Versicherer analysieren gemeinhin die Gegenwart, um die Risiken der Zukunft im besten Fall voraussehen zu können. So beschäftigen sich Aktuare und Risikoingenieure in den Unternehmen der Assekuranz in unserer Gegenwart mit Themen wie dem sich verändernden Klima, der Relevanz der Künstlichen Intelligenz, veränderter Mobilitätskonzepte oder der sich dramatisch wandelnden demographischen Bevölkerungsstruktur der Industrienationen. Eher selten blicken sie in die Vergangenheit, fast nie in Epochen, die länger als einige wenige Jahre zurückliegen. Allenfalls sind es mehr oder weniger gelungene Darstellungen von Unternehmensgeschichten, die in der Regel in Jubiläumsjahren der jeweiligen Gesellschaften in zumeist opulenten Bildbänden oder vielseitigen Monographien vorgelegt werden.

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Der Autor

Oliver Class, promovierter Kunsthistoriker, ist seit 1990 als Kunstversicherer in Deutschland und der Schweiz tätig. Er ist seit 2004 für die Kunstversicherung der Allianz Suisse verantwortlich.

Blick in die Geschichte von Fortschritt und Risiken

Vielleicht wäre es aber auch für Versicherungsgesellschaften durchaus zielführend, zum besseren Verständnis gegenwärtiger und zukünftiger Herausforderungen einen Blick in die Geschichte von Fortschritt und Risiken der letzten zweihundert Jahre zu wagen. Immerhin begannen die industrielle Revolution, das Experiment der Moderne sowie die Herausbildung der Versicherungswirtschaft fast zeitgleich vor rund zwei Jahrhunderten. Diese drei Epochenmerkmale sind auf das engste miteinander verzahnt, die moderne Gesellschaft ohne Versicherung schlicht nicht vorstellbar. In einer Kooperation der Basler Fondation Herzog, einer der weltweit bedeutendsten Sammlungen der Alltagsfotografie, mit der Allianz Suisse wurde im vergangenen Jahr eine Ausstellung präsentiert, zu der nun eine kleine Begleitschrift erschienen ist. Die Schau und die Publikation bebildern «unsere» Moderne, ihre Gefährdung durch Katastrophen und Unglücke und deren Absicherung durch die Produkte der Assekuranz.

Die rund 130 Fotografien der Ausstellung nahmen die Besucher auf eine Reise in eine für uns sehr gegenwärtige Vergangenheit mit. Der Fortschritt der Moderne war und ist vor allem auch ein Fortschritt der Bewegung, des Transports, des Reisens. Uns begegnen deshalb Eisenbahnen, Automobile, Dampfschiffe und Flugmaschinen allerdings vor allem dann, nachdem sie von einer Brücke gestürzt, verunfallt, gesunken oder vom Himmel gefallen sind. Niemand weiss besser als die Versicherungen, dass das Projekt der Moderne keine geradlinige Erfolgsgeschichte war und ist, sondern ein ununterbrochenes Try and Error-Erlebnis, das uns zeigt, dass die Idee des Fortschritts keine teleologische Entwicklung zur Perfektion darstellt, sondern ein Zickzackkurs zum Besseren, der von Rückschlägen, Katastrophen und Irrtümern durchsetzt ist.

Wandel in der Schadenbeurteilung

Im Kontext einer Volkswirtschaft kommt den Versicherern die Verantwortung zu, dem Schlingerkurs des Fortschritts einen bestmöglichen Drive zu geben und die ihm innewohnenden Risiken zu minimieren. Dabei veränderten sich nicht nur Technologien und die sie bedrohenden Gefahren im Laufe der letzten zweihundert Jahre, auch die subjektive und objektive Beurteilung von Schadenereignissen hat sich gewandelt. So war ein Autounfall, der «lediglich» einen banalen Blechschaden zur Folge hatte um 1900 ein durchaus bemerkenswertes Ereignis, heute ist es nurmehr ein zwar ärgerliches, aber unspektakuläres Alltagsgeschehen.

Autounfälle waren Anfang des 20. Jahrhunderts ein bemerkenswertes Ereignis.

Autounfälle waren Anfang des 20. Jahrhunderts ein bemerkenswertes Ereignis.

Quelle: Fondation Herzog, Basel

Die Massenautomobilisation nach dem Zweiten Weltkrieg wäre ohne die Entwicklung spezifischer Versicherungsprodukte nicht möglich gewesen. Grundlage dafür war die Schaffung passender Rahmenbedingungen durch die Gesetzgeber der Industriestaaten, indem das Automobil sui generis zum Gefahrenobjekt erklärt wurde und dergestalt die Grundlage der MF-Haftpflichtversicherung geschaffen wurde. So wurde dem Blechschaden alles Sensationelle genommen, die Erfolgsgeschichte des motorisierten Individualverkehrs konnte beginnen. Auch die bis heute grösste Eisenbahnkatastrophe der Schweiz wirkte sich direkt auf die Regularien der Assekuranz aus.

Als am 14. Juni 1891 die von Gustave Eiffel errichtete Brücke über die Birs bei Münchenstein unter einem Personenzug einstürzte, verloren 74 Menschen ihr Leben und wurden 171 Passagiere teils schwer verletzt. Als Folge des verheerenden Unglücks wurden nicht nur zahlreiche Eisenbahnbrücken in der Schweiz überprüft und saniert sowie darüber hinaus eine landesweite Brückenbaunorm erlassen. Da letztinstanzlich das Lausanner Bundesgericht die Verantwortung und damit die Haftung der Eisenbahngesellschaft für den Brückeneinsturz zurückwies, sah sich der Nationalrat veranlasst, die Haftpflicht von Eisenbahnunternehmen wesentlich zu erweitern, sodass Angehörigen und Verletzten auch dann Entschädigungen zustanden, wenn keine Fahrlässigkeit der Unternehmen vorlag. Mit der Eisenbahnkatastrophe von Münchenstein war ein zum Unglück gewordenes Risiko zum Impuls für eine wesentliche Verbesserung der Haftungssituation für Fahrgäste geworden.

Der Brückeneinsturz bei Münchenstein ist bis heute das grösste Eisenbahnunglück der Schweiz.

Der Brückeneinsturz bei Münchenstein ist bis heute das grösste Eisenbahnunglück der Schweiz.

Quelle: Fondation Herzog, Basel

Verlässlicher Retter in der Not

Die erhoffte Sicherheit, in der sich der Mensch der Moderne wähnt, wird durch sichtbare Symbole von Ordnung und Funktionalität repräsentiert: der Berner Verkehrspolizist um 1930 verkörpert die eindeutigen und allgemeinen Regeln des Strassenverkehrs, die die Komplexität und Schnelligkeit des Autoverkehrs erforderlich machen. Es entstanden nicht nur spezialisierte Polizeieinheiten, sondern auch eine Vielzahl spezifischer Versicherungsprodukte, welche die Misslichkeiten von Regelübertretungen, Unachtsamkeiten und dummen Zufällen für die Unfallbeteiligten abfederten. Nicht zuletzt spektakuläre Grosskatastrophen des 20. Jahrhunderts waren für die Versicherungswirtschaft Herausforderungen, die zwar hohe Schadensleistungen notwendig machten, jedoch das Image der Versicherer als verlässliche Retter in der Not begründeten.

Berner Verkehrspolizist um 1930.

Berner Verkehrspolizist um 1930.

Quelle: Fondation Herzog, Basel

Die «White Star Line» wurde im Jahr 1912 innerhalb von 30 Tagen nach dem Untergang der «Titanic» entschädigt, die Reputation der US-amerikanischen Feuerversicherung «Fireman‘s Fund» gründet sich bis heute auf der kundenorientierten Schadenregulierung des Jahrhunderterdbebens, das sich 1906 in San Francisco ereignete. Dass Versicherung ganz direkt mit «Sicherheit» zu tun hat, belegen diese Episoden aus der Geschichte der Assekuranz augenscheinlich und rechtfertigen einen Blick zurück – auch für so zukunftsorientierte Unternehmen wie Versicherungen.