- Die berufliche Vorsorge in der Schweiz muss sich an gesellschaftliche Entwicklungen anpassen, insbesondere hinsichtlich flexibler Pensionierungsmodelle und individueller Altersleistungen.
- Die AHV 21 und neue Regelungen seit 2024 ermöglichen eine flexible Pensionierung zwischen 58 und 70 Jahren.
- Trotz Herausforderungen wie einem tiefen Zinsumfeld und zunehmender Lebenserwartung versuchen Vorsorgeeinrichtungen, innovative Modelle anzubieten, um die Attraktivität der Altersvorsorge zu steigern und Solidarität zu fördern.
In der beruflichen Vorsorge treffen rechtliche, gesellschaftliche und versicherungsmathematische Fragen aufeinander, so auch bei der Pensionierung. Die Bundesverfassung (Art. 113) definiert den Leistungsauftrag, nämlich die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung, zusammen mit der AHV/IV in angemessener Weise.
Marianne Frei ist eidg. dipl. Pensionsversicherungsexpertin und Partnerin, Andreas Haller ist eidg. dipl. Experte für berufliche Vorsorge, beide bei Aon Schweiz AG.
Die berufliche Vorsorge ist ausserdem ständig gefordert, sich den gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Seit einigen Jahren stehen vermehrt alternative Einkommens- und Familienmodelle sowie eine individuelle strategische Gestaltung der Altersleistungen im Vordergrund. Versicherungsmathematisch stellte das tiefe Zinsumfeld, gekoppelt mit der zunehmenden Lebenserwartung, die Vorsorgeeinrichtungen vor Herausforderungen. Zusätzlich rücken Fragen rund um Solidarität, Umverteilung und Antiselektion in den Fokus vieler Vorsorgeeinrichtungen.
Flexible Pensionierung
Die Pensionierung lässt sich flexibel gestalten, und die AHV 21 zeigt, dass eine flexiblere Pensionierung auch im Sinne des Gesetzgebers ist. Seit 1.1.2024 sind die Rahmenbedingungen in der AHV und in der beruflichen Vorsorge definiert. Mit der Weiterführung des bisher versicherten Lohnes bei Lohnreduktion, der Teilpensionierung, der vorzeitigen Pensionierung sowie der aufgeschobenen Pensionierung ist von Alter 58 bis 70 vieles möglich.
Die reglementarischen Umwandlungssätze werden vom Stiftungsrat festgelegt. Zentral ist dabei die Frage, welche Solidaritäten gewünscht oder unerwünscht sind. Einig sind sich die Vorsorgeeinrichtungen, dass nach Pensionierungsalter unterschieden werden soll; darüber hinaus gibt es aber verschiedene Modelle. Einheitliche Umwandlungssätze führen zu den meisten Solidaritäten. Werden für Männer und Frauen verschiedene Umwandlungssätze angewandt, so wird den unterschiedlichen Lebenserwartungen und Wahrscheinlichkeiten, eine Hinterlassenenrente auszulösen, Rechnung getragen. Die grössten Solidaritäten unter den Rentnern und Rentnerinnen existieren jedoch nicht zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen verheirateten und unverheirateten Personen. Es gibt deshalb Vorsorgeeinrichtungen, die bei den Umwandlungssätzen nach Zivilstand unterscheiden – dies ist aktuell aber noch eine Seltenheit.
Wahl der Leistungen
Von Gesetzes wegen haben Versicherte bei Pensionierung die Wahl zwischen der Rente und dem Kapitalbezug der Altersleistungen. Immer mehr Vorsorgeeinrichtungen wollen ihren Versicherten aber mehr Alternativen bieten. Voraussetzung für viele dieser Möglichkeiten ist ein gewisser überobligatorischer Charakter der Altersleistungen.
Traditionell wird, äquivalent zum BVG-Minimum, eine anwartschaftliche Hinterlassenenrente in der Höhe von 60 Prozent der Altersrente versichert. Optionen für unterschiedliche Höhen der Anwartschaft ermöglichen es den Versicherten, den Partner für den Todesfall besser abzusichern oder, insbesondere bei Personen ohne Partnerin, von einem höheren Umwandlungssatz zu profitieren.
Auch beim Leistungsbezug gibt es neben den Optionen Altersrente und Kapitalbezug neue Möglichkeiten, die von einigen Kassen angeboten werden. Beispiele sind die Rückgewähr, das heisst die Auszahlung eines Todesfallkapitals, sowie steigende, fallende oder aufgeschobene Altersrenten. Zusätzlich können verschiedene Leistungsmodelle kombiniert werden.
Neue Modelle
Die zweite Säule erlebt eine Vertrauens- und Identitätskrise. Altersleistungen werden als unsicher oder ungenügend wahrgenommen. Ausserdem ist die Bereitschaft gesunken, die einer Versicherung inhärenten Solidaritäten mitzutragen. Die Folge ist, dass viele Versicherte sich aus der beruflichen Vorsorge zurückziehen und bei der Pensionierung das Kapital beziehen, statt sich eine Rente auszahlen zu lassen. Die Vorsorgeeinrichtungen verlieren dadurch zunehmend ihren Versicherungscharakter. Die Gründe für diese Entwicklung sind auf allen Seiten zu finden: zunehmende Komplexität des Systems, spärliche Kommunikation vonseiten der Vorsorgeeinrichtungen respektive von deren Verantwortlichen und fehlendes Interesse seitens der Versicherten, um die Vorteile und den Nutzen der zweiten Säule zu verstehen.
Arbeitgeber stehen im Wettbewerb und wollen zeitgemässe Arbeits- und Vorsorgeleistungen bieten. Die Versicherten wollen eine angemessene und attraktive Altersvorsorge. In einer Gesellschaft und Wirtschaft, in der Individualität und Individualisierung immer mehr zunimmt, wird dies auch von der Altersvorsorge erwartet. Der Staat wiederum ist besorgt um die Internalisierung von Gewinnen und Externalisierung von Verlusten als Folge des abnehmenden Versicherungscharakters der beruflichen Vorsorge – beim Kapitalbezug wird nach dem Tod das verbleibende Kapital vererbt, im Falle der Langlebigkeit hingegen können Ergänzungsleistungen notwendig werden. Vorsorgeeinrichtungen wollen zukunftsfähige Altersleistungen bieten und sind um deren Finanzierung besorgt. Das Selbstverständnis als Leistungserbringer für ein Kollektiv oder für Individuen und damit die Priorisierung des Versicherungsgedankens oder der Individualisierung ist für die Erwägungen der Vorsorgeeinrichtungen ein zentrales Element.
Dieser Beitrag erschien erstmals am 27. Juni 2024 im HZ Insurance Print Special Pensionskasse.