Die Schweiz fällt wegen des Reformstaus bei internationalen Vergleichen zur Altersvorsorge immer weiter zurück. Versprechen die Reform AHV 21 und die von den Sozialpartnern erarbeiteten Vorschläge zur Neugestaltung der beruflichen Vorsorge eine Besserung?
Heinz Zimmermann: Es kann durchaus sein, dass wir bei solchen Ranglisten einige Positionen verlieren. Allerdings sind solche Vergleiche teilweise fragwürdig, weil sie unterschiedliche Elemente der Vorsorge miteinander vermischen und aus dem Kontext herauslösen. Die aktuellen Reformvorschläge gehen in die richtige Richtung. Die Absenkung des Umwandlungssatzes im Obligatorium der zweiten Säule von 6,8 Prozent auf 6 Prozent ist dringend notwendig. Der jetzige Umwandlungssatz erfordert eine durchschnittliche Kapitalrendite von 5 Prozent, die nur mit risikoreichen Anlagen zu erreichen ist. Selbst mit dem tieferen Umwandlungssatz ist immer noch eine Rendite zwischen 3,5 Prozent und 4 Prozent erforderlich, die deutlich über dem risikolosen Zinssatz liegt. Der tiefer angesetzte Koordinationsabzug ist ebenfalls sinnvoll. Trotzdem ist die Eintrittsschwelle in die zweite Säule immer noch hoch. Auch der Ansatz mit weniger stark steigenden Lohnprozenten bei älteren Beschäftigten sollte die Arbeitgeber zugunsten dieser Alterskategorie motivieren. Das eigentliche Problem sind jedoch die Risikozuschläge. Es wird für Unternehmen mit einer schlechten Altersstruktur laufend schwieriger, noch Vollversicherer oder Sammelstiftungen zu finden, die sie aufnehmen.
In jüngerer Vergangenheit sind alle Erneuerungsansätze in der ersten und zweiten Säule gescheitert. Vor allem die Gesamtlösungen wurden vom Stimmvolk verworfen. Sind die Chancen bei getrennten Reformschritten besser?
Ja, ich sehe mit dieser Aufspaltung bessere Chancen, da die Komplexität etwas abnimmt. Von der Sache her gesehen wäre es allerdings richtig, diese Entscheidungen zusammenzufassen. Die Zielsetzung beider Vorsorgewerke besteht letztlich darin, die gewohnte Lebenshaltung nach der Pensionierung fortzuführen. Politisch sind die Aussichten mit der nun gewählten Lösung etwas höher einzustufen. Dies ist für die Verbesserung der heute unbefriedigenden Situation auch unbedingt erforderlich.
Wie würden Sie den Gesundheitszustand des Schweizer Vorsorgesystems charakterisieren?
Ein Vergleich mit einem Krankheitsbild ist schwierig, aber bei diesem Patienten müsste man einige Organe entfernen oder transplantieren. Wichtig ist ein Blick zurück: In den 1970er und 1980er Jahren hatten viele Unternehmen bereits Vorsorgeeinrichtungen. Neu ist 1985 mit dem BVG-Obligatorium die Pflicht dazugekommen. Wer damals ins Erwerbsleben eintrat, geht jetzt in Pension. Wir sind mit der beruflichen Vorsorge also noch in der Einführungsphase. Diese Startup-Periode ist in eine Zeit genügend hoher risikoloser Nominalzinssätze und prosperierender Finanzmärkte gefallen. Schon damals gab es Umverteilungen, die aber vom guten Kapitalertrag und der Intransparenz des Systems überdeckt wurden. Zur Erhaltung eines nachhaltigen kapitalgedeckten Systems der zweiten Säule sind jedoch andere Spielregeln nötig.
Wo braucht es Korrekturen?
Das gesamte System müsste einfacher werden. Es gibt zu viele regulatorische Vorgaben. Dazu kommen kapitalmarktfremde Auflagen. Die werden zwar langsam abgebaut, sind aber noch nicht verschwunden. Zudem braucht es mehr Flexibilität bei der Gestaltung der Anlagepolitik. In einer Anfangsphase macht ein starres System durchaus Sinn. In Zukunft sollte eine Pensionskasse als moderner Finanzanbieter mit einer hohen Beratungskompetenz agieren. Das erfordert eine Herauslösung der zweiten Säule aus dem administrativen System der Sozialversicherungen.
In der zweiten Säule trägt der Kapitalmarkt immer weniger für die Leistungserbringung bei. Müsste man deshalb im anhaltenden Tiefzinsumfeld nicht die nach dem Umlageverfahren aufgebaute AHV stärken?
Klar ist: In einem Null- oder Negativzinsumfeld kann man mit Kapitalmarktanlagen keine zukünftigen Renten sichern. Der relevante Kapitalmarkt besteht heute nicht mehr aus Obligationen, sondern es sind risikobehaftete Anlagen. Der «dritte Beitragszahler» finanziert uns entsprechend über Risikoprämien. Mit Nullzinsen lässt sich bei positivem Lohnwachstum keine Einkommensgarantie über Zeithorizonte mehrerer Jahrzehnte bewerkstelligen. Wenn man Leistungen garantieren will, geschieht dies ökonomisch am effizientesten über ein Umlageverfahren und sie sind auf das sozialpolitisch relevante Existenzminimum zu beschränken. Sollte dafür die heutige AHV nicht genügen, müsste man dieses Vorsorgewerk etwa über eine höhere Mehrwertsteuer und zusätzliche Lohnprozente aufstocken. Das wäre eine Grundlage, um in der zweiten Säule sämtliche Restriktionen abzubauen.
Was halten Sie von Überlegungen, die AHV mit dem obligatorischen BVG-Teil zu verschmelzen?
Ich würde nicht das gesamte Obligatorium nehmen, sondern nur jenen Teil, der zur Aufrechterhaltung des Existenzminimums notwendig ist. Der Konstruktionsfehler des heutigen Systems liegt in der Vermischung eines Sozialversicherungssystems mit einem Kapitalbildungsmodell.
Sind sozialpolitische Umverteilungen nicht vor allem über ein umlagebasiertes Vorsorgewerk wie die AHV zu erreichen?
Ja, das ist nicht nur ökonomisch effizient, sondern auch ordnungspolitisch angebracht.
Die Hälfte der Zweite-Säule-Gelder sind heute bereits in Sammelstiftungen und die Zahl der autonomen Pensionskassen nimmt ständig ab. Es scheint, viele Arbeitgeber würden das Interesse an der beruflichen Vorsorge verlieren. Wo endet dieser Konsolidierungsprozess?
Das Bild der Pensionskassen hat sich seit den 1970er Jahren fundamental verändert. Damals waren nicht nur eherne Vorstellungen massgebend. Nach der Einführung
des BVG-Obligatoriums bestanden rund 30 Prozent der Pensionskassen-Anlagen aus Darlehen an den Arbeitgeber. Oder es wurden Liegenschaften zu nicht marktkonformen Bedingungen an die Belegschaft vermietet. Heute erwartet man, dass die Vorsorgeeinrichtungen ihren Mitgliedern einen Teil der Finanzplanung abnehmen. Die Pensionskasse muss als moderner Finanzdienstleister gesehen werden, der seinen Mitgliedern verschiedene, kompetitive Vorsorgepläne anbietet. Unter diesem Gesichtspunkt ist ein weiterer Konsolidierungsprozess nicht auszuschliessen.
In der zweiten Säule findet eine zunehmende Umverteilung von den Erwerbstätigen zu den Rentnern statt. Wie lässt sich das stoppen?
Zunächst einmal: Umverteilung gehört zu jedem Vorsorgesystem. In der Schweiz ist diese Umverteilung aber wegen der kapitalmarktfernen Vorschriften besonders ausgeprägt und vor allem auch schwer durchschaubar. Viele Vorsorgeeinrichtungen verwenden für die Rentner immer noch einen höheren technischen Zinssatz als für die Aktiven, dessen Obergrenze derzeit bei etwa 1,7 Prozent liegt. Da dieser Satz immer noch deutlich über dem risikolosen Zinssatz liegt, leben die heutigen Aktiven bereits auf Kosten derjenigen Generation, die möglicherweise noch gar nicht im Arbeitsprozess ist! Dazu kommen Umverteilungseffekte zwischen den Geschlechtern. Eine eigene Studie (siehe «Die Volkswirtschaft», Ausgabe 04/2021) zeigt, dass diese Umverteilung bei den Frauen weniger ausgeprägt ist als bei den Männern, weil sie seltener im überobligatorischen Teil der beruflichen Vorsorge versichert sind. Mit der Beseitigung von kapitalmarktfremden Verzinsungsvorschriften aus dem System lassen sich diese Umverteilungen abbauen. Substanzielle Umverteilungseffekte von Besser- zu Schlechterverdienenden gibt es zwischen dem überobligatorischen und dem obligatorischen Teil der zweiten Säule. Obwohl der Umwandlungssatz im Obligatorium weiterhin 6,8 Prozent beträgt, arbeiten die umhüllenden Pensionskassen bereits mit einem Umwandlungssatz von rund 5 Prozent. Daraus lässt sich errechnen, wie niedrig der Umwandlungssatz im Überobligatorium ist. Solche Mischrechnungen sind für Aussenstehende allerdings weitgehend intransparent, was mitunter ein Grund ist, weshalb das Schweizer Vorsorgesystem bei internationalen Ratings nach unten rutscht.
Würde zu mehr Transparenz auch ein Ampelsystem gehören, das Vergleiche zum Gesundheitszustand einer Pensionskasse erlaubt?
Ja, denn so kann der Destinatär beurteilen, wie es um seine Vorsorgeeinrichtung steht. Das wäre aufschlussreicher als ein Vergleich des gesamten Schweizer Vorsorgesystems mit ausländischen Modellen.
In Kontinentaleuropa gibt es nur ganz wenige Länder, die ähnlich wie die Schweiz über einen derart grossen Anteil der zweiten Säule an der gesamten Altersvorsorge verfügen.
Das ist ein wichtiger Punkt. Viele Rankings schauen sich nur die Leistungsversprechen der Systeme an. Italien, Spanien oder Deutschland liegen weit vorne. Wenn es aber um die Finanzierung geht, ist es der Staat, der diese Sozialwerke mit Steuergeld unterhält. Einzig die Niederlande, die USA und die Schweiz verfügen über eine breiter abgestützte Altersvorsorge. Deshalb sind solche internationalen Vergleiche wenig aussagekräftig, wenn sie nicht auch den Finanzierungsaspekt berücksichtigen.
In welcher Art müsste man die berufliche Vorsorge in der Schweiz liberalisieren?
Es sind vermehrt Wahlmöglichkeiten für die Versicherten zu schaffen. Ich bin kein Gegner eines patronalen Systems, weil damit auch der Arbeitgeber die Vorsorge mitunterstützt und mit individuell zugeschnittenen Vorsorgeplänen zur Attraktivität auf dem Arbeitsmarkt beiträgt. Dies erfordert eine zeitgemässe Beratung für die Versicherten, welche die familiäre Situation und die persönliche Risikobereitschaft berücksichtigt. Dieses Angebot ist heute noch kaum anzutreffen.
Dann wären die 1e-Pläne für Kaderleute und Spezialisten ein solches Muster?
Ja, vom Denkansatz entspricht es genau dieser Lösung. Die 1e-Pläne wurden natürlich auch aus anderen Gründen eingeführt, etwa zur Entlastung der Bilanz eines Unternehmens.
Der Mindestzinssatz wird jährlich vom Bundesrat festgesetzt. Welche Formel wäre anzuwenden, wenn man sich am Markt orientiert?
Massgeblich wäre der Zinssatz für eine lang laufende, beispielsweise zehnjährige Bundesobligation in Schweizer Franken.
Mit welcher Strategie kann eine Pensionskasse im Tiefzinsumfeld eine angemessene Ertragskraft erhalten?
Eine genügende Ertragskraft erfordert risikobehaftete Anlagen in Aktien, Unternehmensanleihen, Edelmetalle und direkte oder indirekte Immobilienanlagen. Entscheidend ist, dass die Ertragskraft des Portfolios die späteren Leistungen bestimmt und nicht unrealistische Leistungsziele die Anlagestrategie diktieren. Letztlich entscheidet die Risikofähigkeit einer Kasse die konkrete Ausgestaltung der Strategie.
Braucht es neue Anreize, um das Sparen in der Säule 3a zu fördern?
Das ist wünschenswert. Derzeit sind wir an einer Studie zur Säule 3a mithilfe von Steuerdaten der Kantone. Die Möglichkeiten werden bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Es geht also darum, dass sich die Leute ein solches Investment vermehrt zutrauen und es attraktive, kostengünstige Anlagemöglichkeiten gibt. Da ist noch einiges an Ausbildungsarbeit zu leisten.
Es gibt politische Vorstösse, den zusätzlichen Einkauf in die Säule 3a zu ermöglichen.
Das geht in die richtige Richtung, aber das Angebot würde wohl nur von den Besserverdienenden genutzt.
Bei der Einführung der beruflichen Vorsorge war das Ziel, gemeinsam mit der AHV rund 60 Prozent des letzten Lohnes für die Lebenshaltung nach der Pensionierung sicherzustellen. Ist das auch künftig möglich?
Nein. Aber vielleicht ist diese Erkenntnis auch eine Frage der Zeit und des Generationenwechsels. Mit einem Umlageverfahren aus dem Budgetprozess kann man aber zumindest die Voraussetzung schaffen, dass eine Person nicht unter das Existenzminimum fällt.
Heinz Zimmermann (63) ist Professor für Finanzmarkttheorie an der Universität Basel. Zuvor wirkte er an der Universität St. Gallen als Professor für Wirtschaft und Finanzen sowie als Leiter des Schweizerischen Instituts für Banken und Finanzen. Seine Wirtschaftsstudien schloss er an den Universitäten in Bern und Rochester USA ab. Er ist Mitbegründer verschiedener Firmen (unter anderem PPCmetrics) und Mitglied mehrerer Verwaltungsräte.