Im Gesundheitswesen steht nebst der Pandemie mit der Digitalisierung eine weitere Herausforderung an. Was bedeutet das für die Branche?
Die Digitalisierung verändert die Branche fundamental. Einerseits schafft sie ganz neue Möglichkeiten, wie Krankenversicherer und Leistungserbringer mit den Kunden und Patienten interagieren und sie dabei unterstützen können, ihre Gesundheit zu fördern. Über Wearables kann man beispielsweise in nie dagewesenem Umfang eigene Daten zur Selbstvermessung oder für Diagnosezwecke sammeln und – wenn gewünscht – auch teilen. Anderseits erlaubt die Digitalisierung, Abläufe und Prozesse zu automatisieren und so die operative Effizienz zu steigern und die Convenience für die Kunden zu erhöhen. Unsere Vision ist es daher, unsere Kunden mit digitalen Tools zu unterstützen, sodass sie selbstbestimmt ihre Gesundheit fördern können. Ich glaube sehr stark daran, dass die Gesundheitserhaltung zum Lifestyle werden und noch mehr an Bedeutung gewinnen wird.
Sie sprechen nun vor allem über die digitalen Möglichkeiten für die Prävention – lassen sich mit der Digitalisierung auch Kosten sparen?
Gesundheitskosten lassen sich nur gemeinsam mit unseren Kunden reduzieren. Deshalb fördern wir die Prävention und unterstützen unsere Versicherten dabei, gesund zu leben, um chronische Krankheiten möglichst zu vermeiden oder mit diesen bestmöglich umzugehen. Bereits einfache digitale Services wie etwa die Erinnerung zur Medikamenteneinnahme können eine enorme Convenience bringen.
«Die Pandemie hat ganz klar einen Schub gebracht im Hinblick auf die vermehrte Nutzung der digitalen Möglichkeiten.»
Ist die Kundschaft denn bereit, für diese Convenience mehr zu bezahlen?
Kunden zahlen ja nicht direkt für Convenience. Sie wird von ihnen aber sehr wohl wahrgenommen und steigert die Zufriedenheit. Dies drückt sich wiederum in einer höheren Loyalität zum Unternehmen aus und trägt auch dazu bei, neue Kunden zu gewinnen.
Sie haben das Teilen von Daten erwähnt – hierzulande bekanntermassen ein heikles Thema. Vor einigen Monaten wurde die E-ID in einer Volksabstimmung abgelehnt und das elektronische Patientendossier kommt seit Jahren nicht so richtig vom Fleck. Wie bringen Sie die Leute dazu, die Daten mit ihrer Versicherung zu teilen?
Die Pandemie hat ganz klar einen Schub gebracht im Hinblick auf die vermehrte Nutzung der digitalen Möglichkeiten. Im aktuellen Monitor «Datengesellschaft und Solidarität», welchen unsere Stiftung jährlich publiziert, wird deutlich, dass der wahrgenommene digitale Leistungsdruck erheblich abgenommen hat: 47 Prozent der Schweizer gaben an, dass der digitale Wandel eben auch Fortschritt und neue Möglichkeiten bringt. 2018 waren das erst 35 Prozent. Eine Folge der Pandemie ist also, dass die Menschen die Digitalisierung nutzen und auch bereit sind, gewisse Abstriche im Bereich des Datenschutzes in Kauf zu nehmen, beispielsweise wenn sie dadurch mehr Freiheiten erhalten oder wenn sie einen Mehrwert für sich sehen.
Was meinen Sie damit?
Wenn ich bereit bin, meine Daten zur Verfügung zu stellen, und dadurch für mich relevante Informationen erhalte, zum Beispiel im Diagnose- und Prognosebereich. Wenn ich erlaube, meine Röntgenbilder mit künstlicher Intelligenz analysieren zu lassen, kann damit Krebs eventuell früher erkannt werden. Zusätzlich kann auf Basis meiner Daten die beste individuelle Behandlungsmöglichkeit definiert werden. Das sind handfeste Vorteile der Digitalisierung.
Sie plädieren also für eine möglichst umfassende Nutzung der Daten im Gesundheitswesen?
Nein, ich plädiere dafür, dass wir als Gesellschaft diskutieren müssen, wie viele Daten wir nutzen.
Was heisst das?
Auf der Basis von DNA-Informationen, der Selbstvermessung und mittels medizinischer Daten können zukünftig wahrscheinlich individuelle Prognosen für eine mögliche Erkrankung erstellt werden. Die Frage ist nun, ob und wie diese Daten hinsichtlich der Finanzierung durch die Solidargemeinschaft verwendet werden sollen. Das ist eine ethische, aber auch eine politische Frage, die wir als Gesellschaft beantworten müssen.
«Wir haben sehr viele Patente pro Einwohner. Dieser Spirit sollte verstärkt in die Politik übertragen werden.»
Warum sind Länder wie Dänemark weiter in Sachen Digitalisierung?
Ich denke, das hat viel mit der Kultur zu tun. In Dänemark ist die Einführung der digitalen Gesundheitsplattform top-down erfolgt, das wäre bei uns definitiv nicht möglich. Ich bin überzeugt, dass wir nicht einfach das Modell eines anderen Landes auf die Schweiz übertragen können, wir müssen unseren eigenen Weg finden. Meiner Meinung nach wäre es wichtig, dass Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es einfacher machen, digitale innovative Lösungen zuzulassen.
Was wären solche Rahmenbedingungen?
Grundsätzlich sind wir in der Schweiz sehr innovativ. Wir haben sehr viele Patente pro Einwohner. Dieser Spirit sollte verstärkt in die Politik übertragen werden. Ich wünsche mir von der Politik, dass noch mehr Raum geschaffen wird für innovative digitale Modelle, vor allem, dass man diese schneller zulassen und einführen kann. Ich denke da aktuell an das elektronische Patientendossier, aber auch an andere digitale Services.
Das BAG ist ja nicht gerade ein leuchtendes Beispiel, was die Digitalisierung anbelangt … Wäre es besser, wenn es eine übergeordnete Kommission gäbe, die aus Mitgliedern der verschiedenen Interessengruppen besteht?
Nein, ich sehe das nicht ganz so düster wie Sie. Der Austausch zwischen Politik und Wirtschaft findet statt, doch der Übergang von der alten, analogen zu einer digitalen Welt ist für mich als Physiker wie ein Phasenübergang, der eine gewisse Anlaufzeit benötigt.
Können Sie den Phasenübergang auch Nichtphysikern noch etwas verdeutlichen?
Am Anfang sind die Veränderungen kaum sichtbar, doch ab einem kritischen Moment nehmen diese schnell zu und am Ende erfolgt der Wechsel in einen neuen Zustand sehr rasch, so wie der Übergang von fest zu flüssig, der in einem sehr engen Temperaturbereich stattfindet. Ich glaube, der kritische Moment ist noch nicht eingetreten, doch wir sind auf gutem Weg.
«In einem idealen Gesundheitswesen kann der Mensch mit einer guten Lebensqualität alt werden.»
Wann werden wir am Punkt sein, an dem die Digitalisierung des Gesundheitswesens Fahrt aufnimmt?
Es gibt bereits vielversprechende Anzeichen. Ich glaube, dass die Pandemie und alle Themen, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden, einen beschleunigenden Effekt haben. Ich bin sehr optimistisch, dass sich vieles bewegen wird in nächster Zeit.
Wie sieht das ideale Gesundheitswesen der Zukunft aus?
Es erlaubt den Menschen einen schnellen Zugang, stellt eine gute Behandlung mit modernster Technologie und effektiven Medikamenten sicher und all dies zu einem Preis, den wir uns als Gesellschaft leisten können. In einem idealen Gesundheitswesen kann der Mensch mit einer guten Lebensqualität alt werden. Aus diesem Grund kommt der Prävention auch eine wichtige Rolle zu.
Wo liegt der Preis, den sich die Schweizer Gesellschaft leisten kann?
Das ist eine Frage, die wir als Gesellschaft beantworten müssen. Ich benutze gerne die Metapher vom Fliegen: Um an einem Ort sicher anzukommen, spielt es in technischer Hinsicht keine Rolle, ob ich Economy, Business oder First Class fliege. Das bestimmt lediglich den Unterschied, wie ich am Zielort ankomme möchte. Wir müssen uns fragen, ob wir uns als Gesellschaft ein Gesundheitswesen der Economy, der Business oder der First Class leisten können und wollen.