Vieles ist momentan unklar auf dem Milchmarkt, zwei Eckpunkte hingegen sind gesetzt: Die Milchmenge steigt, und der Preis sinkt. An der Abwärtsspirale beim Preis drehen die Bauern kräftig mit. Bekommt der Landwirt für seine Milch weniger Geld, senkt er die Kosten bei der Milchproduktion. Das bedeutet in den meisten Fällen: Mehr melken. Da wird die Viehherde vergrössert, vor allem aber stehen immer mehr Hochleistungskühe in den Ställen. Möglich ist dies auch, weil das Kraftfutter eher noch günstig ist und nicht immer in die Vollkostenrechnung Eingang findet.
Urs Huggel, Milchbauer in Bussnang TG, ist einer jener Landwirte, die ihre Milchmenge kontinuierlich ausgedehnt haben. Begonnen hat er bei rund 145 000 kg, heute melkt er von seinen 80 Kühen 600 000 kg. Anfangs musste er dazu noch Milchkontingente bei seinen Kollegen einkaufen, mittlerweile kann er so viel Milch abliefern, wie er will.
Selbst im Engadin fliesst mehr Milch. Ein Bauer aus dem Unterengadin findet gar selber, dass dies nicht der richtige Weg sein könne, weil sich die Spirale nur immer noch schneller drehen würde. «Wer», fragt er rhetorisch, «melkt freiwillig weniger und verzichtet im Moment auf Milchgeld, nur um den Marktpreis zu stabilisieren?»
Huggel sicherlich auch nicht, er ist ein strenger Verfechter des freien Marktes. Die einzige Möglichkeit, weiterzumelken, sieht er darin, die Milch zu einem tiefen Preis zu produzieren. Momentan liegt der bei ihm bei rund 60 Rp. pro kg. Huggel ist Mitglied der PO (Produzentenorganisation) Ostschweiz, die rund 120 Mio kg Milch produziert und an Walter Arnold, einen Milch- und Viehhändler, verkauft.
In der Branche ist die PO Ostschweiz respektive Arnold nicht nur beliebt, obwohl er den Siegermuni für das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest gespendet hat. Während der rund drei Jahre dauernden Übergangszeit zum vollständig geöffneten Milchmarkt fiel Arnold durch konsequente Beantragung von Mehrmengen auf. Diese Mengen konnten beim Bund beantragt werden, allerdings bestand auf diesen Mehrmengen ein Preisabschlag von rund 10 Rp. Seit die Kontingentierung abgeschafft worden ist, ist der Preisabschlag allerdings hinfällig.
Auch Händler suchen mehr Milch
Doch Arnold ist nicht der Einzige, der versucht, immer mehr Milch einzusammeln und zu verkaufen. Auch die PO Nordostmilch dehnt ihre Milchmenge aus. Begonnen hat sie bei 150 Mio kg, heute sammeln sie rund 300 Mio kg im Jahr ein. Als wichtigste Abnehmer gibt Geschäftsführer René Schwager Hochdorf, Emmi oder die Migros an.
Die Eintrittsbarriere für Bauern, die es zu überwinden gilt, heisst Sommermilch. Denn im Sommer ist traditionellerweise weniger Milch auf dem Markt. Die einen Kühe gehen - wie vor dem Kalbern üblich - bereits trocken, das heisst, sie geben keine Milch mehr. Ein grosser Teil der Milch wird auf den Alpen, wo die Kühe ihren Sommer zubringen, verkäst.
Die Bauern produzieren ihre Milch lieber im Winter, weil sie dann die Fütterung genau steuern und überwachen können. Auch weil sich gute Fütterung im Preis niederschlägt. Dieser enthält ein Bonus-Malus-System für Fett und Eiweiss. Je mehr dieser Inhaltsstoffe die Milch enthält, desto teurer kann sie verkauft werden. Deshalb ist die produzierte Milchmenge im Sommer tiefer als im Winter.
Mit ihrem Anreizsystem will die PO Nordostmilch die Milchbaisse im Sommer abfedern. Deshalb bezahlt sie für sämtliche eingelieferte Sommermilch den vollen Preis. Im Winter erhalten die Bauern weniger Geld, weil dann ein Teil der Milch unter anderem zu Butter verarbeitet werden muss.
Auch die Produktionsorganisationen wollen sinkende Preise durch grössere Mengen ausgleichen und die Marktmacht stärken. Je mehr Milch eine Produzentenorganisation anbietet, desto wichtiger wird sie für die Verarbeiter wie beispielsweise Emmi, Cremo oder Hochdorf. Diese freuen sich über konstante Milchmengen und zuverlässige Lieferanten. Bei 20 bis 30 Produzentenorganisationen durchaus verständlich. Und ein gefundenes Fressen für die Verarbeiter, können sie doch problemlos die einzelnen Produzentenorganisationen gegeneinander ausspielen. Auch deshalb wollte die Branchenorganisation Milch (BOM) gleich lange Spiesse schaffen, indem sie zwei gleich starke «Familien» schafft: Die Verarbeiter und Detailhändler auf der einen und die Milchproduzenten auf der anderen Seite.
Dies hat aber nicht funktioniert. Bauern und Produzentenorganisationen waren sich uneinig, und in der Produzentengruppe sitzen nun mehr Milchhändler als Milchproduzenten. Die Hoffnung, dass mehr Marktmacht auch mehr Mitsprache beim Preis bedeutet, löst sich allerdings in Luft auf.
Dehnbare Schmerzgrenze
Fragt sich, wo bei den Bauern die Schmerzgrenze liegt. Diese scheint jedoch sehr dehnbar. Ein Grund dafür ist, dass zum Milchpreis auch noch anteilsmässige Direktzahlungen pro Milchkuh kommen, die pro kg Milch 10 bis 20 Rp. ausmachen. Ein Bauer aus dem Engadin hat seine Schmerzgrenze einst bei 60 Rp. pro kg festgelegt, doch auch diese Grenze ist nicht mehr ganz in Stein gemeisselt. Er hat verschiedene Betriebszweige, die zum Umsatz beitragen, und er rechnet grundsätzlich Ende Jahr ab. Solange er dann noch genügend Reserven hat, wird er weitermelken. Auch weil er für die Umstellung auf Mutterkühe erst einmal rund 500 000 Fr. investieren müsste.
Christoph Grosjean von Swissmilk gibt denn auch zu bedenken, dass der sinkende Milchpreis nicht zwingend zur gewünschten Strukturbereinigung führen muss. Seiner Ansicht nach würden als Erstes die Betriebe aussteigen, «welche gut rechnen können», diejenigen also, die der Markt nicht unbedingt verlieren will. Weitermelken würden jene, die bereits hohe Investitionen getätigt haben, wenige Jahre vor der Pensionierung stünden oder solche mit hohen Direktzahlungen.