Das Gespenst der Euro-Krise geht wieder um. Bei der Europawahl und den danach folgenden Parlamentsneuwahlen in Frankreich haben die Parteien am linken und rechten Rand grosse Erfolge erzielt. Für den Euro-Raum war das keine gute Nachricht, denn in Frankreich dominieren an beiden Rändern des politischen Spektrums wirtschaftspolitische Vorstellungen, die nicht das Wirtschaftswachstum, dafür aber die Haushaltsdefizite in die Höhe treiben würden.
Mit einem Haushaltsdefizit von gut 5 Prozent und einem Schuldenstand von rund 110 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) steht Frankreich aber schon jetzt auf finanzpolitisch wackeligen Beinen. Frankreich braucht deshalb dringend Wachstum, damit mehr Geld in die Staatskassen fliesst. Neue Ausgabenpläne verbieten sich von selbst. Präsident Emmanuel Macron hat mit seinen Arbeitsmarkt- und Sozialreformen in den vergangenen Jahren den richtigen Kurs eingeschlagen und für mehr Beschäftigung gesorgt. Doch dieser wirtschaftspolitisch erfolgreiche Kurs gerät angesichts der neuen Mehrheitsverhältnisse in Gefahr.
Vorläufige Beruhigung, langfristiges Unbehagen
Die Finanzmärkte hatten nach der Europawahl verständlicherweise mit Nervosität reagiert. Der Euro-Wechselkurs kam unter Druck. Die Risikoprämien auf französische Staatsanleihen stiegen. Inzwischen haben sich die Märkte aber wieder beruhigt, da bei der Parlamentswahl keines der radikalen politischen Lager eine absolute Mehrheit erreichen konnte. Vorerst ist somit eine drastische Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik unwahrscheinlich. Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben. Auf längere Sicht bleibt die Sorge, Frankreich könnte seine wirtschaftspolitischen Hausaufgaben nicht im Sinne der Währungsunion erledigen.
Wenn Frankreich auf weniger Wachstums- und mehr Sozialpolitik setzt, drohen mehr Staatsschulden und höhere Zinsen, die den staatlichen Handlungsspielraum zusätzlich einschränken würden. Wäre Frankreich ein Land mit eigener nationaler Währung, müsste es die Folgen eines solchen wirtschafts- und finanzpolitischen Experiments allein ausbaden. Doch Frankreich ist Mitglied der Europäischen Währungsunion. Kommt Frankreich vom Kurs ab und provoziert eine Schuldenkrise, betrifft das auch die übrigen Euro-Mitgliedsländer.
Europas Antwort auf zu hohe Staatsschulden
In der Währungsunion gelten für alle Mitgliedsländer Fiskalregeln – Haushaltsdefizit maximal 3 Prozent, Schuldenquote maximal 60 Prozent des BIP –, um hohe Staatsschulden und mögliche Schuldenkrisen von vornherein auszuschliessen. Es ist eine Art Selbstbindung für eine stabile Währungsunion. Allerdings hat die EU-Kommission die Fiskalregeln schon immer sehr flexibel ausgelegt und fiskalische Sünder oft mit Samthandschuhen angefasst. Viele Euro-Länder sind deshalb höher verschuldet, als es die Fiskalregeln zulassen. Im Jahr 2023 hatten die Euro-Teilnehmerländer eine durchschnittliche Schuldenquote von knapp 90 Prozent.
Mit einer Schuldenquote von 110 Prozent des BIP ist Frankreich bereits jetzt überdurchschnittlich hoch verschuldet. Die EU-Kommission hat vor wenigen Wochen gegen Frankreich und sechs weitere Länder ein Defizitverfahren eingeleitet, um diese Länder wieder auf Wachstumskurs zu bringen. Doch was könnte passieren, wenn die französische Regierung störrisch bleibt, die Schulden weiter in die Höhe treibt und die Kapitalgeber infolgedessen das Vertrauen in die Rückzahlungsfähigkeit des französischen Staates verlieren? Es könnte zur Flucht aus französischen Staatsanleihen, einem raschen Zinsanstieg und im schlimmsten Fall zu einer Panik kommen, von der auch andere hoch verschuldete Euro-Länder erfasst werden. Erinnerungen an die Euro-Krise ab 2010 werden wach.
Jörn Quitzau ist seit April 2024 Chief Economist bei der Schweizer Privatbank Bergos AG.
Die Zentralbank wieder einmal als Retterin in der Not?
Doch die Währungs- und Fiskalarchitektur in Europa hat sich seitdem verändert. So gibt es inzwischen den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und vor allem eine Europäische Zentralbank (EZB), die sich in den vergangenen Krisen als verlässlicher «Lender of Last Resort» erwiesen hat. Die EZB würde wohl auch im Falle Frankreichs eine wichtige Rolle einnehmen. Vor ziemlich genau zwei Jahren hat die EZB ein neues geldpolitisches Instrument geschaffen: das Transmission Protection Instrument (TPI). Die EZB kann es aktivieren, «um ungerechtfertigten, ungeordneten Marktentwicklungen entgegenzuwirken». Somit kann die EZB Staatsanleihen kaufen, um verschlechterten Finanzierungsbedingungen, also steigenden Zinsen, entgegenzuwirken. Da das Volumen der Staatsanleihekäufe von vornherein nicht begrenzt ist, handelt es sich um ein hochwirksames Instrument. Eine aufziehende Krise könnte mit dem TPI eingedämmt werden.
Allerdings hat die EZB verschiedene Bedingungen für den Ankauf von Staatsanleihen im Rahmen des TPI formuliert: So darf der Anstieg der Zinsen nicht durch länderspezifische Fundamentaldaten gerechtfertigt sein. Zudem muss das Land, dessen Staatsanleihen von der EZB gekauft werden sollen, eine solide und nachhaltige Finanz- und Wirtschaftspolitik verfolgen. Genau das wäre bei Frankreich aber nicht gegeben, wenn sich die Regierung bewusst auf einen nicht-nachhaltigen finanzpolitischen Kurs begibt. Die EZB könnte (und sollte) Frankreich im Rahmen des TPI also nicht helfen. Frankreich würde dann den Druck der Märkte mittels höherer Zinsen zu spüren bekommen und wäre über kurz oder lang gezwungen, zu einer wachstumsfreundlicheren Politik zurückzukehren.
In der Zwischenzeit könnte es aber durchaus ungemütlich werden, auch für eigentlich unbeteiligte Länder der Euro-Zone. Die EZB müsste deshalb im Ernstfall Ansteckungseffekten entgegenwirken und die Zinsen derjenigen Länder stabilisieren, die durch die französische Politik mehr oder minder unverschuldet in Mitleidenschaft gezogen werden. Ganz einfach wäre das im Rahmen des TPI nicht, weil etwa Italien noch höhere Staatsschulden hat als Frankreich und sich ebenfalls in einem Defizitverfahren befindet. Auch Italien erfüllt die Kriterien für eine Hilfe im Rahmen des TPI also nicht. Aber die Euro-Krise und die Jahre danach haben gezeigt, dass Europa in der Not Wege findet, an den bestehenden Regeln vorbei pragmatische Lösungen zu finden. So dürfte es auch sein, sollte Frankreich sich für einen wirtschaftspolitischen Kurs entscheiden, der in einer Finanzkrise münden kann.
Nicht nur Frankreich ist zu hoch verschuldet
Man sollte aber nicht nur mit dem Finger auf Frankreich zeigen. Politik, Wissenschaft und Finanzwelt sollten stattdessen die Gelegenheit nutzen, die eigene Sicht auf das Thema Staatsschulden kritisch zu hinterfragen. Die Welt insgesamt ist zu hoch verschuldet. Die G7-Länder kommen auf eine Schuldenquote von 126 Prozent des BIP. Oftmals sind die Schuldenlasten nur noch mit freundlicher Unterstützung der Notenbanken tragbar. Trotzdem schöpfen einige Länder weiter aus dem Vollen. Doch wir haben das zinspolitische Schlaraffenland mit nahezu kostenlosen Krediten verlassen. Wann, wenn nicht jetzt, wäre der richtige Zeitpunkt, die finanziellen Lasten für die Aufgaben, die heute zu bewältigen sind, nicht weiter in die Zukunft zu schieben?
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