Die CSS-Gesundheitsstudie trägt den passenden Titel «Wie geht es Ihnen?». Da liegt die erste Frage direkt auf der Hand: Wie geht es Ihnen, Herr Hermann?

Wunderbar. Ich war etwas am Leiden die letzten Wochen, weil ich derart an einem Berg mit Arbeit stand. Jetzt fühle ich mich wie am Ende einer Bergtour. Belohnt für das Leiden am Hang.

Sie führen die Gesundheitsstudie seit 2020 durch. Wie hat sich der allgemeine Gesundheitszustand der Schweizer Bevölkerung seit Ausbruch der Pandemie verändert?

Seit Beginn der Gesundheitsstudie im Jahr 2020 hat sich der allgemeine Gesundheitszustand der Schweizer Bevölkerung merklich verändert. Während der Corona- Pandemie stieg der Anteil der Personen, die sich krank fühlen, von fünf Prozent im Jahr 2020 auf elf Prozent im Jahr 2022. 2024 zeigt sich jedoch erstmals eine Verbesserung: Nur noch sieben Prozent der Bevölkerung geben an, sich krank zu fühlen. Trotzdem bleibt der Anteil derjenigen, die sich nicht vollständig gesund fühlen, mit 35 Prozent hoch, und nur 15 Prozent schätzen ihren Gesundheitszustand als sehr gut ein - der niedrigste Wert seit Beginn der Studie.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 
Zur Person

Michael Hermann ist Politikgeograf und -wissenschaftler. Er leitet seit 2007 als Unternehmensinhaber das Forschungsinstitut Sotomo und ist Dozent an der Universität Zürich

Warum sind die Folgen der Pandemie immer noch so deutlich spürbar?

Die Folgen der Pandemie sind auch heute noch spürbar, weil sie sowohl auf subjektiver als auch objektiver Ebene tiefgreifende Veränderungen bewirkt hat. Subjektiv hat sich das Gesundheitsbewusstsein stark verändert: Die Pandemie hat das eigene Wohlbefinden ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, was viele dazu veranlasst, sich intensiver mit ihrer physischen und psychischen Gesundheit auseinanderzusetzen. Aber auch auf objektiver Ebene hat sich die Situation verändert. Neben den bisherigen Krankheiten hat sich das Virus als neue, zusätzliche Gesundheitsbedrohung etabliert. Viele Menschen leiden darum häufiger an gesundheitlichen Beschwerden und fühlen sich öfter kränklich.

Die Einstellung zu psychischen Erkrankungen hat sich ebenfalls verschoben. Während der Pandemie waren soziale Kontakte stark eingeschränkt, was viele Menschen psychisch belastet hat. Diese Auswirkungen sind noch immer spürbar, da viele Netzwerke und soziale Unterstützungsstrukturen weiterhin geschwächt sind.

Es gibt ein klares «vor der Pandemie» und «nach der Pandemie», wenn es um das Gesundheitsempfinden geht.

Michael Hermann

Zur aktuellen Gesundheitsstudie: Welche Ergebnisse haben Sie selbst am meisten überrascht?

Die Ergebnisse der Gesundheitsstudie, die mich persönlich am meisten überrascht haben, betreffen vor allem die langfristigen Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitsbewusstsein. Obwohl die Pandemie in vielen Köpfen vorbei ist, zeigt die Studie deutlich, dass sie sowohl körperliche als auch psychische Spuren hinterlassen hat. Es gibt ein klares «vor der Pandemie» und «nach der Pandemie», wenn es um das Gesundheitsempfinden geht.

Noch immer fühlen sich viele Menschen nicht vollständig gesund, und der Anteil derer, die unter Erschöpfung und psychischen Belastungen leiden, bleibt hoch. Die Pandemie hat also eine tiefere und nachhaltigere Veränderung in der Wahrnehmung von Gesundheit bewirkt, als man zunächst vermuten würde.

Fast ein Drittel der Bevölkerung fühlt sich krank - ist das nicht beunruhigend? Gibt es vergleichbare Zahlen aus dem Ausland?

Diese Zahl ist hoch. Es ist jedoch wichtig, zu betonen, dass der Anteil derjenigen, die sich klar krank fühlen, erstmals seit der Pandemie wieder gesunken ist. Der grössere Teil fühlt sich in einem «durchzogenen» Zustand, also weder richtig krank noch völlig gesund. Dies zeigt, dass viele Menschen in einem Graubereich leben, in dem das Wohlbefinden schwankt. Dennoch bleibt die hohe Zahl an Menschen, die sich nicht vollkommen gesund fühlen, ein Hinweis darauf, dass gesundheitliche Belastungen wie Erschöpfung und Stress weiterhin präsent sind.

Was die vergleichbaren Zahlen aus dem Ausland betrifft, sind mir leider keine aktuellen Daten bekannt, die diese Entwicklung in anderen Ländern detailliert untersuchen oder die Veränderungen seit der Pandemie beleuchten.

Die CSS nennt es die «neue, stille Pandemie»: Fast 68 Prozent der Befragten fühlen sich immer müder und erschöpfter. Was könnten die Ursachen dafür sein?

Die zunehmende Müdigkeit und Erschöpfung lassen sich auf mehrere Faktoren zurückführen. Einerseits hat die Pandemie sicherlich Spuren hinterlassen. Viele Menschen sind heute sensibler für gesundheitliche Schwankungen und fühlen sich häufiger kränkelnd. Dieses Gefühl, nicht vollständig gesund zu sein, trägt zur allgemeinen Erschöpfung bei.

Ein weiterer wesentlicher Faktor ist das Gefühl, nie wirklich abschalten zu können. Dies kommt nicht nur von der Arbeit, sondern auch von den sozialen Medien, die oft mehr Energie rauben als geben. Ständige Erreichbarkeit und das Bedürfnis, immer auf dem Laufenden zu bleiben, erhöhen den Stresspegel. Diese Kombination aus Arbeitsdruck, gesundheitlichen Belastungen und digitalem Stress führt letztlich zu einer kränkelnden Nation, in der viele sich erschöpft und ausgelaugt fühlen.

Die Kombination aus Arbeitsdruck, gesundheitlichen Belastungen und digitalem Stress führt letztlich zu einer kränkelnden Nation.

Michael Hermann

Warum trifft dieses Gefühl der Erschöpftheit die jüngeren Altersgruppen noch stärker?

Das Gefühl der Erschöpfung trifft die jüngeren Altersgruppen besonders stark, weil sie einem starken Druck ausgesetzt sind – in der Arbeitswelt oder Ausbildung. Der steigende Leistungsdruck der Gesellschaft verlangt von ihnen, ständig produktiv und erfolgreich zu sein. Hinzu kommt, dass soziale Medien, die gerade bei Jüngeren eine zentrale Rolle spielen, diesen Druck noch verstärken. Durch den ständigen Vergleich mit anderen, sei es beruflich oder privat, entsteht das Gefühl, nie genug zu leisten. Dieser permanente Leistungsdruck – sowohl online als auch offline – führt zu einem erhöhten Stresslevel und damit verstärkt zu Erschöpfung in dieser Altersgruppe.

Wirken sich neue Errungenschaften wie Home Office und Flex Working denn nicht positiv auf das Wohlbefinden aus?

Neue Errungenschaften wie Home Office und Flex Working werden von vielen Menschen als positive Entwicklung empfunden, da sie eine flexiblere Gestaltung des Tagesablaufs ermöglichen und sich damit Stress reduzieren lässt. Tatsächlich zeigt sich in der Umfrage, dass die Mehrheit der Befragten dies als positiv empfindet und die Flexibilität im Arbeitsalltag schätzt. Allerdings bringt diese Flexibilität auch Herausforderungen mit sich. Ein immer grösserer Anteil der Menschen nimmt das Verschwimmen von Arbeit und Freizeit als Belastung wahr. Besonders belastend ist für die Befragten, dass sie in ihrer Freizeit gedanklich nicht wirklich von der Arbeit abschalten können. Das ständige Denken an berufliche Aufgaben führt dazu, dass sie sich mental nicht erholen können, was das Wohlbefinden beeinträchtigt.

Der Leistungsdruck in der Arbeitswelt und im Privatleben trägt sicherlich dazu bei, dass wir uns zunehmend gestresst fühlen.

Michael Hermann

Leistungsdruck auf der einen Seite, der tägliche Informations-Overkill gerade durch Social Media auf der anderen. Könnte das aus Ihrer Sicht auch eine Erklärung dafür sein, dass wir so gestresst sind?

Auf jeden Fall. Der Leistungsdruck in der Arbeitswelt und im Privatleben, kombiniert mit dem täglichen Informations-Overload durch soziale Medien, trägt sicherlich dazu bei, dass wir uns zunehmend gestresst fühlen. Auf der einen Seite steht der ständige Druck, beruflich und privat erfolgreich zu sein, während uns auf der anderen Seite soziale Medien mit einer Flut an Informationen und Vergleichen konfrontieren. Diese Reizüberflutung erschwert es, wirklich abzuschalten und zur Ruhe zu kommen, was letztlich den Stress verstärken kann.

Fast ein Drittel der Bevölkerung hat bereits eine Burnout-Erfahrung gemacht. Wird sich dieser Trend aus Ihrer Sicht weiter verschärfen?

Die Zunahme der Burnouts hat wohl auch damit zu tun, dass das Thema Burnout niederschwelliger geworden ist und es gesellschaftlich akzeptierter ist, über Erschöpfung und Burnout zu sprechen. Das führt dazu, dass mehr Menschen Unterstützung suchen - auch da Therapien inzwischen von den meisten Grundversicherungen übernommen werden.

Hier wird zudem ein Generationenunterschied sichtbar: Ältere Menschen geben deutlich seltener an, dass sie bereits eine Burnout-Erfahrung gemacht haben, nicht weil sie weniger belastet waren, sondern weil es früher einfach keinen Namen und weniger Bewusstsein für dieses Phänomen gab. Heute ist die Sensibilisierung höher, was dazu führen kann, dass sich der Trend fortsetzt.

HZ Insurance-Newsletter DAILY
Karin Bosshard, Chefredaktorin von HZ Insurance, und ihr Versicherungsexpertenteam liefern Ihnen die Hintergründe zu Themen, welche die nationale und internationale Versicherungswelt bewegen. Jeden Tag (werktäglich) in Ihrem E-Mail-Postfach. Jetzt kostenlos zum Newsupdate für Insurance-Professionals anmelden.
HZ Insurance-Newsletter DAILY

Warum fällt es vielen Menschen - gerade jungen - so schwer, über psychische Probleme zu reden oder professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen?

Obwohl psychische Probleme heute offener diskutiert werden, reicht das Enttabuisieren allein nicht aus. Besonders im beruflichen Umfeld scheuen sich viele, über ihre psychischen Erkrankungen zu sprechen, da sie nach wie vor Nachteile befürchten. In einer Leistungsgesellschaft ist der Druck gross, leistungsfähig und belastbar zu wirken, und die Angst, durch eine Offenlegung als weniger produktiv wahrgenommen zu werden, ist tief verankert. Hinzu kommt, dass zwar zunehmend über leichtere Formen von psychischen Erkrankungen gesprochen wird, schwerwiegendere Probleme jedoch weiterhin ein gesellschaftliches Tabu sind.

Wie sieht die Bevölkerung die Rolle von KI und digitalen Therapien im Gesundheitssystem?

Ein Grossteil der Befragten erkennt die Chancen der Digitalisierung. Besonders im Bereich der besseren Vernetzung und Kommunikation zwischen Ärztinnen, Ärzten und Patientinnen, Patienten sehen die Befragten eine positive Entwicklung. Gleichzeitig besteht jedoch auch eine gewisse Sorge: Der Missbrauch von Gesundheitsdaten durch Dritte bleibt die grösste Angst, was zeigt, dass Vertrauen und Datenschutz zentrale Themen in dieser Diskussion sind.

Insgesamt scheint die Bevölkerung einer stärkeren Integration von digitalen Lösungen im Gesundheitswesen aber offen gegenüberzustehen, sofern die Kontrolle über persönliche Gesundheitsdaten gewährleistet ist.

Ich bin immer mit dem Velo unterwegs. Das ist der beste Stressabbau.

Michael Hermann

Sie sind selbst Unternehmer, ein viel gefragter Gesprächspartner und öffentlich sehr präsent. Wie finden Sie die richtige Balance?

Ehrlich gesagt, finde ich sie nicht wirklich. Aber das ist ein Preis, den ich gerne zahle. Für mein Wohlbefinden entscheidend sind jedoch Bewegung und Sport. Ich bin immer mit dem Velo unterwegs. Das ist der beste Stressabbau.

Über die Studie

Bereits zum fünften Mal hat das Forschungsinstitut Sotomo im Auftrag der CSS die Gesundheitsstudie durchgeführt. Befragt wurden dafür 2’456 Personen in der deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Schweiz.