Philipp Kristian, Vertrauen ist Ihr Steckenpferd. Wie definieren Sie dieses grosse Wort?
Vertrauen beginnt immer bei uns selbst. Es geht darum, das Unbekannte des Lebens anzunehmen und an unsere aussergewöhnliche menschliche Natur zu glauben. Vertrauen gibt uns die Kraft, unseren persönlichen und beruflichen Horizont neu zu denken und damit unser Umfeld und unsere Welt im Allgemeinen neu zu gestalten. Es befähigt uns, in Zeiten des Wandels agil zu handeln, uns den Anforderungen anzupassen und jede Unsicherheit, die uns begegnet, als Chance zu nehmen.
Vertrauen ist eine Kraft, die wir nutzen können, um die grossen Probleme zu lösen, die anstehen. Deshalb ist die Trust Economy so wichtig und der Schlüssel zu einer Kultur der Transformation sowie zur Transformation der Kultur. Es müsste eigentlich im Interesse aller sein, die nachhaltige und vertrauensbasierte Transformation ganz oben auf die Tagesordnung zu setzen.
In der Unternehmenswelt scheint Vertrauen in den vergangenen Jahren jedoch durch Compliance, Reporting und Controlling ersetzt worden zu sein …
In den vergangenen 18 bis 24 Monaten hat sich unser Bewusstsein in Bezug auf Organisationsstrukturen und deren Zukunftsfähigkeit stark fortentwickelt. Daraus ergibt sich die einmalige Gelegenheit, eben diese neu zu denken und an die nun allseits präsente Hybrid-Realität anzupassen. Vertrauen ist die Kernzutat, damit das gelingt. Und genau daran fehlt es in vielen Führungskulturen: Statt in die eigenen Fähigkeiten sowie die der oftmals hochqualifizierten Mitarbeitenden zu vertrauen, fallen viele Konzerne in eine Art Angststarre, aus der sich am Ende nur Stagnation und Frust ergibt.
Vorreiter zeigen uns, dass es anders geht und dass ein kultureller Wandel unabdingbar ist, um in der aktuellen Neuausrichtung auch eine einzigartige Chance zu sehen: Es ist die Chance, einmal grundsätzlich das zu überdenken, was man vorher einfach so hingenommen hat und was der Veränderung bis dato im Wege stand.
Was bedeutet diese Entwicklung für die Assekuranz?
Vertrauen ist ein proaktiver Ansatz für das Risikomanagement – sowohl der sichtbaren als auch unsichtbaren Risiken. Ironischerweise kämpfen viele Versicherer mit gegenseitigem Misstrauen zwischen sich und ihren Kunden. Wahrgenommene Interessenkonflikte zwischen Versicherern, die das Risiko minimieren möchten, und Kunden, die maximale Deckung suchen, können den Elefanten im Raum überschatten: Risikoreduktion ist gleichermassen für Versicherer und Versicherte von Vorteil. Effektives Risikomanagement setzt voraus, dass beide Seiten Hand in Hand arbeiten, transparent und auf Augenhöhe. Ganz nach dem Motto: Wir sitzen hier im gleichen Boot.
Das Vertrauen in diese gemeinsame Sicht- und Herangehensweise zeigt auf, was für einen Unterschied es macht, in Richtung eines gemeinsamen Ziels zusammenzuarbeiten. Klingt einfach und ist es prinzipiell auch – allerdings bedarf es hierzu einer Veränderung unseres Mindsets und damit einer Neuausrichtung der von der Branche vertretenen Weltanschauung.
Was heisst das konkret?
Aktuell werden viel zu selten diejenigen Risiken in den Vordergrund gestellt, die disruptiven Veränderungen zugrunde liegen. Sogenannte innovation opportunity costs, also die Werte, die man hätte schaffen können, wenn man die Möglichkeit dazu früher entdeckt hätte. Das ist so, als wäre man auf einem Segelboot im Sturm ununterbrochen damit beschäftigt, das Deck von Gischt zu befreien, während sich der Rumpf unbemerkt mit Wasser füllt. Wir müssen die Perspektive ändern und lernen, unsere Organisationskulturen und -systeme von Default-Distrust in Richtung Default-Trust hin zu verändern.
Wie gelingt es der Branche, eine Vertrauenskultur zu etablieren?
Unternehmen, die den ersten Schritt in Richtung Vertrauen machen und dadurch zu gegenseitigem Vertrauen einladen, starten automatisch damit. Das beginnt natürlich mit beispielhaftem Vorangehen von ganz oben, denn nur dann kann so etwas auch wirklich funktionieren. Natürlich schafft man dies nicht über Nacht, da eine vorherrschende Misstrauenskultur mit einer Feuerwalze zu vergleichen ist, die selbst die stärksten Veränderungsimpulse, aber niemals sich selbst erstickt.
Vertrauensgetriebene kulturelle und organisatorische Transformation ist ein Spiel mit kleinen Aktionen und einem langen Atem und Horizont. Für jede Organisation sieht das Rezept ein wenig anders aus, beginnt und endet aber immer mit der Führungskultur und deren Selbstverständnis. Die Bereitschaft, auf Vorschuss zu vertrauen, muss von oben kommen und schrittweise erfolgen. Mache ich das zu abrupt, kann das auch nach hinten losgehen. Stufenweise klappt es am besten. Ich bin überzeugt davon, dass die Assekuranz hierfür offen ist. Denn nebst der Zukunft unserer Kunden sollten wir auch unsere eigene absichern.
Und wie könnte die Branche davon profitieren?
Ganz klar von mehr Innovationen, denn diese sind typischerweise ein Nebenprodukt der Wiederherstellung von Vertrauen in ein Werteversprechen, also eine value proposition wie zum Beispiel eine Versicherungspolice. Ein konkretes Beispiel wäre die Aufhebung der Mindestvertragslaufzeit gegenüber den Kunden. Damit signalisiert der Versicherer, dass man auf die Qualität der Kundenbeziehung vertraut und damit auch darauf, dass Kunden von sich aus bleiben wollen.
Damit dies auch wirtschaftlich funktioniert, müssen Versicherer in die Beziehung investieren, um das gegenseitige Vertrauen, von dessen Präsenz sie ausgehen, auch zu kultivieren. Digitalisierung und entsprechende Technologien geben uns hierfür eine neuartige und beliebig skalierbare Toolbox. Verlagert sich Vertrauen in Richtung eines neuen, vertrauenswürdigeren Werteversprechens, nennen wir das im Ergebnis gerne eine Disruption. Dies bedeutet, dass Disruption eine Konsequenz darstellt, während das Investment in Innovation freie Wahl ist.
Sie haben den Einsatz von Technologie erwähnt. Passen Vertrauen und Digitalisierung überhaupt zusammen?
Ja, absolut! Die Digitalisierung erhöht die Geschwindigkeit des Vertrauens. Die neue, technologiegetriebene Wirtschaft operiert mit Vertrauen auf Vorschuss; dadurch kollidiert sie mit der alten Ökonomie, die bürokratiegetrieben ist und erst mal misstrauisch agiert. Schliesslich habe ich nichts davon, wenn mir eine Person vollständig vertraut, ich ihr aber nicht. Die Digitalisierung ermöglicht es uns, unsere wirtschaftlichen und sozialen Strukturen zu revolutionieren und damit reibungsloses Vertrauen im passenden Mass zu ermöglichen. Eine digitale Unternehmenssteuerung bedeutet eine flexible, beliebig skalierbare und intelligent datengetriebene Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine. Dafür brauche ich Vertrauen, denn sonst lässt sich niemand darauf ein. Die Belohnung hierfür ist, dass sich Unternehmen, die das tun, rapide und laufend transformieren und sich damit stets den aktuellen Bedingungen anpassen können. Wer das versäumt, der verschenkt die eigene Zukunft.
Und wie soll das gehen?
Technologie ist in der Lage, die mit Vertrauen verbundenen Transaktionskosten massiv zu reduzieren und zwischenmenschliches Vertrauen sowie das damit verbundene soziale Kapital fast gen unendlich zu skalieren. Vertrauen reduziert die damit verbundenen Kosten und die Reibungsverluste, ebenfalls die so häufig vorkommenden Interessenkonflikte. So erfindet die Digitalisierung das zwischenmenschliche Vertrauen – und damit ebenfalls die Möglichkeiten zwischenmenschlicher Zusammenarbeit und Organisation – völlig neu.
Wichtig dabei ist es, sicherzustellen, dass die Technologie uns dient – anstatt dass wir ihr dienen. Wenn wir zwischenmenschliches Vertrauen mithilfe von Technologie erhöhen können, so inspiriert das nachhaltige Veränderung in und um uns herum. Genau das braucht es, damit sich die Assekuranz erfolgreich in Richtung Zukunft entwickeln kann.