Gegen vier Uhr morgens ist die Nacht für ihn zu Ende. Dann beginnt der Arbeitstag für Jean-Claude Biver. Der CEO von Tag Heuer ist bekennender Frühaufsteher und schläft nur fünf Stunden pro Nacht. «Ich nutze die Zeit, bevor ich ins Büro fahre, um E-Mails zu lesen und mit Kunden und Partnern zu telefonieren.» Denn, so Bivers Credo: Ein Chef muss im Büro für seine Mitarbeiter da sein, nicht E-Mails lesen.
Klar ist der 66-Jährige am Tag auch mal müde, «das ist ja ganz normal». Aber wenn möglich schläft er im Taxi, Zug oder Flugzeug. Er fühle sich gesund und voller Energie. «Wenn ich gegen elf zu Bett gehe, schlafe ich sofort ein. Ich schlafe so tief, dass ich morgens meist nicht weiss, ob ich etwas geträumt habe», sagt er.
Natürlicher Wecker Druck
Einschlafschwierigkeiten oder Schlafstörungen habe er keine, ein Schlafmittel habe er noch nie genommen. «Ein Glas Rotwein am Abend hilft mir, meinen Kopf abzuschalten.» Am Morgen erwache er automatisch, stelle den Wecker nur dann, wenn er einen Flug erwischen müsse. «Wenn ich sehr viel Arbeit habe, wache ich auch mal früher auf – der Druck weckt mich.»
Besonders Manager tragen Verantwortung, treffen mitunter schwerwiegende Entscheidungen und schlagen sich mit Problemen herum. Mit der Aussage, nur fünf Stunden zu schlafen, steht Uhrenbaron Biver in der Schweiz nicht alleine da. Auch Brady Dougan, Ex-CEO der Credit Suisse, soll weniger als fünf Stunden Schlaf brauchen, SVP-Übervater Christoph Blocher sogar nur drei bis vier.
Job als Schlafkiller
Laut einer aktuellen Umfrage der deutschen Max Grundig Klinik schläft jeder zweite Manager schlecht: 54 Prozent der Befragten geben an, unzufrieden mit ihrer Nachtruhe zu sein, bei den Frauen sind es sogar 59 Prozent. Als Grund geben viele die Arbeit an: 54 Prozent der Führungskräfte sagen, dass sie noch ein bis zwei Stunden vor dem Zubettgehen online seien, drei Viertel checken E-Mails, bevor sie im Büro sind.
«Wenn jemand eine grosse Verpflichtung hat und unter Druck oder Spannung steht, reduziert das den Schlafbedarf im Körper automatisch», sagt Daniel Brunner. Der Leiter des Zentrums für Schlaf an der Zürcher Klinik Hirslanden beschäftigt sich täglich mit den Schlafproblemen seiner Patienten. Die mentale Anspannung durch positiven oder negativen Stress führe dazu, dass der Körper von selber früher als sonst erwache. «Diese Euphorie, die durch das Bevorstehende entsteht, führt dazu, dass die Spannung den Schlafdruck überspielt.»
Risiko zur Überschätzung steigt
Wer dann über einen längeren Zeitraum wenig oder schlecht schlafe, leide an Dauermüdigkeit, was sich negativ auf die Lernkapazität auswirke, sagt Brunner. Chronischer Schlafmangel habe Konsequenzen auf die Psyche und die Risikobereitschaft. Im schlimmsten Fall ziehe dies Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Probleme und Übergewicht nach sich.
Hinzu kommt, dass «eher riskante Entscheidungen trifft, wer wenig schläft, denn man tendiert dazu, sich zu überschätzen», sagt der Spezialist für Schlaf. Dazu sei man den Tag über weniger produktiv.
Mär von der inneren Uhr
Dass sich zu wenig Schlaf negativ auf die Konzentration auswirkt, merkt Dominique Locher, Chef des Onlinehändlers LeShop, wenn er weniger als sechs Stunden schläft. «Würde ich um halb vier aufstehen, wäre das für meinen Arbeitstag sehr kontraproduktiv, meine Produktivität würde über den Tag verlieren.» Seine Nachtruhe dauert in der Regel zwischen sechs und sieben Stunden. Zwar habe es schon Phasen in seinem Leben gegeben, in denen er nur fünf Stunden geschlafen habe, aber die seien vorbei.
Zu Bett geht er zwischen elf und zwölf Uhr. Wichtig für Locher ist, dass er seine E-Mails nicht direkt nach dem Aufstehen checkt. Auch eine Joggingrunde, wie sie viele Manager nach dem Aufstehen praktizieren, tue er sich nicht an: «Mir ist mein Schlaf einfach wichtiger.» Wie Jean-Claude Biver erwacht Locher am Morgen ohne Wecker: «Wenn der Körper von selber erwacht, ist das ein gutes Zeichen, dass er genug Energie für den Tag hat», findet der 47-Jährige.
Schlafexperte rät zum Wecker
Laut Schlafspezialist Brunner ist das selbständige Erwachen des Körpers jedoch kein Indikator, dass man auch ausgeschlafen und ausgeruht ist. «Wer keinen Wecker nutzt, stellt sich die Aufgabe des Erwachens und übernimmt sozusagen selber die Weckerfunktion.» Dies bringe eine unterbewusste Wachsamkeit mit sich, ähnlich dem «Schlaf auf Pikettdienst».
Da der Körper nach einem inneren Rhythmus im 24-Stunden-Takt funktioniere, sei ein Erwachen in den frühen Morgenstunden normal. Wer einen Wecker stelle, erlaube sich auch einen gelasseneren Schlaf, sagt Brunner, der im 20- bis 30-Minuten-Nickerchen am Tag eine effiziente Methode sieht, um den in der Nacht verpassten Schlaf aufzuholen.
Ruhelos vor grossen Herausforderungen
So hält es auch Marc Gläser. Der Geschäftsführer des Skiherstellers Stöckli greift allerdings zur Meditation statt zum Mittagsschlaf, um sein Schlafdefizit auszugleichen. Oft komme das jedoch nicht vor, denn der 47-Jährige achtet darauf, dass er vor Mitternacht ins Bett kommt und mindestens sechs bis sieben Stunden schläft. Sind es weniger, schraubt er sein Arbeitspensum auch mal zurück.
Phasen, in denen er wenig Schlaf bekommt, gebe es bei ihm immer mal wieder. «Wenn eine grosse Herausforderung ansteht, leide ich schon mal unter Schlafstörungen. Dann dreht es im Kopf, und ich komme nur schwer zur Ruhe», sagt er.
Digitalisierung als Wachmacher
Im Zentrum für Schlafmedizin hilft Brunner Menschen, die unter verschiedensten Schlaf-Wach-Störungen leiden. Die Auslöser von Schlaflosigkeit können vielschichtig sein: Familiäre Probleme und beruflicher Stress sind nur zwei davon. «Seit der Bankenkrise kommen immer mehr Banker zu uns, die unter Schlafschwierigkeiten leiden.» Das habe es bei dieser Berufsgruppe vorher kaum gegeben, so Brunner. «Wenn jemand aus einem Grund über längere Zeit schlecht schläft, beginnt sich die Person mit dem Schlaf zu beschäftigen. So kommen Mechanismen in Gang, die eine chronische Schlafstörung nach sich ziehen.»
Den Grund für Schlafdefizite und -störungen sieht Brunner auch in der Digitalisierung. Bevor Computer und Smartphone Beschäftigung und Unterhaltung rund um die Uhr ermöglichten, seien die Menschen früher zu Bett gegangen, hätten im Schnitt eine Stunde mehr als heute geschlafen. Die Auswirkungen, die langfristiger Schlafmangel auf die Gesundheit hat, vergleicht Brunner sogar mit den Folgen des Rauchens. «Es muss ein Umdenken stattfinden, aber solange die Leute stolz darauf sind, wenig Schlaf zu brauchen, wird das nicht passieren.»
Langschläfer im Trend
Laut dem Gottlieb Duttweiler Institute (GDI) ist jedoch ein neuer Trend auszumachen: Die Studie «Die Zukunft des Schlafens» sagt aus, dass Schlafen an Popularität gewinne, sogar zum «Lifestyle» werden könne. Denn wer viel schläft, gilt für ein Drittel der befragten Schweizer als entspannt. Jeder Vierte empfindet den langen Schlaf als gesund. Dieser Trend scheint auch in den Führungsetagen Fuss zu fassen.
Prominente Manager haben den Wert des Schlafs erkannt: Amazon-CEO Jeff Bezos schläft acht Stunden, ebenso Denise Morrison, CEO der Campbell Soup Company. Der ehemalige Google-Verwaltungsrat Eric Schmidt behauptet sogar, achteinhalb Stunden zu schlafen.
Mythos von der Stadt, die niemals schläft
Einige Grosskonzerne ziehen bereits nach und ermöglichen ihren Angestellten eine E-Mail-freie Zeit, sobald sie nach Feierabend das Büro verlassen: Seit 2011 sperrt Volkswagen den Mitarbeitern ausserhalb der Arbeitszeiten die Mailbox, und die E-Mails werden nicht mehr aufs Smartphone weitergeleitet. Der US-Krankenversicherer Aetna zahlt seinen Mitarbeitern eine Prämie von 500 Dollar im Jahr, wenn sie sich verpflichten, nachts mindestens sieben Stunden zu schlafen.
Den Beweis für ihr Schlafpensum erbringen die Mitarbeiter mittels Fitness-Trackern wie Jawbone oder Fitbit, andere messen ihren Schlaf via Smartphone-Apps – alles Anwendungen, die sich wachsender Beliebtheit erfreuen und Rückschlüsse auf das Schlafverhalten weltweit zulassen. So analysierte der Hersteller von Jawbone die Schlafdaten seiner Nutzer und kam zum Ergebnis, dass die New Yorker als Erste zu Bett gehen und die Madrilenen auch am Tag schlafen.
US-Firmen als Vorreiter
Dass ausgeruhte Manager und Mitarbeiter bessere Leistungen erbringen, merkten US-Unternehmen bereits 2011: Von 600 Unternehmen, die in einer Studie der Society for Human Resource Management befragt wurden, hatten 6 Prozent einen Schlafraum für ihre Mitarbeiter.
Eine Befragung durch die National Sleeping Foundation ergab, dass 34 Prozent der interviewten Mitarbeiter angaben, während der Arbeit eine Schlafpause einlegen zu dürfen, 16 Prozent sagten, dass ihr Arbeitgeber spezielle Schlafräume bereitstelle. Google bietet den Mitarbeitern im Silicon Valley sogar Schlafliegen, sogenannte «Energy Pods», die sie für 795 Dollar im Monat mieten oder für 12 985 Dollar kaufen können.
Risikopotenzial Schlafmanko
Eine Verfechterin des guten Schlafs ist Arianna Huffington. Die Gründerin des Newsportals «The Huffington Post» widmete diesem Thema sogar ein Buch. In «The Sleep Revolution» plädiert sie für mehr Schlaf, um effizienter zu arbeiten und ausgeglichener zu leben. Huffington schlief über Jahre viel zu wenig. Nach einem Zusammenbruch, bei dem sie sich einen Wangenknochen brach, entschied sie sich, ihr Schlafverhalten zu ändern.
Dass mehr Schlaf nicht nur gut für die Gesundheit, sondern auch fürs Unternehmen sein kann, zeigt Marisabel Spitz. Die Chefin des Ferienanbieters Hapimag versucht, wenn möglich viel zu schlafen. Um fit zu sein, braucht sie ihre sieben bis acht Stunden Schlaf. «Wenn ich weniger schlafe, dann leidet der Tag. Ab dem Nachmittag merke ich, dass der Kopf schwer wird, und gegen Abend bin ich unkonzentriert und müde», sagt die 51-Jährige.
Unter der Woche stehe sie meist um Viertel vor sechs auf, vor neun Uhr lege sie sich keine Termine, und auch den frühen Abend hält sie sich frei von Meetings, nutzt ihn für die Aufarbeitung des Tages. Bevor sie abends einschlafe, lese sie immer ein Buch, um abzuschalten und herunterzufahren. Sie träume viel, um den Tag zu verarbeiten: «Ich muss sagen, die besten Ideen und Lösungen kommen mir immer im Schlaf.»