5% auf dem Bruttogehalt dürfte die Belastungsgrenze der Wirtschaft erreicht sein. Entsprechend wurde in der Rentenreform 2001 ein Maximalsatz von 20% bis ins Jahr 2020 beziehungsweise von 22% bis 2030 festgeschrieben. Bereits heute geht die Rechnung auf dieser Grundlage nicht mehr auf, und der Staat muss immer höhere Zuschüsse zum Ausgleich des Defizits machen. Dieser Trend wird sich mit jedem Jahr der Verschlechterung der Alterslastquote verschärfen und die ohnehin angespannte Finanzlage des Landes strapazieren.

Offensichtlich geschieht in der Politik wenig. Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass in den nächsten 10 bis 20 Jahren ein solchen Systems kollabiert?

Chicherio: Das ist ein Extremszenario, aber aus heutiger Sicht nicht ganz auszuschliessen. Dass sich ein Bedrohungspotenzial zusammenbraut, kann kaum bestritten werden. Sowohl die Menschen, die in wenigen Jahren Rente beziehen werden, als auch jene, die sie dann im Erwerbsleben ersetzen, leben heute bereits und können deshalb zahlenmässig mit einer grossen Genauigkeit erfasst werden. Daran ändern auch unterschiedliche Szenarien betreffend Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit, Immigration nichts.

Wäre die oft vorgeschlagene Lösung höhere Steuern nicht kontraproduktiv, da sie die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft mindert?

Chicherio: Das ist so, aber was sind die Alternativen? Komplementäre Systeme, wie wir sie in der Schweiz haben, sind im Kommen. Aber auch in diesem Konzept wird viel Kaufkraft abgeschöpft. Andererseits kann man bei dem gegebenen demografischen Szenario auch nicht einfach alles dem Staat als quasi dem «Spender of last Resort» überlassen, denn damit ist er auf Dauer klar überfordert. Eine teilweise Umverteilung der Verantwortung für die Altersvorsorge auf berufliche und private Träger ist notwendig. Wird diese Entscheidung zu lange aufgeschoben, werden die Kapitalmärkte mittels Ratingkorrekturen mit der Folge höherer Zinsen eine solche Politik abstrafen und Richtungswechsel erzwingen. Wenn diese Warnungen nichts fruchten, droht ein Kollaps.

In einer Studie kommt Standard & Poor's zum Schluss, dass wenn die USA an ihren Sozialsystemen nichts ändern, bis 2025 das Rating auf BBB+ fallen könnte. Wie gross ist das Risiko, dass es zu einem Showdown zwischen den Obligationären und den Ansprüchen der Wähler kommt?

Chicherio: Die Tendenz und sicherlich nicht nur in den USA geht leider dahin, die Folgen des eigenen Handelns nicht allzu stark zu hinterfragen und zunächst den eigenen Vorteil zu sichern. Erst wenn die Konsequenzen dieses Handelns negativere Folgen als die Aufgabe eigener Vorteile zeitigen, werden Kompromisse möglich. Es ist deshalb nicht damit zu rechnen, dass die Aussicht auf negative Kapitalmarktreaktionen eine Verhaltensänderung bewirkt. Eine Ratingverschlechterung für die USA als Folge des Unvermögens des Staates oder der Unwilligkeit der Bevölkerung, notwendige Reformen einzuleiten, erscheint deshalb als plausibles Szenario. Allerdings werden viele andere Industriestaaten mit mindestens so guten Gründen und wahrscheinlich zum Teil zu einem deutlich früheren Zeitpunkt mit ähnlichen Konsequenzen rechnen müssen. Letztlich dürften aber die meisten zu langfristig tragbaren Lösungen finden.

Worauf begründet sich Ihr Optimismus?

Chicherio: Wenn man vom Bürger in einer von ihm nicht nachvollziehbaren Situation finanzielle Opfer oder Zugeständnisse verlangt, gewinnt dies kaum Wählerstimmen. Wenn aber der Mehrheit klar wird, dass Nichtstun auf Dauer dem eigenen Wohlergehen mehr schadet als das Festhalten am Status quo, dann wird die Veränderungsbereitschaft zunehmen. Eine starke Erhöhung der Zinsen, verursacht durch eine bonitätsmässige Abstufung, würde sich negativ auf die Situation hoch verschuldeter Haushalte auswirken, und dies könnte zum Nährboden für strukturelle Veränderungen werden.

Wie gross ist das Risiko, einer Inflationierung der Staatsschuld?

Chicherio: Das läuft auf das gleiche Resultat hinaus. Auch ein solches Verhalten würde von den Kapitalmärkten abgestraft und über Währungsabschwächung und Zinserhöhungen zu einer Schwächung der Wirtschaft führen. Wir sind heute alle so stark eingebunden im internationalen Handels- und Finanzierungsgeflecht, dass es zumindest in den Industrieländern kaum mehr rein innerstaatliche Angelegenheiten gibt, die das Ausland nichts angehen oder ohne Konsequenzen im Ausland bleiben.

Wenn Sie strategisch planen, dann ist Ihr Kernszenario, dass Remedur geschaffen wird?

Chicherio: Ja, nach einigen Irrungen und Wirrungen, denke ich, wird man einen Ausweg finden. Die Überalterung hat ja nicht nur Nachteile. Denken Sie nur daran, dass die anstehende Pensionierung von geburtenstarken Jahrgängen bei gleichzeitigem Ersatz durch geburtenschwache Generationen rein arithmetisch zu einer Reduktion der Zahl der Personen im erwerbfähigen Alter führt und diese Entwicklung über viele Jahre anhalten wird. Bei gleich bleibender Immigrationsrate wird dies dazu führen, dass junge Arbeitsuchende wieder bessere Aussichten haben werden, einen Arbeitsplatz zu finden. Und ältere Arbeitnehmer dürften zunehmend wieder bis zur offiziellen Pensionierung arbeiten können. Auch den ausländischen Arbeitskräften gegenüber wird man in einem solchen Umfeld viel weniger Zurückhaltung entgegenbringen, weil der eigene Arbeitsplatz nicht mehr so bedroht erscheint, ja im Gegenteil die Wirtschaft ohne Zuzüger aus dem Ausland an Dynamik verlieren wird. Das ist ein Szenario, das noch nicht von vielen akzeptiert wird. Zu gross sind die aktuellen Probleme der Wirtschaft, genügend Arbeitsplätze für die arbeitswillige Bevölkerung zur Verfügung zu stellen.

Ist die Öffnung der Arbeitsmärkte gegen aussen durch Einwanderung nicht mit Risiken der Gettoisierung, auch sozialer Unrast, verbunden? Ist die Einwanderung ein aus sozialpolitischer Perspektive gesehen gangbarer Weg, um das Problem eines möglichen Mangels an Arbeitskräften zu lösen?

Chicherio: Aus den Fehlern der Vergangenheit und den Problemen in anderen Ländern gilt es zu lernen. Insbesondere muss man dafür Sorge tragen, dass ausländische Arbeitnehmer die Chance erhalten, sich in der neuen Umgebung rasch zu integrieren. Auch sollte darauf geachtet werden, dass die Einwanderung über alle Lohn- und Ausbildungssegmente hinweg erfolgt und die bestehende Struktur der einheimischen Bevölkerung nicht unnötig durcheinander gebracht wird. Entsprechend ist auch auf die Integrationsfähigkeit der Bevölkerung Rücksicht zu nehmen.

Der demografische Wandel hat auch Chancen. Sehen Sie auch Szenarien für neue Märkte und Produkte?

Chicherio: Die Generation der Baby-Boomer hat in den letzten vierzig Jahren das Konsumverhalten bestimmt und tut es auch in den kommenden 20 Jahren. Wer sich darauf nicht einstellt, wird es als Unternehmer schwer haben. Viele Beispiele liegen heute ja schon auf der Hand. Dazu gehört das florierende Gebiet der Medizinaltechnik. Die Baby-Boomer wollen länger gesund bleiben und ihr gutes Aussehen behalten. Das hilft den Herstellern von Zahnimplantaten, aber auch den Wellness-Hotels, den Schlankheitsfirmen und der Kosmetikindustrie. Die Baby-Boomer-Rentner haben zudem Kaufkraft und Zeit zum Reisen, Einkaufen und sich zu bilden.

In den Industrienationen sind wir mit der Überalterung konfrontiert. Andererseits gibt es viele aufstrebende Märkte, die einen Überschuss an jungen Männern haben. Haben sie keine Arbeit, dann führt dies zur Destabilisierung. Teilen Sie diese These?

Chicherio: Das sehe ich tatsächlich auch als ein Problem, zumal es sich bei diesen Ländern zumeist nicht um Standorte handelt, die einem bei der Suche nach geeigneten Produktionsstätten im Ausland als erste in den Sinn kämen. Dies hat viel mit der bereits bestehenden Unruhe und den in der Regel ultra-konservativen Anschauungen in diesen vielfach muslimischen Ländern zu tun. Diese Haltung verhindert eine Öffnung zum Westen hin und verschärft dadurch die Situation im eigenen Lande. Die Folge ist zunehmende Unzufriedenheit und Aggressivität, die sich zum Teil in religiösem Fanatismus äussert. Viele wandern in dieser wirtschaftlichen Notlage aber auch einfach aus. Die Probleme werden dadurch im Ursprungsland zwar etwas entschärft. Im Einwanderungsland gelingt andererseits die Integration nicht immer reibungslos. In den nächsten 20 Jahren wird vermutlich die Mehrzahl der Einwanderer in Europa muslimischen Ursprungs sein. Dieser Trend ist abseh- und belegbar und kann nicht einfach als Stimmungsmache der SVP abgetan werden, auch wenn sich die effektiven Zahlen in der Realität auch wesentlicher gemässigter entwickeln dürften als seinerzeit vorausgesagt.

Die Nationen mit einem Überschuss junger Männer, einem so genannten Youth-bulge, sind in permanenter Unruhe. Ein Beispiel ist der Irak. In den strategischen Szenarien der USA spielt das Problem Youth-bulge eine bedeutende Rolle. Es ist ein Teil der Strategie, Youth-Bulge-Nationen zu kontrollieren, um geostrategischen Instabilitäten zu vermeiden. Im Irak zeichnet sich ab, dass dies scheitert. Welches wären die Implikationen, wenn der Versuch, eine solche Youth-Bulge-Nation zu kontrollieren, scheitert? Hätte dies ähnliche Folgen wie der verlorene Krieg gegen Vietnam, der auch zu grossen Verwerfungen an den Finanzmärkten geführt hat?

Chicherio: Wenn sich die USA Hals über Kopf aus dem Irak zurückzögen, würde dies wohl als Eingeständnis interpretiert, dass es offenbar nicht möglich ist, solche Kräfte von aussen her zu kontrollieren. Diese gäbe den Aufständischen noch mehr Auftrieb und grenzüberschreitenden Zuspruch. Das wiederum könnte zu vermehrten Unruhen in diesen Regionen und zur völligen Destabilisierung der bereits heute aus dem Ruder gelaufenen Erdölsituation führen. Die Folgen einer solchen Entwicklung für die Finanzmärkte wären äusserst gravierend.



Profil: Steckbrief

Name: Urs Chicherio

Funktion: Leiter Institutionelle Kunden bei der Bank Sarasin

Alter: 59

Wohnort: Thalwil

Familie: Verheiratet; zwei Söhne

Hobbies: Studium der Finanzmärkte, Sport, Wein und Esoterik

Karriere

Drei Jahre Revisuisse, vier Jahre Motor Columbus, 17 Jahre Mitarbeiter bei Bank Coutts & Co. in Zürich, unter anderem sechs Jahre als Leiter der Vermögensverwaltung. Seit 1996 bei Bank Sarasin.