Gerade die Covid-19 Pandemie hat der digitalen Weiterentwicklung zusätzlichen Aufschwung verliehen, innovativen Produkten mehr Raum geschaffen und wurde zum Anlass genutzt, Ökosystemstrategien voranzutreiben. Höchste Zeit also, um die bedeutendsten Hindernisse von Ökosystemen im Schweizer Versicherungsuniversum zu identifizieren und mit den gängigsten Mythen betreffend Ökosysteme aufzuräumen. 

Die Autoren:

Prof. Dr. Peter Maas lehrt und forscht an der School of Management der Universität St. Gallen und bekleidet verschiedene VR-Mandate bei Insurtechs und einer Familien-Stiftung.

Roman Wyss M.A. HSG hat Banking & Finance an der Universität St. Gallen studiert. Aktuell ist er als M&A-Berater bei Deloitte in Zürich tätig

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

1. Ökosysteme sind ein vollkommen neuartiges Phänomen in der Versicherungswelt

Die schiere Fülle an Berichterstattung zum Thema Ökosysteme legt die Vermutung nahe, dass das Auftreten von Ökosystemen in der Versicherungsbranche ein Phänomen der späten 2010er Jahre ist. In Tat und Wahrheit ist dies aber ein Trugschluss. So existieren klassische Ökosystem-Use-Cases wie Embedded Insurance schon über längere Zeit – bspw. bei Fahrzeugversicherungen in der Autovermietung oder Reiseversicherungen, die in Kreditkartenpakete eingebunden sind. 

Obschon die Vernetzung zwischen Unternehmen stetig zunimmt, existieren Partnerschaften, Netzwerke und strategische Allianzen seit eh und je. Gänzlich neu ist vor allem, dass solche Ansätze nun viel aktiver und bewusster verfolgt werden. Einerseits rückt innerhalb der Versicherungsgesellschaften der Ökosystemgedanke stärker ins Zentrum, und anderseits wird er mit Absicht an den Endkunden herangetragen. Dadurch wird er im Versicherungskontext von Aussenstehenden viel stärker wahrgenommen. Dementsprechend verschiebt sich auch der Fokus vom klassischen Vertrieb hin zu kontextbezogenen Angeboten. 

Ökosysteme werden also gewissermassen als Anlass genutzt, den Kunden stärker ins Zentrum zu rücken. Daher haftet ihnen eigentlich zu Unrecht der Ruf an, ein neuartiges Phänomen zu sein. Deren Popularität hat vor allem dadurch zugenommen, dass der Gedanke – nicht zuletzt zu Marketingzwecken – aktiv propagiert wird. Der Grundgedanke im eigentlichen Sinne ist aber nichts Neues.

2. Ökosysteme müssen von Beginn an klar definiert werden

Ein häufiger Fehler bei der Entwicklung von Ökosystemstrategien ist der Anspruch, die Strategie von Beginn weg bis ins letzte Detail durchzuplanen. Die Gründe liegen meist in der unbegründeten Eile, umgehend positive Resultate zu liefern, und im Anspruch, Prozesse fehlerlos und verzögerungsfrei abzuwickeln. Die logischen Konsequenzen sind Bürokratie und Ineffizienz. Um diesen vorzubeugen, gilt es stets zu bedenken, dass neue Produkte und Geschäftsmodelle nie in einem von Bürokratie geprägten Umfeld entstehen. 

Ausserdem lassen sich Ökosysteme nicht simulieren, sondern sind hochdynamisch und in ständiger Entwicklung. Die richtige Einstellung ist daher sehr zentral für den Erfolg von Ökosystemen. Dazu gehört auch ein gesundes Mass an Geduld. Sollten bspw. Startschwierigkeiten auftreten, darf dies nicht direkt als Scheitern gewertet werden. Wichtig ist, dass aus gescheiterten Versuchen Rückschlüsse gezogen und diejenigen Impulse abgeleitet werden, die ein Ökosystem auf die Erfolgsspur bringen. 

Um dies zu bewerkstelligen, ist es von zentraler Bedeutung, dass den Verantwortlichen genügend Freiheitsgrade eingeräumt werden, Produktpiloten zu starten und neue Ideen «ins Blaue hinein» zu entwickeln. Nur so können die nötigen Rahmenbedingungen geschaffen werden, um wirklich innovative Ideen zu kreieren und innerhalb eines Ökosystemkontexts umzusetzen. 

Als positives aktuelles Beispiel kann die Kooperation von Baloise und UBS genannt werden, für die der Erstautor gerade im Rahmen eines studentischen HSG-Capstone-Projektes gemeinsam mit internen Projektleitern kreative Ideen für das Ökosystem Home & Living entwickelt haben.

3. Man muss ein Ökosystem orchestrieren, um erfolgreich zu sein

Ein weiterer gängiger Mythos ist die Annahme, dass Versicherungsgesellschaften Ökosysteme zwingend orchestrieren müssen, um deren Früchte zu ernten. Grundsätzlich sollte bei Ökosystemstrategien stattdessen ein gesundes Kosten-Nutzen-Verhältnis verstärkt im Vordergrund stehen.

Ökosysteme erfordern einen hohen Koordinations- und Steuerungsaufwand und auch das sorgfältige Vermitteln zwischen den verschiedenen Teilnehmern und das Abwägen ihrer Interessen ist mit viel Aufwand verbunden. Zusätzlich müssen sektorfremdes sowie interdisziplinäres Wissen und die Fähigkeit, verschiedene Kulturen unter einem Dach zu vereinen, vorhanden sein. Versicherern ist daher geraten, nur dann als Orchestrator aufzutreten, wenn sie durch diese Rolle signifikante strategische Vorteile gewinnen und wenn sie bereit sind, auch auf operativer Ebene in komplett versicherungsunabhängige Industrien vorzudringen. Dazu gehört ebenso zu akzeptieren, dass die Versicherungskomponente innerhalb grösserer Ökosysteme oft nur eine untergeordnete Rolle spielt.

Nüchtern betrachtet, kann man sogar sagen, dass ein Ökosystem problemlos ohne Orchestrator auskommen kann, solange daraus eine Win-win-Situation für alle Parteien hervorgeht. Der Anspruch, ein Ökosystem zu orchestrieren, ist nämlich oft unbegründet und individuellen Machtansprüchen geschuldet. Viel wichtiger als die Frage, wer ein Ökosystem orchestriert, ist die gegenseitige Klärung von Interessen, die Bereitschaft, langfristige Partnerschaften einzugehen, und die transparente Verteilung von Verantwortlichkeiten. Für Versicherungsgesellschaften ist es zentral, komparative Vorteile gegenüber anderen Versicherern zu haben, um als Partner interessant zu sein. Diese können in verschiedensten Bereichen bestehen, bspw. durch eine interessante Produktpalette, Preisvorteile, einfache digitale Anbindungsmöglichkeiten oder aber einen guten Ruf als Kooperationspartner mit einem hohen Grad an Offenheit. Letztlich ist es wichtig, selektiv vorzugehen und sich gezielt auszusuchen, in welchen Netzwerken man Deckungen anbieten will und in welchen man aktiv partizipieren oder allenfalls orchestrieren will.

4. Ökosysteme sind der einzige Weg zum Erfolg

Ökosysteme werden oft als alleiniger Treiber für Wachstum im Versicherungsmarkt missverstanden. Damit verbunden ist vor allem die Angst, dass der klassische Vertrieb gänzlich verschwinden wird.

Eine solche Befürchtung ist jedoch unbegründet, wenn sich Versicherer modernisieren und laufend an Kundenbedürfnisse anpassen. Gerade im Kontext umfassenderer Verträge im B2B-Segment sind Kunden sowieso auf Spezialisten und den traditionellen Vertrieb angewiesen. Dies heisst nicht, dass solche Bereiche nicht von Ökosystemlösungen profitieren können. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass der klassische Versicherungsberater vollständig an Bedeutung verlieren wird.

Im B2C-Bereich werden Ökosysteme ebenfalls in Kombination mit traditionellen Modellen zu finden sein, denn sie greifen vor allem dort, wo digitale Produkte entwickelt und an eine grosse Anzahl Kunden verkauft werden können, sowie dort, wo administrative Prozesse digitalisiert werden können. Tritt aber ein Problem auf oder hat ein Kunde eine spezifische Frage, muss dennoch jederzeit ein Spezialist verfügbar sein, um sich solcher Anliegen anzunehmen. Für Versicherer bedeutet dies letztlich, dass sie sich auf diejenigen Bereiche oder Aufgaben fokussieren sollen, in denen entweder spezifisches Know-how vorhanden ist oder in welchen grosses Potenzial erkannt wird und in welche sich Investitionen im grossen Stile folglich lohnen – und dies abhängig von eigenen Fähigkeiten und Präferenzen und unabhängig davon, ob Ökosysteme dabei im Zentrum stehen oder nicht.

5. Ökosysteme sind ein Erfolgsgarant

Es ist unbestritten, dass sich hinter Ökosystemen grosses Potenzial verbirgt. Gerade deswegen werden sie des Öfteren als einzige Möglichkeit verstanden, das Versicherungsgeschäft langfristig erfolgreich zu gestalten. Aus diesem Grund wiederum verfolgen viele Versicherer Ökosystemstrategien und vergessen dabei, dass diese grundsätzlich einem logischen Muster folgen sollten. Dies heisst nichts anderes, als dass alle Produkte, inkl. der Versicherungsdeckungen, in den Augen des Endkunden Sinn ergeben müssen. Unabhängig davon, wie gross ein Markt oder eine Zielgruppe ist, sollte jede Lösung, die von einem Ökosystem angeboten wird, klar auf eine Zielgruppe zugeschnitten sein und spezifische Kundenwünsche abdecken.

Der eigentliche Schlüssel zum Erfolg liegt also darin, Kundenverhalten in verschiedensten Situationen zu analysieren und daraus Kundenbedürfnisse abzuleiten, die einem Versicherer ohne Partner verborgen blieben. Die relevantesten Produkte werden immer diejenigen sein, die einen latenten Kundenwunsch abdecken. Damit Versicherer von diesen profitieren können, müssen die Ökosysteme, in denen sie agieren, dazu imstande sein, sich ständig an wandelnde Kundenbedürfnisse anzupassen. Für Versicherer bedeutet dies konkret, dass sie beispielsweise Policen in Echtzeit berechnen und über verschiedene Zugangswege flexibel und zum richtigen Zeitpunkt anbieten können. Nur dann werden Ökosysteme den Erfolg bringen, den sich Versicherer von ihnen versprechen.

Die Basis dieses Artikels bildet eine Masterarbeit, die von Prof. Maas am Institut für Versicherungswirtschaft der Universität St. Gallen betreut wurde. Im Rahmen der Untersuchung wurden 23 Branchenexpertinnen und -experten verschiedener Universal-, Sach-, Rück-, sowie Lebensversicherer, Insurtechs und Beratungsunternehmen befragt.

Lesetipp:

Ich bin auch ein (digitales) Ökosystem,

Von Gastautor Dr. Evangelos Avramakis, Head of Digital Ecosystems Research & Development, Swiss Re Institute.