Wie sollen und können die Kompetenzen in der Assekuranz idealerweise weiterentwickelt und vorangetrieben werden? Diese Frage hatte sich auch der Schweizerische Versicherungsverband SVV gestellt und im Rahmen der Strategie 2020–2024 dem Ausschuss Bildungs- und Arbeitgeberpolitik den Auftrag erteilt, die «Skills der Zukunft» mit dem Zeithorizont 2030 für die Versicherungsbranche zu erheben. Der SVV hatte diese Fragestellung im Rahmen einer Studie vom Institut für Versicherungswirtschaft der Universität St. Gallen (I.VW) und dem Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung (EHB) analysieren lassen.

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Trends mit Potenzial

Ziel war es, auf Basis von beobachtbaren Trends, die potenziell Einfluss auf die Entwicklung der Assekuranz bis 2030 haben, ein «Szenario 2030» zu identifizieren, das diejenigen Trends enthält, die sich erstens mit hoher Wahrscheinlichkeit manifestieren, zweitens ein hohes Veränderungspotenzial besitzen und drittens neuer Fähigkeiten bedürfen. Dazu haben die drei I.VW-Professoren Christian Biener, Alexander Braun und Hato Schmeiser gemeinsam mit der SVV-Projektgruppe und dem Ausschuss Bildungs- und Arbeitgeberpolitik folgende Trends identifiziert und diese einer empirischen Evaluation unterzogen.

Trend Individualisierung: Technologische Innovationen in Kombination mit der Verfügbarkeit von Daten sowie die Kapazität zur Analyse grosser Datenmengen in Echtzeit erlauben das Anbieten von massgeschneiderten und bedürfnisorientierten (Versicherungs-)Lösungen in praktisch allen Versicherungsbranchen. Derartige Produkte werden von einem Grossteil der Konsumenten (nicht nur jungen technikaffinen) nachgefragt und genutzt.

«Das Risiko aus Sicht der Assekuranz resultiert insbesondere aus Reputations-/Vertrauens-Aspekten und der Konkurrenz durch international ausgerichtete Digitalunternehmen, die Versicherungspolicen anbieten», präzisiert Co-Autor Christian Biener. «Sollte es nicht gelingen, glaubhaft zu kommunizieren, dass Daten vertrauensvoll genutzt werden, kann ein derart datengetriebener Ansatz schnell die Reputation der Anbieter gefährden.» Das Geschäftsmodell der Versicherer komme durch die Konkurrenz mit international ausgerichteten Digitalunternehmen unter Druck, wenn es diesen besser gelinge, sich als «sicherer Hafen» für die Nutzung und Speicherung sensibler persönlicher Daten zu positionieren, und Kapazitäten da sind, Daten auch besser zu nutzen.

Trend Gesundheitsgesellschaft: Anhaltende Wohlstandszuwächse und Fortschritte in der Medizin und Ernährung haben die Lebenserwartung weiter erhöht. In dieser Gesellschaft werden Gesundheitsdienstleistungen insbesondere in Form von Präventionsangeboten stark nachgefragt und Versicherungen haben sich als zentrale Intermediatoren in Form von Gesundheitsmanagern positioniert. 
Versicherer müssen sich angesichts veränderter Kundenbedürfnisse breiter aufstellen und ein erweitertes Leistungsspektrum anbieten, welches neue Wertschöpfungspotenziale generiert. In diesem Kontext ist auch der Ansatz eines digitalen Ökosystems naheliegend.

Trend Rollenverständnis zwischen Wirtschaft und Staat: Der Staat hat vermehrt privatwirtschaftliche Aufgaben übernommen und es besteht eine deutlich erhöhte Regulierungsdichte. Vor allem die Assekuranz ist seit je ein stark regulierter Sektor mit erhöhten Berichts- und Dokumentationspflichten. «Die Dynamik, mit der neue nationale und internationale regulatorische Anforderungen entstehen, ist hoch», stellt Hato Schmeiser fest. Zudem existieren in der Schweiz historisch bedingte staatlich dominierte Monopole wie etwa in der Gebäude- oder Unfallversicherung. Schmeiser: «Es besteht vermehrt die Sorge, dass übermässige Vorgaben zu unnötigen Kosten führen könnten und zudem Innovationen behindert werden, weil Unternehmen weniger Risiken eingehen.»

Trend Blockchain: Die Blockchain-Technologie ist zur grundlegenden Infrastruktur des Finanzsystems geworden. Unternehmen, die sich frühzeitig positioniert haben, können Effizienzpotenziale heben und durch Datensicherheit sowie geringere Transaktionskosten zusätzlichen Kundennutzen stiften.
Für Co-Autor Alexander Braun ist klar, dass die Blockchain-Technologie für die Versicherungsbranche «vielfältige Potenziale bietet, die vom Onboarding und Underwriting über die Schadenabwicklung bis zum Management von komplexen Rückversicherungsprogrammen reichen.» Auch im Hinblick auf den zentralen Trend der digitalen Ökosysteme werden derartige neue Technologien zum Teilen von Daten und Abwickeln von Transaktionen benötigt. Braun: «Da Blockchains der öffentlichen Form explizit auf Transaktionen ohne Intermediäre setzen, handelt es sich um eine potenziell disruptive Entwicklung, welche die Versicherer in jedem Fall im Blick behalten sollten.»

Trend Internet der Dinge: Die flächendeckende Verbreitung verbundener Geräte des Internet of Things (IoT) hat neue Möglichkeiten im Hinblick auf Lösungen für den Kunden, die Kundin eröffnet. Im Zentrum stehen hier die Aspekte der Prävention sowie der Abbau von Informationsasymmetrien, sodass die Risikoprüfung und Tarifierung künftig viel stärker auf Basis des tatsächlichen Verhaltens der Versicherungsnehmer vorgenommen werden kann. Für die Versicherungsbranche eröffnen sich vielfältige neue Möglichkeiten. So können auf IoT-Basis völlig neue Produkte und Leistungen entwickelt werden, vor allem in den Bereichen der Prävention und der situativen Versicherung.

Trend künstliche Intelligenz: Künstliche Intelligenz (KI) hat sich als eine der zentralen Schlüsseltechnologien etabliert. Methoden der KI werden in der Assekuranz flächendeckend eingesetzt und haben zu dramatischen Effizienzsteigerungen und Produktinnovationen geführt. 
«Die Versicherungsbranche ist dabei hochgradig anfällig für diese technologische Revolution, da sie eine überdurchschnittliche Anzahl von Bürotätigkeiten aufweist, von denen viele durch zeitaufwendige und repetitive Aufgaben im Zusammenhang mit grossen Datenmengen geprägt sind», betont Christian Biener. Wenig überraschend sei insbesondere das Aktuariat prädestiniert für die Anwendung von KI-Lösungen. Bislang konzentriert sich die Mehrzahl der KI-Einsätze in Versicherungsunternehmen gemäss dem Bericht «Skills der Zukunft» jedoch eher auf kundenbezogene Anwendungen wie CRM-Analysen, Chatbots oder digitale Assistenten. «Das Potenzial der Technologie ist jedoch weitaus grösser», so Biener. «Die Fähigkeit zur kostengünstigen Auswertung riesiger Datenmengen in Echtzeit könnte schon in den kommenden Jahren zum wettbewerbsentscheidenden Faktor werden.»

Trend Klimawandel und Nachhaltigkeit: Aufgrund des vorangeschrittenen Klimawandels und des daraus erwachsenden öffentlichen Drucks ist die nachhaltige Ausrichtung von Versicherungsunternehmen ein zentrales Differenzierungsmerkmal gegenüber Stakeholdern (vor allem Kunden und Investoren) geworden. Viele Unternehmen haben sich mit der Einführung der Grundsätze für nachhaltige Versicherungen (Principles for Sustainable Insurance, PSI) bereits freiwillig verpflichtet, dem Klimawandel mittels eines umfassenden, unternehmensweiten Aktionsplans entgegenzuwirken.

Trend digitale Ökosysteme: Das traditionelle Angebot von Versicherungsunternehmen ist grösstenteils in digitalen Ökosystemen aufgegangen und nur ein Baustein von vielen innerhalb dieser Systeme. Für Alexander Braun besteht das Risiko aus Sicht der Assekuranz insbesondere durch Konkurrenz international ausgerichteter Digitalunternehmen, die Versicherungspolicen anbieten: «Das traditionelle Geschäftsmodell der Versicherer kommt dann massiv unter Druck, wenn es Digitalunternehmen gelingt, diejenigen Kunden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Schäden haben werden, besser zu identifizieren als Versicherungsunternehmen.»
Zudem besteht die Gefahr der Regulierungsarbitrage: «Schon heute lässt sich erkennen, dass einige international tätigen Digitalunternehmen regionale rechtliche Rahmenbedingungen (Datenschutz, Steuerrecht, Produktregulierungen usw.) aufgrund ihrer Marktmacht erfolgreich ignorieren können und damit massive Wettbewerbsvorteile erzielen.»

Trend Wirtschaftswachstum: Das reale Wachstum von entwickelten Versicherungsmärkten stagniert seit mehr als zehn Jahren. Dem steht ein starkes Wachstum in Emerging Markets gegenüber, das insbesondere durch den Aufstieg breiter Bevölkerungsschichten in die Mittelschicht zu erklären ist. Diese Veränderung hat zu einer signifikanten Verlagerung von Unternehmensressourcen in Entwicklungs- und Schwellenländer geführt. Unternehmen, welche diesen Transfer geschafft haben, sind besonders erfolgreich.

Trend eingeschränkter Kapitalmarkt: Das tiefe Zinsumfeld besteht weiter und zwingt Versicherer, neue Wege im Asset Management zu gehen und die Gewährung von Garantien weitgehend abzuschaffen. In der Folge konkurrenzieren Versicherer bei Produkten zur Kapitalbildung stark mit Banken und Fintech-Unternehmen.

Ein Teufelskreis fürs Unternehmen

Für I.VW-Professor Hato Schmeiser sollte der Fokus bei der Ableitung von Fähigkeiten, welche 2030 in der Assekuranz vorhanden sein sollten, auf einem Szenario liegen, das diejenigen Trends enthält, welche wahrscheinlich sind, hohes Veränderungspotenzial haben und hohen Skill-Effekt aufweisen. Auf Basis der empirischen Ergebnisse wurden für das «Szenario 2030» folgende Trends identifiziert: Individualisierung, Gesundheitsgesellschaft, Internet der Dinge, künstliche Intelligenz und digitale Ökosysteme.

Das Institut für Versicherungswirtschaft hat zusätzlich mit drei Führungspersönlichkeiten aus branchenfremden Industrien mit Nähe zur Assekuranz strukturierte Interviews durchgeführt, um die interne Sicht aus der obigen Umfrage kritisch zu hinterfragen. Ein Investor und Eigentümer aus dem Fintech-Sektor liess sich dabei folgendermassen zitieren: «Das Versicherungsgeschäft basiert grundsätzlich auf Stabilität. Wandel ist genau das Gegenteil. Deshalb tun sich Versicherer und Banken so schwer damit. Das Problem ist auch, dass durch die bestehende Kultur in der Tendenz Arbeitnehmer angezogen werden, die Stabilität in diesen turbulenten Zeiten suchen.» Das ergibt dann wohl einen Teufelskreis fürs Unternehmen, den zu durchbrechen nicht einfach werden wird.